Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwaltliches Werbeverbot. Standesrichtlinien keine Grundlage für Eingriff in Berufsausübungsfreiheit

 

Leitsatz (redaktionell)

Übt ein Rechtsanwalt oder Kammerrechtsbeistand zulässigerweise zugleich den Beruf des Architekten aus, so darf er im Geschäftsverkehr beide Berufsbezeichnungen nebeneinander führen. Eine standesrechtliche Maßnahme, die sich dagegen richtet, verstößt gegen Artikel 12 Absatz 1 GG.

 

Normenkette

GG Art. 12 Abs. 1 S. 2; BRAO §§ 43, 113-114, 177 Abs. 2 Nr. 2

 

Verfahrensgang

BGH (Urteil vom 23.03.1987; Aktenzeichen AnwSt(R) 26/86)

 

Tenor

Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 23. März 1987 – AnwSt (R) 26/86 – verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Es wird aufgehoben. Die Sache wird an den Bundesgerichtshof zurückverwiesen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

A.

Der beschwerdeführende Kammerrechtsbeistand wendet sich gegen eine ehrengerichtliche Warnung wegen standeswidriger Werbung.

I.

1. Die geschäftsmäßige Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten durch Rechtsbeistände bedarf der behördlichen Erlaubnis. Diese konnte ursprünglich ohne sachliche Einschränkung erteilt werden. Eine Vollerlaubnis ist seit Inkrafttreten des Fünften Gesetzes zur Änderung der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte vom 18. August 1980 (BGBl I S. 1503) nicht mehr möglich. Nach neuem Recht wird die Erlaubnis nur noch für bestimmte Sachgebiete erteilt, die in Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 2 RBerG im einzelnen bezeichnet sind. Bereits erteilte Vollerlaubnisse bleiben jedoch bestehen.

Rechtsbeiständen mit Vollerlaubnis wurde durch das Änderungsgesetz die Möglichkeit geboten, auf Antrag Mitglied der Rechtsanwaltskammer zu werden (§ 209 Satz 2 BRAO i.d.F. von Art. 2 Abs. 5 des Änderungsgesetzes). Mit der Aufnahme in die Rechtsanwaltskammer erlangt der Rechtsbeistand die vollen Mitgliedschaftsrechte und -pflichten. Ebenso gelten für ihn die Berufspflichten eines Rechtsanwalts sinngemäß (§ 209 Satz 2 BRAO n.F.). Verletzt er diese Pflichten, so unterliegt er der Ehrengerichtsbarkeit für Rechtsanwälte.

2. Die Rechte und Pflichten des Rechtsanwalts sind in der Bundesrechtsanwaltsordnung geregelt und in einer Generalklausel wie folgt umschrieben:

§ 43

Allgemeine Berufspflicht

Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen.

Nach § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO hat die Bundesrechtsanwaltskammer die allgemeine Auffassung über Fragen der Ausübung des Anwaltsberufs in Richtlinien festzustellen. Die entsprechenden Standesrichtlinien wurden lange Zeit als wesentliche Erkenntnisquelle dafür angesehen, was im Einzelfall nach der Auffassung angesehener und erfahrener Standesgenossen den anwaltlichen Standespflichten entspricht. Nach diesen Standesrichtlinien war dem Rechtsanwalt Werbung für seine anwaltliche Tätigkeit verboten. Die entsprechende Vorschrift lautet:

§ 2

Werbeverbot

(1) Der Rechtsanwalt handelt standeswidrig, wenn er um Praxis wirbt. Er darf eine ihm verbotene Werbung auch durch andere nicht dulden.

(2) Bei seinem Auftreten vor Gericht und im Umgang mit Presse, Rundfunk und Fernsehen hat er den Anschein zu vermeiden, er wolle sich oder die von ihm bearbeitete Sache sensationell herausstellen.

Dieses allgemeine Verbot berufswidriger Werbung konkretisiert unter anderem § 78 der Richtlinien:

§ 78

Akademische Grade, Amts- und Berufsbezeichnungen, Titel

(1) Der Rechtsanwalt darf bei Ausübung seines Berufs nur die in diesem Beruf erworbenen Titel führen, ferner den von einer deutschen Behörde verliehenen Professortitel, die Amtsbezeichnung als Notar und akademische Grade, die durch eine an einer deutschen Universität oder Hochschule abgelegte Prüfung erworben sind; sowie die Bezeichnung als Wirtschaftsprüfer und als Steuerberater, ferner die Bezeichnung „Doktor ehrenhalber” (Dr. h.c.).

(2) Die gleichzeitige Bezeichnung als „Steuerberater” und als „Fachanwalt für Steuerrecht” ist nicht zulässig.

(3) Ausländische akademische Grade und der im Ausland verliehene Professortitel dürfen auch bei Ausübung des Rechtsanwaltsberufs geführt werden, wenn die nach den deutschen gesetzlichen Bestimmungen erforderliche Genehmigung erteilt ist.

(4) Solange Rechtsanwälte von der Residenzpflicht befreit sind und im Ausland wohnen, dürfen sie in ihren Drucksachen neben ihrer inländischen Anschrift auch ihre ausländische Anschrift sowie der anwaltlichen Berufsbezeichnung gleichwertige, im Ausland zu Recht geführte Berufsbezeichnungen führen.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit Beschluß vom 14. Juli 1987 (BVerfGE 76, 171) entschieden, daß die Standesrichtlinien weder als normative Regelung der anwaltlichen Berufspflichten noch als rechtserhebliches Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklausel in Betracht kommen. Als Grundlage für eine Einschränkung der anwaltlichen Berufsausübung hat die Generalklausel des § 43 BRAO zu dienen, die durch die Rechtsprechung ausgelegt und konkretisiert werden muß. Dabei können die Gerichte auf die Standesrichtlinien nur noch während einer Übergangszeit und insoweit zurückgreifen, als dies zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege unerläßlich ist.

3. Eine schuldhafte Berufspflichtverletzung des Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands kann entweder mit einer Rüge durch den Vorstand der zuständigen Rechtsanwaltskammer (§ 74 BRAO) oder mit einer ehrengerichtlichen Maßnahme nach den §§ 113, 114 BRAO geahndet werden. Das auf Antrag der Staatsanwaltschaft eingeleitete ehrengerichtliche Verfahren kann mit Warnung, Verweis, Geldbuße, befristetem Vertretungsverbot oder Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft enden (§ 114 BRAO). Die Warnung ist die leichteste Maßnahme, die auch nicht mit einer anderen verbunden werden kann. Sie wird verhängt, wenn eine erstmalige, leichte Verfehlung zu ahnden ist, und hat keine weiteren Folgen. Ändert der Rechtsanwalt oder Kammerrechtsbeistand sein Verhalten jedoch nicht, sind in einem späteren ehrengerichtlichen Verfahren schärfere Maßnahmen zu erwarten.

II.

1. Der Beschwerdeführer war zunächst Maurer und im Tief- und Tunnelbau beschäftigt. Daneben bildete er sich in Abendkursen und durch den Besuch der Berufsaufbauschule fort. Seit 1964 war er jeweils für mehrere Jahre im Wechsel als freischaffender Architekt und als Angestellter bei verschiedenen Bauunternehmen tätig. In der Niedersächsischen Architektenliste ist er seit dem 22. Januar 1971 vermerkt. Durch Beschluß vom 29. Januar 1974 wurde er in die bei der Hamburgischen Architektenkammer geführte Architektenliste aufgenommen; er erhielt die Befugnis, die Berufsbezeichnung „freischaffender Architekt” zu führen. Auch die Hessische Architektenkammer führt ihn in ihrer Liste als bauvorlageberechtigten auswärtigen Architekten.

Aufgrund eines Antrages aus dem Jahre 1976 erhielt der Beschwerdeführer am 29. März 1983 die Zulassung als Rechtsbeistand mit Vollerlaubnis. Er wurde in die Hanseatische Rechtsanwaltskammer aufgenommen.

Der Beschwerdeführer übt die Berufe des Rechtsbeistands und des Architekten nebeneinander aus. Als Architekt hat er sich darauf spezialisiert, diejenigen Teilleistungen zu erbringen, die die Wirtschaftlichkeit einer Baumaßnahme betreffen (Qualitäts- und Quantitätssicherung, Kosten- und Terminplanung und -überwachung). Daneben erbringt er Leistungen der Projektsteuerung, wozu neben der erlaubnispflichtigen Rechtsberatung auch die Beratung in steuerlicher, finanzierungstechnischer, versicherungstechnischer und bautechnischer Hinsicht gehört. Das Auftragsvolumen des Beschwerdeführers besteht zu etwa 80 vom Hundert aus Aufgaben, bei denen gleichzeitig technische und rechtsberatende Leistungen zu erbringen sind. Im übrigen ist er als Architekt und Ingenieur tätig. Er nimmt Lehraufträge wahr, hält Vorträge und erstellt Gutachten.

Von 1983 bis 1985 benutzte der Beschwerdeführer im geschäftlichen Verkehr Briefbögen, auf denen unter seinem Namen die Berufsbezeichnungen „Architekt u. Rechtsbeistand” vermerkt waren. Daneben befand sich ein Bildzeichen, das in einem doppelten Oval eine Waage und ein darin verflochtenes „W” zeigte. In dem durch beide Ovale gebildeten Rand standen die Worte „Technik, Termine, Kosten, Recht”. Seit August 1985 verwendet der Beschwerdeführer nur noch Briefbögen ohne Emblem, aber nach wie vor mit der doppelten Berufsbezeichnung.

2.a) Das Ehrengericht verhängte am 31. Oktober 1984 gegen den Beschwerdeführer eine Warnung wegen Standesvergehens gegen § 43 BRAO in Verbindung mit den §§ 1 und 72 der Grundsätze des Anwaltlichen Standesrechts. Durch die Führung des Bildzeichens habe er gegen das Werbeverbot verstoßen. Hingegen sei der weitergehende Vorwurf unbegründet; die gleichzeitige Verwendung der Berufsbezeichnung „Architekt und Rechtsbeistand” könne nicht als Standesverstoß angesehen werden.

b) Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft erweiterte der Ehrengerichtshof den Schuldspruch. Der Beschwerdeführer habe seine Standespflichten nicht nur durch Verwendung eines Bildzeichens, sondern darüber hinaus auch durch den Hinweis auf seinen Architektenberuf verletzt. Das ergebe sich aus § 78 der Standesrichtlinien, der eine Werbung in dieser Form nicht zulasse. Im Ergebnis beließ es der Ehrengerichtshof bei der Maßnahme der Warnung.

c) Der Bundesgerichtshof ließ die Revision zu, verwarf sie jedoch mit dem angegriffenen Urteil.

Rechtlich sei es nicht zu beanstanden, daß der Ehrengerichtshof den Schuldspruch erweitert und den Hinweis das Beschwerdeführers auf seinen Architektenberuf als standeswidrig bewertet habe. Das allgemeine Verbot berufswidriger Werbung werde durch § 78 der Standesrichtlinien für den Bereich der Führung von Titeln, Graden und Berufsbezeichnungen konkretisiert. Danach dürfe der Rechtsanwalt oder Kammerrechtsbeistand bei der Ausübung seines Berufes nur die in diesem Beruf erworbenen und bestimmte weitere akademische Titel und Berufsbezeichnungen führen. Der Wortlaut der Richtlinien gestatte nicht, sich im beruflichen Verkehr gleichzeitig als Architekt zu bezeichnen. Diese Einschränkung entspreche der Standesauffassung, die als Hilfsmittel für die Auslegung und Konkretisierung des § 43 BRAO heranzuziehen sei. Auch die Diskussion um die Einführung von Fachanwaltsbezeichnungen habe an der übereinstimmenden Auffassung der Anwaltschaft insoweit nichts geändert.

Die herrschende Standesauffassung sei auch aus Rechtsgründen nicht zu mißbilligen. Die Angabe eines zweiten, von der Rechtsberatung unabhängigen Berufs erwecke den Eindruck eines besonderen, auf bestimmte Bedürfnisse zugeschnittenen und umfassenden Dienstleistungsangebots. Der Rechtsanwalt, der sich zugleich als Architekt bezeichne, biete vollständige technische und rechtliche Baubetreuung von der Planung über die Abwicklung des Vorhabens bis zur Erledigung aller damit zusammenhängenden rechtlichen Streitfragen an. Die Hervorkehrung eines solchen Spezialangebots widerstreite dem Berufsbild des Rechtsanwalts, der nach § 3 Abs. 1 BRAO der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten sei. Für Kammerrechtsbeistände müsse gleiches gelten.

Dem lasse sich nicht entgegenhalten, daß der Beschwerdeführer unbeanstandet einen akademischen Titel führen dürfte, selbst wenn dieser eine zusätzliche Qualifikation erkennen ließe. Die Führung eines akademischen Titels deute nämlich nicht auf die Ausübung eines zweiten Berufs hin und vermittele dem Publikum daher nicht ohne weiteres den Eindruck, daß für ein besonderes Dienstleistungsangebot geworben werde.

Eine solche Auslegung des § 43 BRAO verstoße nicht gegen Art. 12 Abs. 1 GG. Es handele sich um eine zulässige Beschränkung der freien Berufsausübung. Zwar sei die Angabe rechtsförmlich erworbener Qualifikationen das herkömmliche Mittel der Ankündigung nichtgewerblicher Leistungen und dürfe daher nicht als unzulässige Werbung unterbunden werden; auch werde die Befugnis zur Führung der Berufsbezeichnung „Architekt” rechtsförmlich erworben. Hier enthalte jedoch die Angabe des Zweitberufs nicht die Mitteilung einer fachlichen Qualifikation, sondern die Anpreisung einer andersartigen Leistung, die mit der Aufgabe einer umfassenden Rechtsberatung unvereinbar sei. Ein Verbot sei durch die dem Gemeinwohl verpflichtete Erwägung gerechtfertigt, daß die Einheitlichkeit des Berufsstandes der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege am besten diene. Dadurch werde der Beschwerdeführer nicht übermäßig belastet.

III.

1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs. Zur Freiheit der Berufsausübung gehöre das Recht, förmlich erworbene Berufsbezeichnungen zu führen. Eine gesetzliche Regelung, die dieses Recht einschränke, sei nicht vorhanden. Gründe des Gemeinwohls ließen sich im übrigen für ein solches Verbot nicht anführen. Darüber hinaus verstoße es gegen Art. 3 Abs. 1 GG, daß der Bundesgerichtshof zwischen akademischen Graden und rechtsförmlich erworbenen Berufsbezeichnungen unterscheiden wolle, obwohl hier im Rechtsverkehr vielfach kein Unterschied erkennbar sei.

2. Zu der Verfassungsbeschwerde haben für die Freie und Hansestadt Hamburg der Justizsenator, ferner der Präsident des Bundesgerichtshofs, die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein Stellung genommen.

a) Nach Ansicht des Justizsenators ist die angegriffene Entscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

b) Der Präsident des Bundesgerichtshofs verweist als Vorsitzender des Anwaltssenats auf die Begründung der angegriffenen Entscheidung und übermittelt darüber hinaus die Stellungnahmen, die die Vorsitzenden der Senate für Patentanwaltssachen, Wirtschaftsprüfersachen, Steuerberater- und Steuerbevollmächtigtensachen sowie Notarsachen abgegeben haben. Danach entspricht es der Rechtsprechung das Bundesgerichtshofs, daß Patentanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater amtlich erworbene Berufsbezeichnungen führen dürfen, soweit sie den entsprechenden Beruf zulässigerweise ausüben. Hingegen hält der Senat für Notarsachen daran fest, daß Titel und Berufs- oder Amtsbezeichnungen aus einer anderen beruflichen Tätigkeit selbst dann nicht geführt werden dürfen, wenn ein enger Zusammenhang mit der Amtsausübung des Notars besteht.

c) Die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein halten die Verfassungsbeschwerde für begründet. Zweifelhaft sei schon der Rückgriff auf § 78 der Standesrichtlinien. Bei Berufsbezeichnungen und Titeln sei ein erheblicher Wandel der Standesauffassung und eine allgemeine Lockerung festzustellen. Die Zusatzbezeichnung habe zwar einen Werbeeffekt, könne aber nicht beanstandet werden, soweit sie eine zutreffende Information enthalte. Der Deutsche Anwaltverein äußert darüber hinaus auf Art 3 Abs. 1 GG gestützte Bedenken gegen die Unterscheidung zwischen akademischen Titeln und nichtakademischen Berufsbezeichnungen.

 

Entscheidungsgründe

B.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet.

I.

Die ehrengerichtliche Maßnahme einer Warnung wegen standeswidriger Werbung, die der Bundesgerichtshof in der angegriffenen Entscheidung gebilligt hat, greift in die freie Berufsausübung des Beschwerdeführers ein. Für diesen Eingriff fehlt bereits die nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG erforderliche gesetzliche Grundlage.

1. Sowohl der Ehrengerichtshof als auch der Bundesgerichtshof stützen die Verhängung der Maßnahme ausdrücklich auf § 43 BRAO in Verbindung mit § 78 d. Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts. Sie verstehen die Standesrichtlinien als wesentliche Erkenntnisquelle dafür, wie die Generalklausel des § 43 BRAO im Einzelfall zu konkretisieren ist. Eine solche rechtserhebliche Funktion kommt den Standesrichtlinien jedoch nicht zu (BVerfGE 76, 171).

2. Eine begrenzte Bedeutung kann den Richtlinien – vorbehaltlich ihrer materiellen Verfassungsmäßigkeit – nur noch für eine Übergangszeit bis zur Neuordnung des anwaltlichen Berufsrechts eingeräumt werden, soweit ihre Heranziehung unerläßlich ist, um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege aufrechtzuerhalten (BVerfGE 76, 171 ≪188 ff.≫). Insoweit kann auch das in den Richtlinien niedergelegte und aus § 43 BRAO herleitbare Verbot der gezielten Werbung um Praxis und der irreführenden Werbung herangezogen werden. Dies wurde als Kern des Werbeverbots seit jeher unangefochten zu den Pflichten der freien Berufe gerechnet und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch für Rechtsanwälte wiederholt als verbindlich vorausgesetzt (BVerfGE 76, 196 ≪205 f.≫ m.w.N.). Ein solches vorläufig weitergeltendes Werbeverbot erfaßt jedoch das dem Beschwerdeführer vorgeworfene Verhalten nicht.

Von einer gezielten Werbung um Praxis kann keine Rede sein, soweit der Beschwerdeführer lediglich im Geschäftsverkehr in der allgemein üblichen Weise kenntlich macht, daß er die Berufe des Rechtsbeistands und des Architekten nebeneinander ausübt. Von dieser zutreffenden Information wird allerdings bei Interessierten ein Werbeeffekt ausgehen. Rechtsuchende, die bei der Lösung baurechtlicher Probleme Hilfe benötigen, werden bei einem Rechtsberater mit bautechnischen Kenntnissen spezielle Sachkunde erwarten. Ebenso wird ein Bauwilliger, der bei der Durchsetzung seines Bauvorhabens rechtliche Probleme befürchtet, möglicherweise einen Architekten mit Rechtskenntnissen bevorzugen. Dieser Werbeeffekt ist aber nur Folge des Hinweises auf eine zulässige doppelte Berufsausübung und die damit verbundene Doppelqualifikation.

Die Werbung ist auch nicht irreführend. Der Bundesgerichtshof meint allerdings, daß der Beschwerdeführer, wenn er beide Berufsbezeichnungen führe, die „vollständige technische und rechtliche Baubetreuung von der Planung über die Abwicklung des Vorhabens bis zur Erledigung aller damit zusammenhängenden rechtlichen Streitigkeiten” anbiete. Ein solches Angebot wäre in der Tat irreführend. Ein Rechtsbeistand kann Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit Bauvorhaben nur vor dem Verwaltungsgericht und dem Amtsgericht führen. Jedoch können weitergehende Erwartungen durch die doppelte Berufsbezeichnung bei Rechtsuchenden und Bauwilligen nicht geweckt werden. Die begrenzten Befugnisse eines Rechtsbeistands dürfen im Rechtsverkehr als bekannt vorausgesetzt werden.

II.

Eingriffe in die freie Berufsausübung erfordern nicht nur eine gesetzliche Grundlage, sondern sind nur dann mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, wenn sie durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt werden und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen (BVerfGE 61, 291 ≪312≫ m.w.N.; 76, 196 ≪207≫). Auch diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Deshalb kann aus der Generalklausel des § 43 BRAO auch unabhängig von den Richtlinien des Anwaltlichen Standesrechts kein so weitreichendes Werbeverbot abgeleitet werden, wie es in der angegriffenen Entscheidung geschieht.

1. Es fehlt schon an vernünftigen und sachgerechten Gründen für das Verbot, beide Berufe nebeneinander im Rechtsverkehr zu erwähnen.

Der Bundesgerichtshof beruft sich in diesem Zusammenhang auf die dem Gemeinwohl verpflichtete Erwägung, daß die Einheitlichkeit des Berufsstandes der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege am besten diene. Daran ist richtig, daß eine Verfälschung des Berufsbildes negative Folgen haben kann und deren Vermeidung deshalb als Regelungsziel anzuerkennen ist (BVerfGE 33, 125 ≪170≫; 60, 215 ≪232≫). Das kann aber nicht bedeuten, daß zulässigerweise ausgeübte Tätigkeiten verschwiegen werden müßten. Die Angabe rechtsförmlich erworbener fachlicher Qualifikationen ist ein herkömmliches Mittel der Ankündigung freiberuflicher Leistungen (vgl. BVerfGE 33, 125 ≪170≫; 57, 121 ≪133≫). Sie kann also keinen irreführenden Eindruck hervorrufen. Im Gegenteil dient sie der sachgerechten Information der Rechtsuchenden. Soweit andere Rechtsanwälte oder Rechtsbeistände daran interessiert sind, daß Doppelqualifikationen keinen Konkurrenzvorteil vermitteln, ist dieses Interesse nicht schutzwürdig.

2. Selbst wenn sich für einen solchen Konkurrenzschutz noch Gemeinwohlinteressen anführen ließen, müßte die postulierte Standespflicht am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit scheitern. Die gebotene Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe könnte nur zu dem Ergebnis führen, daß die Grenzen der Zumutbarkeit überschritten sind, wenn das Verhalten des Beschwerdeführers als pflichtwidrig mißbilligt wird.

Die angegriffene Entscheidung enthält allerdings die Aussage, daß der Beschwerdeführer nicht übermäßig belastet werde. Eine nähere Begründung und nachvollziehbare Abwägung fehlt jedoch. Diese hätte berücksichtigen müssen, daß freiberuflich Tätige ganz allgemein darauf angewiesen sind, potentielle Mandanten über ihr Dienstleistungsangebot zu informieren. Im Falle des Beschwerdeführers sind die rechtlichen und bautechnischen Tätigkeiten eng miteinander verbunden. Müßte eine von beiden verschwiegen werden, würde dem Beschwerdeführer angesonnen, die Eigenart seines Dienstleistungsangebots zu verfälschen.

Darüber hinaus ergäbe sich eine zusätzliche Konkurrenzverzerrung dadurch, daß der Bundesgerichtshof zwischen akademischen Graden und sonstigen förmlich erworbenen Berufsbezeichnungen unterscheiden will. Die Bundesrechtsanwaltskammer hat in ihrer Stellungnahme mit Recht darauf hingewiesen, daß diese Unterscheidung insbesondere durch die Anerkennung von Fachhochschul-Diplomen zu unverständlichen Ergebnissen führt. So wäre ein Diplom-Architekt bessergestellt als d. Beschwerdeführer, obwohl er sich in der gleichen Konkurrenzsituation befinden kann und sein akademischer Grad für interessierte Mandanten von einer reinen Berufsbezeichnung kaum zu unterscheiden ist.

 

Fundstellen

BVerfGE, 18

NJW 1990, 2122

ZIP 1990, 1619

DVBl. 1990, 884

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