Entscheidungsstichwort (Thema)

Höhe des Kurzarbeitergeldes. betriebsübliche Arbeitszeit. nicht tarifgebundener Betrieb. Koalitionsfreiheit. Eigentumsschutz. Gleichheitssatz

 

Leitsatz (amtlich)

Die Regelung des § 69 AFG, nach der auch bei nicht tarifgebundenen Betrieben das Kurzarbeitergeld höchstens nach der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit zu berechnen ist, widerspricht nicht dem Grundgesetz (Fortführung und Anschluß an BSG vom 29.8.1974 - 7 RAr 35/72 = BSGE 38, 98 = SozR 4100 § 69 Nr 1).

 

Normenkette

AFG § 68 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 69; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3, Art. 14 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 29.02.1996; Aktenzeichen L 9 Ar 201/94)

SG Dortmund (Entscheidung vom 11.08.1994; Aktenzeichen S 27 Ar 202/93)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt höheres Kurzarbeitergeld (Kug) für die Zeit vom 1. Mai bis 14. Juni 1993.

Im Dezember 1992 zeigte die Klägerin, die eine Metallgießerei betreibt, Kurzarbeit für die Betriebsabteilung Sandgießerei für die Zeit ab 15. Dezember 1992 an. Das Arbeitsamt (ArbA) erkannte die Voraussetzungen für Kug dem Grunde nach ab 15. Dezember 1992 bis 14. Juni 1993 an.

Im Juli 1993 beantragte die Klägerin die Auszahlung von Kug für den Zeitraum vom 1. Mai bis 14. Juni 1993. Der Leistungsberechnung legte sie - wie bei vorherigen Anträgen - eine Wochenarbeitszeit von 37 Stunden zugrunde. Das ArbA bewilligte mit Bescheid vom 6. Oktober 1993 Kug einschließlich des Beitragszuschusses zur Rentenversicherung für den beantragten Zeitraum, aber nicht in der beantragten Höhe. Es legte der Leistungsberechnung eine regelmäßige betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit von 36 Stunden zugrunde, wie sie im Manteltarifvertrag für die Eisen-, Metall-, Elektro- und Zentralheizungsindustrie Nordrhein-Westfalens (MTV) vorgesehen war. Damit ergab sich gegenüber dem Antrag der Klägerin ein Minderbetrag von 813,86 DM.

Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, sie sei nicht tarifgebunden. Die wöchentliche Arbeitszeit sei durch Betriebsvereinbarung auf 37 Stunden festgelegt worden, was auch nach dem MTV zulässig sei. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. November 1993). Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 11. August 1994). Die - vom SG zugelassene - Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 29. Februar 1996).

Das LSG hat zur Begründung im wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe kein Anspruch auf höheres Kug zu. Bei der Berechnung sei eine wöchentliche Arbeitszeit von 36 Stunden zugrunde zu legen. Für die nicht tarifgebundene Klägerin sei gemäß § 69 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gleicher oder ähnlicher Betriebe maßgebend. Diese betrage nach dem MTV ab 1. April 1993 wöchentlich 36 Stunden. Die im Betrieb der Klägerin durch Betriebsvereinbarung festgelegte wöchentliche Arbeitszeit von 37 Stunden für alle Arbeitnehmer entspreche nicht der Öffnungsklausel des § 3 Nr 3 Abs 5 MTV. Denn hiernach könne nur für höchstens 18 % aller Beschäftigten des Betriebs die individuelle regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit verlängert werden. Diese Quote werde bei der Klägerin erheblich überschritten, da alle Arbeitnehmer 37 Stunden wöchentlich arbeiteten. Die Klägerin werde damit auch nicht unzulässigerweise tariflichen Einzelvorschriften unterworfen, obwohl sie nicht tarifgebunden sei. Denn die gesetzliche Regelung wolle eine auf dem Arbeitsmarkt übliche Arbeitszeithöchstgrenze für die Bemessung des Kug festlegen. § 69 AFG begegne insoweit auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wie dies das Bundessozialgericht (BSG) bereits mit Urteil vom 29. August 1974 (BSGE 38, 98 = SozR 4100 § 69 Nr 1) entschieden habe.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG). § 69 AFG führe dazu, daß die Arbeitnehmer nicht tarifgebundener Betriebe die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nach den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden - hier 37 Wochenstunden - entrichteten und damit höhere Zahlungen als die Arbeitnehmer tarifgebundener Betriebe leisteten, während bei der Berechnung des Kug nur von der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit - hier 36 Wochenstunden - ausgegangen und eine vergleichsweise geringere Leistung erbracht werde. Diese Äquivalenzabweichung sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), insbesondere der Entscheidung vom 11. Januar 1995 (BVerfGE 92, 53 = SozR 3-2200 § 385 Nr 6) verfassungswidrig, weil hierfür kein hinreichend sachlicher Grund ersichtlich sei. Selbst wenn § 69 AFG keinen Verfassungsverstoß enthalte, habe das LSG zumindest in verfassungskonformer Auslegung der Vorschrift die im Tarifvertrag vorgesehene Öffnungsklausel restriktiv interpretieren müssen.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. Februar 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 11. August 1994 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 6. Oktober 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. November 1993 zu verurteilen, der Berechnung des Kurzarbeitergeldes und der Beiträge zur Rentenversicherung für die Zeit vom 1. Mai bis 14. Juni 1993 eine wöchentliche Arbeitszeit von 37 Stunden zugrunde zu legen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.

1. Gegenstand der Klage ist die Höhe der Ansprüche auf Kug für den Gewährungszeitraum 1. Mai bis 14. Juni 1993 der Arbeitnehmer der Klägerin. Diese Ansprüche macht die Klägerin als Prozeßstandschafterin der betroffenen Arbeitnehmer geltend (vgl BSGE 38, 94, 95 f = SozR 1500 § 75 Nr 4; SozR 3-4100 § 65 Nr 2). Gegenstand der Klage sind ferner die - von der Höhe des Kug insgesamt abhängigen - Ansprüche der Klägerin auf die Zuschüsse zu den Aufwendungen des Arbeitgebers für die gesetzliche Rentenversicherung (§ 166 Abs 3 Satz 2 AFG in der bis zum 31. Dezember 1993 geltenden Fassung).

2. Die Höhe der Ansprüche auf Kug richtet sich nach § 68 AFG (hier in der bis zum 31. Dezember 1993 gültigen Fassung). Danach bemißt sich das Kug nach dem Arbeitsentgelt, das der Arbeitnehmer ohne den Arbeitsausfall in der Arbeitsstunde erzielt hätte (§ 68 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und Abs 2 und 3 AFG; Lohnfaktor), und nach der Zahl der berücksichtigungsfähigen Ausfallstunden (Zeitfaktor).

Der Zeitfaktor besteht grundsätzlich in der Anzahl der Arbeitsstunden, die der Arbeitnehmer am Ausfalltag innerhalb der Arbeitszeit (§ 69 AFG) geleistet hätte, wobei Stunden nicht zu berücksichtigen sind, für die ein Anspruch auf Arbeitsentgelt besteht oder für die Arbeitsentgelt gezahlt wird (§ 68 Abs 1 Satz 2 Nr 2 AFG). Unter dem Begriff Arbeitszeit versteht § 69 AFG die regelmäßige betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit, soweit sie die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit oder, wenn eine solche nicht besteht, die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gleicher oder ähnlicher Betriebe nicht überschreitet.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war im Betrieb der Klägerin eine Wochenarbeitszeit von 37 Stunden üblich, da sie von allen Arbeitnehmern, also auch den von Kurzarbeit individuell betroffenen Arbeitnehmern zu leisten war. Diese tatsächliche Arbeitszeit kann jedoch nach § 69 AFG nur bis zur Höhe der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit berücksichtigt werden. Für die nicht tarifgebundene Klägerin ist gemäß § 69 2. Alternative AFG die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gleicher oder ähnlicher Betriebe maßgebend. Für gleiche und ähnliche Betriebe betrug die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit nach dem MTV in der ab 6. Mai /19. Juni 1990 geltenden Fassung ab 1. April 1993 36 Stunden.

Wie vom LSG ausgeführt, entsprach die im Betrieb der Klägerin durch Betriebsvereinbarung festgelegte wöchentliche Arbeitszeit von 37 Stunden auch nicht einer tariflichen Öffnungsklausel. Denn der MTV sehe eine Verlängerungsmöglichkeit nur bei Einhaltung einer bestimmten Quote (18 % aller Beschäftigten eines Betriebs) vor (§ 3 Nr 3 Abs 5 MTV).

Diese Auslegung der tariflichen Öffnungsklausel durch das LSG ist für den Senat bindend; denn die Entscheidung des Berufungsgerichts über das Bestehen und den Inhalt von Vorschriften, auf deren Verletzung die Revision nicht gestützt werden kann, ist für die auf die Revision ergehende Entscheidung maßgebend (§ 562 Zivilprozeßordnung, § 202 SGG). § 3 Nr 3 Abs 5 MTV enthält kein nach § 162 SGG revisibles Recht. Der Tarifvertrag hat nicht Bundesrecht zum Inhalt, sein Geltungsbereich erstreckt sich auch nicht über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus. Der MTV gilt nur für das Land Nordrhein-Westfalen (§ 1 MTV). Etwas anderes könnte nur gelten, wenn bewußt und gewollt inhaltlich gleiche Vorschriften außerhalb Nordrhein-Westfalens vereinbart wären (vgl BSGE 50, 121, 123 f = SozR 4100 § 117 Nr 3; BSGE 55, 115, 116 = SozR 1500 § 162 Nr 17; SozR 4100 § 117 Nr 14). Ob das der Fall ist, hat der Senat mangels entsprechenden Vorbringens der Beteiligten nicht zu prüfen (BSGE 56, 45 = SozR 2200 § 70 Nr 1; SozR 4100 § 117 Nr 14).

Ist für die Entscheidung des Senats somit maßgebend, daß die in der Betriebsvereinbarung vorgesehene Wochenarbeitszeit nicht als tarifliche Arbeitszeit zu qualifizieren ist, ist für die Bemessung des Kug (§ 69 2. Halbsatz AFG) nicht die im Betrieb der Klägerin geltende wöchentliche Arbeitszeit von 37 Stunden, sondern die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit von 36 Stunden zugrunde zu legen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind daher - wie bereits die Vorinstanzen zu Recht entschieden haben - sachlich zutreffend.

3.a) Soweit die Klägerin einwendet, in verfassungskonformer Auslegung des § 69 AFG müsse die tarifliche Öffnungsklausel restriktiv gehandhabt werden, kann dem nicht gefolgt werden. Denn nach § 69 AFG kann nur eine Wochenarbeitszeit, die der tariflichen Regelung entspricht, für die Bemessung des Kug herangezogen werden. Läßt ein Tarifvertrag - wie hier - nur unter bestimmten Voraussetzungen eine Verlängerung der regelmäßigen Wochenarbeitszeit zu, dann müssen diese Voraussetzungen erfüllt sein, um diese Arbeitszeit als tarifliche Arbeitszeit qualifizieren zu können. Bei der in § 3 Nr 3 Abs 5 MTV genannten Höchstgrenze für eine Verlängerungsmöglichkeit handelt es sich im übrigen auch um eine klar faßbare Voraussetzung. Es kann deshalb offenbleiben, ob die typisierende Wirkung des Tarifvertrags dann abzuschwächen ist, wenn er eine inhaltlich nicht bestimmte Öffnungsklausel oder zahlreiche Abweichungsmöglichkeiten enthält (vgl Bieback in Gagel, Komm zum AFG, § 69 Rzn 7 und 25; Wissing in Knigge/Ketelsen/Marschall/Wissing, Komm zum AFG, 3. Aufl, § 69 Rz 6).

b) Entgegen der Rechtsansicht der Klägerin ist es mit dem GG vereinbar, daß nach § 69 AFG die tatsächliche Arbeitszeit nur bis zur Höhe der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit berücksichtigt wird.

aa) Wie das BSG bereits in der Entscheidung vom 29. August 1974 (BSGE 38, 98, 100 f = SozR 4100 § 69 Nr 1) ausgeführt hat und wogegen sich auch die Klägerin in ihrer Revision nicht wendet, verstößt § 69 AFG nicht gegen Art 9 Abs 3 GG. Aufgrund der besonderen Struktur des Kug, das materiell-rechtlich den Arbeitnehmern zusteht (§ 63 Abs 1 Satz 1 AFG), deren Ansprüche jedoch die Klägerin im eigenen Namen geltend macht, ist bereits fraglich, wessen Schutzbereich durch die Begrenzungsnorm des § 69 AFG betroffen ist. Das BSG hat in der genannten Entscheidung den "auf die Klägerin ausgeübten Druck" als unbedenklich bezeichnet, ohne zwischen dem Betrieb und den von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmern zu differenzieren. Doch auch dann, wenn in die verfassungsrechtliche Beurteilung der Schutz der Arbeitnehmer als Anspruchsinhaber einbezogen wird, begegnet es keinen Bedenken, wenn durch § 69 AFG tarifliche Regelungen für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer maßgebend werden. Durch die Grenznorm des § 69 AFG wird die negative Koalitionsfreiheit nicht verletzt (so auch Schwerdtfeger, SGb 1975, 253 sowie ders, SGb 1975, 349; Bieback in Gagel, Komm zum AFG, § 69 Rzn 5 und 26; Wissing in Knigge/Ketelsen/Marschall/Wissing, Komm zum AFG, § 69 Rz 6; Henke in Hennig/Kühl/Heuer/Henke, Komm zum AFG, § 69 Rz 41). Aus Art 9 Abs 3 GG folgt keine Pflicht des Gesetzgebers, Arbeitnehmern oder Arbeitgebern Vorteile aus der Nichtzugehörigkeit zu einem tariffähigen Verband in sämtlichen Regelungsbereichen zu erhalten. Insbesondere hindert dieses Grundrecht - wie bereits das BSG 1974 ausgeführt hat - den Gesetzgeber nicht, autonomes Recht - etwa durch die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen - auf Dritte zu erstrecken (vgl BSGE 38, 98, 101 = SozR 4100 § 69 Nr 1; BVerfGE 44, 322, 338). Durch die Bestimmung der Arbeitszeit iS des § 69 AFG wird die Kug-Berechnung an einem standardisierten Sicherungsniveau orientiert und eine Bemessung der Sozialleistung nach ungewöhnlich hohen Spitzenarbeitszeiten vermieden (vgl BSGE 38, 98, 102 = SozR 4100 § 69 Nr 1; SozR 3-4100 § 69 Nr 1): Der Gesetzgeber könnte auch selbst die Höchstgrenze des Zeitfaktors für die Bemessung des Kug festlegen. Wenn er die jeweils geltende tarifliche Norm als Bemessungsgrenze übernimmt, sichert er der Grenzregelung größere Sachnähe und Beweglichkeit als eine eigenständige starre gesetzliche Höchstgrenze. Das Arbeitszeitgesetz - auf das die Klägerin in ihrer Revision Bezug genommen hat - eignet sich hier demgegenüber von vornherein nicht als Maßstab. Denn es verfolgt mit der Festlegung der höchstzulässigen Arbeitszeiten (§ 3) einen völlig anderen Zweck, nämlich ua die Sicherheit und den Gesundheitsschutz des Arbeitnehmers bei der Arbeitszeitgestaltung (§ 1).

bb) § 69 AFG verletzt auch nicht die Eigentumsgarantie des Art 14 Abs 1 GG. Wie bereits das LSG zutreffend ausgeführt hat, hat das BVerfG bisher nicht entschieden, ob der Anspruch auf Kug eine eigentumsrechtlich geschützte Rechtsposition sein kann (vgl BVerfGE 92, 365, 405 f = SozR 3-4100 § 116 Nr 3; offengelassen auch in BSGE 75, 97, 141 = SozR 3-4100 § 116 Nr 2). Doch selbst wenn man einen Eigentumsschutz bejahen würde, schafft § 69 AFG - wie in der Entscheidung des BSG vom 29. August 1974 bereits dargestellt - eine notwendige und zulässige Inhaltsbestimmung (Art 14 Abs 1 Satz 2 GG). Die von der Klägerin beanstandete Begrenzung der Leistungsansprüche der betroffenen Arbeitnehmer und der Ansprüche auf Zuschüsse zu der gesetzlichen Rentenversicherung ist durch das vom Gesetzgeber angestrebte Ziel einer sachgerechten Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses gerechtfertigt; der Eingriff ist auch nicht unverhältnismäßig (vgl BSGE 38, 98, 103 = SozR 4100 § 69 Nr 1 sowie BVerfGE 92, 365, 407 = SozR 3-4100 § 116 Nr 3).

cc) Entgegen der Auffassung der Revision wird durch die Regelung in § 69 AFG auch nicht der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers durch eine Gleichbehandlung ungleicher Verhältnisse überschritten und Art 3 Abs 1 GG verletzt.

Art 3 Abs 1 GG enthält die allgemeine Weisung an den Gesetzgeber, "Gleiches gleich, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschieden" zu behandeln (vgl BVerfGE 3, 58, 135; 18, 38, 46; 86, 81, 87; 90, 226, 239 = SozR 3-4100 § 111 Nr 6; st Rspr). Dabei liegt es grundsätzlich in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, diejenigen Sachverhalte auszuwählen, die er im Rechtssinn als gleich ansehen will. Allerdings muß er die Auswahl sachgerecht treffen. Was sachlich vertretbar oder sachfremd und deshalb willkürlich erscheint, läßt sich nicht abstrakt und allgemein feststellen, sondern nur stets in bezug auf die Eigenart des konkreten Sachverhalts, der geregelt werden soll (vgl BVerfGE 75, 108, 157, st Rspr). Der normative Gehalt der Gleichheitsbindung erfährt daher seine Präzisierung jeweils im Hinblick auf die Eigenart des zu regelnden Sachbereichs (BVerfGE 90, 226, 239 = SozR 3-4100 § 111 Nr 6 mwN).

Aus dem allgemeinen Gleichheitssatz ergeben sich also je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Der unterschiedlichen Weite des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraums entspricht eine abgestufte Kontrolldichte bei der verfassungsrechtlichen Prüfung (vgl BVerfGE 55, 72, 89 f; 88, 87, 96 f; 92, 365, 407 = SozR 3-4100 § 116 Nr 3 sowie BVerfGE 92, 53, 69 = SozR 3-2200 § 385 Nr 6).

Die Begrenzungsnorm des § 69 AFG ist hiernach sachgerecht. Sie kann zwar - wie die Klägerin geltend macht - dazu führen, daß Versicherte - entsprechend der unterschiedlichen wöchentlichen Arbeitszeit - trotz unterschiedlicher Beitragsleistung gleiche Versicherungsleistungen erhalten. Sie kann ebenfalls dazu führen, daß bei Zahlung gleicher Beiträge unterschiedliche Leistungen zu gewähren sind, denn dasselbe Monatsverdienst mit gleicher hoher Beitragsbelastung kann einmal auf der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit mit einem hohen Durchschnittsverdienst und zum anderen auf einer erheblich längeren Arbeitszeit mit einem niedrigeren Stundenverdienst beruhen (vgl hierzu Bieback, Komm zum AFG, § 69 Rz 6; vgl auch Schwerdtfeger, SGb 1975, 253). Hierin liegt indes kein Verfassungsverstoß. Schon von dem traditionellen Leistungsspektrum und der Leistungsausgestaltung her kennt die Arbeitslosenversicherung nur eine begrenzte Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung (vgl BVerfGE 51, 115, 124 = SozR 4100 § 112 Nr 10; BVerfGE 53, 313, 328 = SozR 4100 § 168 Nr 12; BVerfGE 76, 220, 236 = SozR 4100 § 242b Nr 3; BVerfGE 90, 226, 240 = SozR 3-4100 § 111 Nr 6). Die Regelung des § 69 AFG findet ihre Rechtfertigung in der gesetzgeberischen Zielsetzung einer sachnahen und praktikablen Leistungsbegrenzung.

Wie sich aus den Gesetzesmaterialien ergibt, soll das Kug, das den Betrieben die eingearbeiteten Arbeitskräfte erhält, dem Ausgleich kurzfristiger konjunktureller Schwankungen und der Überbrückung betrieblicher, durch die wirtschaftliche Entwicklung verursachter Strukturveränderungen dienen. Es ist dagegen nicht seine Aufgabe, Schwankungen der Beschäftigungslage aufzufangen, die durch die Eigenart der Betriebe bedingt sind oder regelmäßig wiederkehren (vgl Begründung des Regierungsentwurfs zum AFG, BT-Drucks V/2291 S 55, Nr 5 Buchst a). § 69 AFG kommt insoweit eine wichtige systematische Funktion zu. Auf ihn wird einmal in § 64 Abs 1 Nr 3 AFG bei der Berechnung der Anspruchsvoraussetzung "betrieblicher Mindestarbeitsausfall" sowie in § 65 Abs 2a und § 68 Abs 1 Satz 2 Nr 2 AFG als Begrenzung und Bezugspunkt der Zahl der Ausfallstunden, die bei der individuellen Berechnung des Kug-Anspruchs zugrunde gelegt werden, verwiesen. § 69 AFG legt damit in zwei völlig unterschiedlichen Zusammenhängen die tarifliche wöchentliche Normalarbeitszeit als Bezugsgröße fest. In § 64 Abs 1 Nr 3 AFG wird ein betrieblicher Mindestarbeitsausfall als Anspruchsvoraussetzung normiert. In § 68 Abs 1 Satz 2 Nr 2 AFG geht es um eine typisierende Festlegung der maximalen Arbeitsstunden, die der individuellen Kug-Berechnung zugrunde gelegt werden können. Die Funktion des Verweises auf § 69 AFG ist es, den Arbeitszeitfaktor bei der Berechnung des Kug-Anspruchs zu begrenzen und an einem standardisierten Sicherungsniveau festzuschreiben, das sich unschwer feststellen läßt (vgl BT-Drucks V/2291 S 73 zu § 64 ≪= § 69 AFG≫). Wie bereits das BSG in seiner Entscheidung vom 29. August 1974 (BSGE 38, 98, 102 = SozR 4100 § 69 Nr 1) ausgeführt hat, liegt es angesichts der Aufgabe der Tarifautonomie und des "Gegengewichtsprinzips" nahe, tarifliche Regelungen als Anzeichen konjunktureller Normallagen anzusehen. Die Begrenzungsnorm des § 69 AFG gewährleistet - wie das BSG weiter ausgeführt hat -, daß das Kug keinesfalls von Hochkonjunktur beeinflußte Arbeitsbedingungen festschreibt. Doch auch bei Fallgestaltungen, in denen die übertariflichen Arbeitszeiten andere Gründe haben, ist ein Abstellen auf die typisierende Regelung im Tarifvertrag sachlich gerechtfertigt (vgl insoweit Schwerdtfeger, SGb 1975, 253 sowie ders, SGb 1975, 349). Die Begrenzung der betriebsüblichen Arbeitszeit auf höchstens die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit soll verhindern, daß Betriebe, die keiner tariflichen Regelung über die Arbeitszeit unterliegen, ungerechtfertigt bessergestellt werden als Betriebe mit entsprechender tarifvertraglicher Regelung. Deshalb hat sich auch der Gesetzgeber seinerzeit bewußt gegen die ursprüngliche Regelung im Regierungsentwurf, die eine uneingeschränkte Maßgeblichkeit der betriebsüblichen Arbeitszeit in nicht tarifgebundenen Betrieben vorsah, entschieden (vgl BT-Drucks V/2291 S 15 und V/4110 S 14 zu § 64 ≪= § 69 AFG≫). Zu einer - von der Klägerin in ihrer Revisionsbegründung geltend gemachten - sachlich ungerechtfertigten Bevorzugung nicht tarifgebundener Betriebe, die untertarifliche Arbeitszeiten haben, kann die jetzige Regelung des § 69 AFG nicht führen, denn nach ihr ist die tatsächliche betriebliche Arbeitszeit bis zur Höhe der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit zu berücksichtigen, sie stellt also - was die Klägerin offenbar übersehen hat - eine Höchstgrenze dar.

Die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit als Maßstab und Begrenzung für die Berechnung des Leistungsanspruchs gilt im übrigen nicht nur für das Kug, sondern auch für andere AFG-Leistungen. Die Regelungen zum Schlechtwettergeld verweisen zur Bestimmung der Arbeitszeit auf § 69 AFG (§§ 84 Abs 1 Nr 2, 85 Abs 3 Satz 1 AFG). Für die Bemessung des Arbeitslosengeldes (Alg) wird auf die "tarifliche regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit" des Beschäftigungsverhältnisses im Bemessungszeitraum abgestellt (§ 112 Abs 3 und 4 AFG). Auch wenn die Regelung beim Alg nicht wortwörtlich mit § 69 AFG übereinstimmt und beim Kug der Arbeitnehmer - selbst bei Kurzarbeit "Null" - an seinen Betrieb mit den (früher) regelmäßigen (längeren) Arbeitszeiten gebunden bleibt, ergeben sich für die verfassungsrechtliche Beurteilung unter dem Gesichtspunkt zulässiger Typisierung keine grundlegenden Abweichungen. Ebenso wie das BVerfG in der Entscheidung vom 3. April 1979 (BVerfGE 51, 115 = SozR 4100 § 112 Nr 10) bei der Bemessung des Alg die typisierende Regelung als verfassungsgemäß angesehen hat, gilt Entsprechendes für die Begrenzungsnorm des § 69 AFG. Die Entscheidung des BVerfG und insbesondere die zeitlich frühere Entscheidung des BSG sind auch nicht - wie die Klägerin meint - zwischenzeitlich durch die weitere tatsächliche Entwicklung überholt. Der Tarifvertragsbereich hat sich - trotz zunehmender Bedeutung von Betriebsvereinbarungen - nicht derart verändert, daß die einschlägigen Verträge nicht mehr zur Feststellung des "üblichen Maßstabs" herangezogen werden können.

Verfassungsrechtliche Bedenken gegen die typisierende Regelung des § 69 AFG lassen sich schließlich auch nicht - wie die Klägerin meint - auf die Entscheidung des BVerfG vom 11. Januar 1995 (BVerfGE 92, 53, 71 = SozR 3-2200 § 385 Nr 6) stützen. Dort ging es um eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Versichertengruppen mit gleicher Beitragsleistung. Es wurde beanstandet, daß "Versicherte, deren Einmalzahlungen ganz oder zum Teil der Beitragspflicht unterliegen, hinsichtlich kurzfristiger Lohnersatzleistungen aus diesen Beiträgen keine Leistungen erhalten, während Versicherte, die lediglich aus laufendem Arbeitsentgelt Beiträge zahlen, voll in den Genuß äquivalenter Leistungen gelangen". Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, besteht bei der Klägerin insoweit bereits eine andere Sachlage. Denn sie beanstandet, daß Arbeitnehmer nicht tarifgebundener Betriebe trotz höherer Beitragsleistung nur die gleiche Leistung erhalten, wie Arbeitnehmer tarifgebundener Betriebe. Davon abgesehen hat das BVerfG auch in dieser Entscheidung - unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die bereits genannte, frühere Entscheidung vom 3. April 1979 (BVerfGE 51, 115, 124 = SozR 4100 § 112 Nr 10) - betont, daß es von Verfassungs wegen nicht geboten ist, bei der Bemessung kurzfristiger Lohnersatzleistungen eine versicherungsmathematische Äquivalenz zwischen den entrichteten Beiträgen und der Höhe der Leistung herzustellen. Entscheidend für die verfassungsrechtliche Beanstandung war allein, daß bei der angegriffenen Vorschrift des § 385 Abs 1a Reichsversicherungsordnung für die festgestellte Äquivalenzabweichung bei Versicherten mit gleicher Beitragsleistung kein hinreichender sachlicher Grund ersichtlich war. Bei der hier zu prüfenden Regelung des § 69 AFG bestehen jedoch - wie dargelegt - hinreichende sachliche Gründe dafür, bei der Berechnung des Kug die Arbeitszeit nur bis zur Höhe der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit zu berücksichtigen (vgl auch Bieback in Gagel, Komm zum AFG, § 69 Rz 6; Henke in Hennig/Kühl/Heuer/Henke, Komm zum AFG, § 69 Rz 41).

Die Revision der Klägerin war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 954074

BSGE, 197

NWB 1997, 873

NZA 1997, 1015

AP, 0

SozSi 1997, 357

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge