Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 12.05.1972)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. Mai 1972 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin unterhält einen Betrieb der Hohlglasindustrie. Sie gehört keinem Arbeitgeberverband an und hat auch keinen Firmentarifvertrag mit der für die Hohlglasindustrie zuständigen Gewerkschaft abgeschlossen. Die Arbeitsbedingungen im Betrieb der Klägerin werden einzelvertraglich geregelt. Die betriebliche Arbeitszeit ist auf wöchentlich 44,1 Stunden festgesetzt.

Am 26. November 1969 zeigte die Klägerin für die Zeit ab 15. Dezember 1969 Kurzarbeit an. Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 23. Februar 1970 für Januar 1970 Kurzarbeitergeld (Kug). Sie legte eine regelmäßige Arbeitszeit von 40 Stunden wöchentlich nach den §§ 2 und 3 des Manteltarifvertrages für die Hohlglasindustrie vom 13. Dezember 1969 (MTV) zugrunde. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 3. April 1970). Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Köln durch Urteil vom 28. Juni 1971 abgewiesen. Die dagegen eingelegte Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 12. Mai 1972 zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf die Bezug genommen wird, hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe bei der Berechnung des Kug zutreffend gemäß § 69 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) die „tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gleicher oder ähnlicher Betriebe” zugrunde gelegt. Diese sei eine Höchstgrenze für die Bemessung des Kug, wenn die sonst nach § 69 AFG zu berücksichtigende regelmäßige wöchentliche betriebliche Arbeitszeit die tarifliche übersteige. Der Betrieb der Klägerin gehöre zum Geltungsbereich des MTV der Hohlglasindustrie. Unabhängig von der Tarifgebundenheit der Klägerin seien Arbeitsausfall und Kug somit nach der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden und nicht nach der betrieblichen tatsächlichen Arbeitszeit von 44,1 Stunden zu bemessen. Die einheitliche Begrenzungsnorm sei mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar. Die Regelung verstoße weder gegen Art. 9 Abs. 3 noch gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Der Klägerin bleibe die Freiheit erhalten, das Für und Wider eines Beitritts zu einer Koalition abzuwägen. Dem in § 69 AFG begründeten Nachteil stehe der Vorteil gegenüber, daß die Klägerin auch bei Überschreitung der tariflichen Arbeitszeit erst Zuschläge für Mehrarbeit zu zahlen habe, wenn sie die gesetzliche Arbeitszeit von 48 Stunden wöchentlich überschreite. Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz sei durch § 69 AFG nicht verletzt. Die tarifliche Arbeitszeit habe der Bundestagsausschuß für Arbeit und Sozialordnung – abweichend von der früheren Regelung des § 123 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) und dem Regierungsentwurf zum AFG (BT-Drucks. V/2291 zu § 64) – als Höchstgrenze für die Begründung und Bemessung des Kug eingeführt. Andernfalls sei im Falle der Mehrarbeit in einem tarifgebundenen Betrieb nicht von der betriebsüblichen Arbeitszeit auszugehen, wohl aber bei einer Arbeitszeit von gleicher Dauer in einem nichttarifgebundenen Betrieb. Ein solches Ergebnis sei ungerecht. Es werde durch die Begrenzungsnorm des § 69 AFG vermieden. Der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) könne im übrigen auch nur verletzt sein, wenn „sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die …Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt”, wenn die Regelung also „als willkürlich bezeichnet werden muß” (BVerfGE 1, 16; BVerwGE 2, 153; BSGE 22, 65). Die Gerichte hätten nur zu prüfen, ob der Gesetzgeber die äußersten Grenzen seines Entscheidungsspielraums überschritten habe. Das sei hier nicht der Fall. Für nichttarifgebundene Betriebe sei die Begrenzungsnorm nicht willkürlich, weil sie Schwierigkeiten bei der Feststellung der tatsächlichen Arbeitszeit vermeide.

Gegen das Urteil des LSG hat die Klägerin – die zugelassene – Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der Verfassung, nämlich von Art. 9 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 GG durch das LSG und führt dazu insbesondere aus: Es sei dem LSG zuzugeben, daß die getroffene Entscheidung dem § 69 AFG entspreche. Diese Vorschrift sei jedoch nichtig, weil sie im Widerspruch zu den genannten Verfassungsbestimmungen stehe, soweit sie auch für nichttarifgebundene Betriebe die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit als Begrenzungsnorm festlege. Die Regelung des § 69 AFG verkenne die tatsächlichen Verhältnisse. Arbeitnehmer von tarifgebundenen und nichttarifgebundenen Betrieben seien nur scheinbar gleichbehandelt. Dem Zweck dieser Leistung entsprechend sei für das Kug nach Grund (§ 64 Abs. 1 Nr. 3 AFG) und Höhe (§ 68 Abs. 1 Nr. 2 AFG) die regelmäßige betriebliche wöchentliche Arbeitszeit maßgebend. Dieser Grundsatz habe nach § 123 AVAVG uneingeschränkt gegolten. Die Einführung der tariflichen Arbeitszeit als obere Bemessungsgrenze habe ihn nicht durchbrechen sollen. Sie solle nicht die Leistung im Vergleich zur früheren Rechtslage verkürzen, sondern aus Praktikabilitätsgründen eine „vereinfachende Klarstellung” bringen (BT-Drucks. V/2291 zu § 64). Tatsächlich stimme in tarifgebundenen Betrieben die betriebsübliche Arbeitszeit mit der tariflichen überein. Gehe sie darüber hinaus, handle es sich um Mehrarbeit, für die Zuschläge zu zahlen seien. Solche Mehrarbeitszeiten seien schon nach § 123 AVAVG nicht Bestandteil der regelmäßigen betriebsüblichen Arbeitszeit gewesen. Der Ansicht des LSG, daß auch in tarifgebundenen Betrieben eine übertarifliche Arbeitszeit üblich sei, komme nur theoretische Bedeutung zu. Es könne sich nur um ungewöhnliche Ausnahmefälle handeln; sie hätten bei dem Vergleich mit den Verhältnissen in nichttarifgebundenen Betrieben außer Betracht zu bleiben. Hier liege die betriebsübliche Arbeitszeit nicht nur in Ausnahme fällen über der tariflichen. Im gegebenen Fall betrage der Unterschied 10 %. Da gesetzlich eine wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden zulässig sei, könne der Unterschied noch größer sein. Wegen der Anspruchsvoraussetzung von mehr als 10 % der Arbeitszeit (§ 64 Abs. 1 Nr. 3 AFG) werde Arbeitnehmern nichttarifgebundener Betriebe ein erheblich höherer Arbeitsausfall zugemutet als Arbeitnehmern mit tariflicher Arbeitszeit, ehe die Lohnausfallvergütung einsetze. Diese Benachteiligung lasse sich nicht mit Gesichtspunkten der Verwaltungsvereinfachung rechtfertigen. Es handle sich nicht um geringfügige Ungleichheiten; eine Gruppe von Arbeitnehmern werde durch die Regelung des § 69 AFG stärker belastet. Das sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verfassungswidrig (BVerfGE 27, 223, 227). Im übrigen bleibe auch die jeweilige betriebsübliche Arbeitszeit nach § 69 AFG die maßgebende Bezugsgröße. Sinn und Zweck der Vorschrift sei gewesen, Arbeitnehmer nichttarifgebundener Betriebe gegenüber denen tarifgebundener Betriebe nicht bevorzugt zu behandeln. Dazu hätte aber ein Verzicht auf die Begrenzungsnorm ohnehin nicht geführt. Für die Höhe des Kug sei nämlich nicht nur die Zahl der ausgefallenen Stunden, sondern auch die Höhe des Arbeitsentgelts maßgebend (§ 68 Abs. 1 Nr. 1 AFG). Tarifliche Arbeitszeitverkürzungen gingen ausnahmslos mit einem vollen Lohnausgleich einher. Der Ausfall von Arbeitsstunden bei Lohnausfall werde bei Kurzarbeit „durch die entsprechend höhere Lohngruppe regelmäßig im vollen Umfang ausgeglichen”. Derartige Lohnerhöhungen könnten nichttarifgebundene Betriebe nicht mitmachen.

Die fehlende Tarifbindung sei „nicht selten auf ungünstige strukturelle Gegebenheiten und Standortnachteile zurückzuführen”.

Die Klägerin beantragt,

die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 23. Februar 1970 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. April 1970 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, das Kurzarbeitergeld für Januar 1970 unter Berücksichtigung der betriebseigenen Arbeitszeit von 44,1 Stunden festzusetzen,

das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG über die Gültigkeit des § 69 AFG einzuholen, soweit dort für Betriebe, für die keine tarifliche Arbeitszeit besteht, die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gleicher oder ähnlicher Betriebe als obere Bemessungsgrenze vorgeschrieben ist.

Die Beklagte beantragt,

die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, daß § 69 AFG mit dem GG vereinbar ist und hält die Begründung im angefochtenen Urteil für überzeugend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil nach § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist unbegründet. § 69 AFG ist mit dem GG vereinbar.

Das LSG hat § 75 Abs. 2 SGG nicht verletzt (notwendige Beiladung eines Betriebsrats oder der materiell-rechtlich betroffenen Arbeitnehmer). Ein solcher Verfahrensfehler ist in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu beachten (BSG, Beschluß vom 12. März 1974 – 2 S 1/74 –) Die Klägerin macht die Rechte ihrer Arbeitnehmer, denen die Ansprüche auf Kug materiell zustehen (§ 63 Abs. 1 Satz 1 AFG), im eigenen Namen geltend. Sie hat dem Arbeitsamt den Arbeitsausfall anzuzeigen (§ 72 Abs. 1 Satz 1 AFG) und die Anspruchsvoraussetzungen nachzuweisen (§ 72 Abs. 3 Satz 1 AFG). Die Arbeitnehmer brauchen nur die erforderlichen Angaben zu machen, wobei dem Regelungszusammenhang zu entnehmen ist, daß diese Pflicht nicht dem Arbeitsamt, sondern dem Arbeitgeber gegenüber besteht (§ 72 Abs. 3 Satz 2 AFG). Der Arbeitgeber hat auch den Antrag auf Kug nach § 72 Abs. 2 Satz 1 AFG zu stellen. Die Verweisung des § 72 Abs. 2 Satz 2 AFG auf die Vorschriften über die Anzeige stellt dies klar. Neben dem Arbeitgeber, hier der Klägerin, hat diese besondere gesetzliche Stellung auch die Betriebsvertretung (§ 72 Abs. 1 Satz 2 und § 72 Abs. 2 Satz 1 AFG). Ist aber die Klägerin – neben der Betriebsvertretung – Subjekt des Verwaltungsverfahrens und haben die Anspruchsberechtigten keine Befugnis, ihre Rechte zu verfolgen, so ist die Klägerin – und auch die Betriebsvertretung – als Prozeßstandschafterin ihrer Kurzarbeit leistenden Arbeitnehmer anzusehen (vgl. BSG 22, 181, 183 = SozR Nr. 26 zu § 144 SGG; BSG SozR Nr. 5 zu § 143 l AVAVG). Aus der Rechtsstellung der Klägerin und der Betriebsvertretung im Verwaltungsverfahren ist auf ihre Befugnis zu schließen, anstelle der materiell-rechtlich Berechtigten auf Kug zu klagen (zum Begriff der Prozeßstandschaft: Stern, Rechtsschutz im Sozialrecht, 1965, S. 223, 230 mit weiteren Nachweisen). Eine Klagebefugnis der Anspruchsberechtigten ist auch nicht insoweit anzuerkennen, als es sich um die „persönlichen Voraussetzungen” des Anspruchs auf Kug handelt (so aber Hennig/Kühl/Heuer, AFG, § 72 Anm. 13). Die Prozeßführungsbefugnis kann sich nur auf den geltend gemachten Anspruch als ganzen beziehen, nicht aber auf einzelne Elemente seiner Begründung (vgl. BSG SozR Nr. 5 zu § 143 l AVAVG). Wenn aber den anspruchsberechtigten Arbeitnehmern neben der Klägerin und der Betriebsvertretung eine Klagebefugnis nicht zusteht, besteht auch nicht die Gefahr divergierender Entscheidungen, denen durch eine notwendige Beiladung gemäß § 75 Abs. 2 SGG zu begegnen ist. Eine Beiladung der betroffenen Arbeitnehmer würde vielmehr die vom Gesetzgeber in § 72 AFG erstrebte Verfahrensvereinfachung durchkreuzen (ebenso Stern aaO S. 243 ff., 245). Die Entscheidung des Prozesses zwischen dem Prozeßstandschafter und dem Prozeßgegner wirkt ohnehin auch materiell gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern.

Da der Betriebsvertretung neben dem Arbeitgeber ein selbständiges Verfahrensrecht eingeräumt ist, hat auch diese eine Klagebefugnis, die eine Beiladung gemäß § 75 Abs. 2 SGG notwendig machen kann. Eines näheren Eingehens auf diese Frage bedarf es indessen hier nicht, da nach den unangefochtenen und für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG keine Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, daß bei der Klägerin eine Betriebsvertretung besteht. Damit ist aber die Revision nicht schon deshalb begründet, weil die notwendige Beiladung der Betriebsvertretung fehlt.

Hinsichtlich des streitigen materiellen Anspruchs geht die Revision selbst mit Recht davon aus, daß die Entscheidung des LSG unter Berücksichtigung des § 69 AFG sachlich zutreffend ist. Ebenso hat das Berufungsgericht zutreffend angenommen, daß § 69 AFG nicht verfassungswidrig ist.

Es kann hier dahinstehen, ob Art. 9 Abs. 3 GG überhaupt die negative Koalitionsfreiheit schützt. In Lehre und Rechtsprechung ist die Frage umstritten (vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., 1967, Band II 1, S. 154 ff.; Gamillscheg, Die Differenzierung nach der Gewerkschaftszugehörigkeit, 1966, Däubler/Mayer/Maly, Negative Koalitionsfreiheit?, 1971; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 35 ff.; Heiseke, RdA 1960, 301; Heußner, RdA 1960, 295, Galperin, AuR 1965, 6; BAGE 20, 175, 213 ff.). Das BVerfG hat diese Frage noch in jüngster Zeit offengelassen (BVerfGE 31, 297, 302; ferner aber auch BVerfGE 10, 89, 102; 20, 312, 320 ff.). Selbst wenn man eine Garantie der negativen Koalitionsfreiheit durch Art. 9 Abs. 3 GG annimmt, schützt ein solches Grundrecht den einzelnen nicht vor jedem Druck (BVerfGE 20, 312, 321, 322; BAGE 20, 175, 218). So hat das BVerfG (BVerfGE 20, 312, 322; 31, 297, 302) sogar die Auffassung vertreten, die z. B. in der Handwerksordnung angelegte Koppelung der Angehörigkeit zu einem tariffähigen Verband mit den Vorteilen einer öffentlich-rechtlichen Berufsorganisation könne für den einzelnen Handwerker einen gewissen Druck bedeuten, die Tarifmacht der Innung anzunehmen und von dem Beitritt zu einer besonderen Arbeitgeberorganisation abzusehen. Dabei hat das BVerfG aaO gerade darauf hingewiesen, daß dieser Druck deshalb nicht überbewertet werden dürfe, weil auch sonst der Freiheit des einzelnen, einen Arbeitgeberverband zu gründen oder ihm beizutreten, enge Grenzen gesetzt seien. Vergleicht man aber das dem einzelnen nach der vorgenannten Rechtsprechung – trotz Art. 9 Abs. 3 GG – zugemutete Opfer mit den nur als vorübergehend denkbaren (vgl. § 63 Abs. 1 Satz 1 AFG) Nachteilen durch die Begrenzungsnorm des § 69 AFG, so ist der auf die Klägerin ausgeübte „Druck” unbedenklich; dies umso mehr, als die Freiheit von Tarifbindungen auch Vorteile mit sich bringt (im konkreten Fall besonders die Ersparnis von Mehrarbeitszuschlägen für die übertariflichen Arbeitsstunden). Selbst die für die Klägerin günstigste Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG als Schutznorm der negativen Koalitionsfreiheit begründet also keine Verfassungsverletzung durch § 69 AFG.

Eine Verletzung des Art. 9 Abs. 3 GG durch die Begrenzungsnorm des § 69 AFG ist aber hier auch noch aus anderen Gründen ausgeschlossen. Art. 9 Abs. 3 GG hindert nämlich die öffentliche Gewalt nicht, autonomes Recht auf Dritte zu erstrecken, wie es auch insbesondere durch die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen nach § 5 des Tarifvertragsgesetzes (TVG) durch den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung geschieht (vgl. BVerfG, NJW 1973, 1320; BAG, Urt. vom 10. Oktober 1973 – 4 AZR 68/73 –; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, 1969, S. 36 f.; Nipperdey/Heußner, Staatsbürger und Staatsgewalt, Jubiläumsschrift für das BVerwG, 1963, S. 211, 217 ff.). Nichts anderes geschieht, wenn § 69 AFG die tarifliche Arbeitszeit als Höchstgrenze zur Begründung und Bemessung des Kug heranzieht. Aus der Sicht des Art. 9 Abs. 3 GG wäre es im übrigen auch unbedenklich, eine feste Höchstgrenze für die maßgebliche Arbeitszeit für das Kug festzusetzen. Die Bezugnahme auf die Arbeitszeitregelung des fachlich einschlägigen Tarifvertrages kann zu keiner abweichenden verfassungsrechtlichen Würdigung führen. Im Gegenteil, geht man mit der Rechtsprechung des BVerfG davon aus, daß Art. 9 Abs. 3 GG die Tarifautonomie gewährleistet (BVerfGE 4, 96, 108; 18, 18, 28; 20, 312, 317), so entspricht es zwar keinem verfassungsrechtlichen Gebot, die Begrenzungsnorm an autonome Normen anzulehnen; es entspricht aber durchaus dem Grundgedanken des Art. 9 Abs. 3 GG, wenn der staatliche Gesetzgeber anstelle einer eigenen gesetzlichen starren Festlegung der Höchstgrenze in seine gesetzlichen Vorschriften die jeweils geltende tarifliche Norm als Bemessungsgrenze übernimmt. Praktische Erwägungen deuten in die gleiche Richtung. Die Bezugnahme auf tarifliche Arbeitszeitregelungen sichert der Grenzregelung größere Sachnähe und Beweglichkeit als eine eigenständige starre gesetzliche Höchstgrenze (vgl. auch BVerfGE 34, 307, 317). Durch die Grenznorm des § 69 AFG wird daher die negative Koalitionsfreiheit in keinem Fall verletzt.

Entgegen der Auffassung der Revision wird durch die Regelung in § 69 AFG auch nicht der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers durch eine Gleichbehandlung ungleicher Verhältnisse überschritten und Art. 3 Abs. 1 GG verletzt. Gesetzliche Regelungen haben nach dem Gleichheitssatz Ungleichheiten Rechnung zu tragen, die typischerweise zwischen Gruppen von Normenadressaten bestehen. Eine Verletzung des Gleichheitssatzes kommt danach in Betracht, „wenn nicht nur einzelne, aus dem Rahmen fallende Sonderfälle, sondern bestimmte, wenn auch zahlenmäßig begrenzte Gruppen typischer Fälle ohne zureichende sachliche Gründe verhältnismäßig stärker belastet werden als andere” (BVerfGE 34, 71, 79; BVerfG, NJW 1974, 739, 740). Es kann hier dahinstehen, ob § 69 AFG schon nach dieser Rechtsprechung gerechtfertigt ist, weil dem Gesetzgeber für den Bereich der leistenden Verwaltung ein weiterer Entscheidungsspielraum eingeräumt ist als bei Regelungen staatlicher Eingriffe (BVerfGE 31, 1, 4; kritisch dazu aber: Rupp/von Brünneck, NJW 1974, 740, 741). Für die Verfassungsmäßigkeit der Begrenzungsnorm des § 69 AFG sprechen nämlich weitere Sachgesichtspunkte.

Die Zahlung von Kug dient „dem Ausgleich kurzfristiger konjunktureller Schwankungen und der Überbrückung betrieblicher, durch die wirtschaftliche Entwicklung verursachter Strukturveränderungen” (Begründung des Regierungsentwurfs zum AFG, BT-Drucks. V/2291, S. 55). Branchen- oder betriebsübliche, saisonbedingte oder ausschließlich betriebsorganisatorische Gründe für den Arbeitsausfall sind unerheblich (§ 64 Abs. 3 AFG). Übertarifliche Arbeitszeit kann auf verschiedenen Umständen beruhen. Soweit sie auf Gründen der in § 64 Abs. 3 AFG genannten Art beruht, wäre ihre Berücksichtigung im Rahmen des § 64 Abs. 1 Nr. 3 und des § 68 Abs. 1 Nr. 2 AFG nicht angemessen. Sollte die betriebliche Arbeitszeitregelung Ausdruck anhaltender Hochkonjunktur des betreffenden Wirtschaftssektors sein, wäre ihre Berücksichtigung jedenfalls nicht sachlich geboten. Öffentliche Leistungen aus Gründen eines Konjunkturabfalls können dem Gesetzgeber erst dann geboten erscheinen, wenn der Rückgang eine „Normalgrenze” unterschreitet. Es liegt angesichts der Aufgabe der Tarifautonomie und des „Gegengewichtsprinzips” (Löwisch, RdA 1969, 129, 132 ff; ders. Zur Kooperation von Staat und Tarifpartnern S.135 ff) nahe, tarifliche Regelungen als Anzeichen konjunktureller Normallagen – d. h. als Mittel zwischen Konjunkturberg und Konjunkturtal kennzeichnenden Arbeitsbedingungen – anzusehen. Die Begrenzungsnorm des § 69 AFG gewährleistet so, daß das Kug keinesfalls von Hochkonjunktur beeinflußte Arbeitsbedingungen festschreibt, sondern einen gewissen Besitzstand der Arbeitnehmer und die Kaufkraft dieser Bevölkerungsgruppe erst bei Anzeichen von Gefährdung des Beschäftigungsstandes durch öffentliche Leistungen stützt. So gesehen leuchtet die Erwägung des Ausschusses für Arbeit des Bundestages und des Berufungsgerichts im angefochtenen Urteil ein, die uneingeschränkte Maßgeblichkeit der betriebsüblichen Arbeitszeit in nichttarifgebundenen Betrieben nach § 64 Satz 2 Regierungsentwurf AFG (BT-Drucks. V/2291) stellte diese Betriebe „ungerechtfertigterweise besser” (BT-Drucks. V/4110 S. 14). Der angedeutete Maßstab für die gesetzliche Regelung legt sogleich klar, warum § 69 AFG – entgegen der Auffassung der Revision – nicht als Benachteiligung vor Arbeitnehmern nichttarifgebundener Betriebe aufzufassen ist. Eine Unvereinbarkeit des § 69 AFG mit Art. 3 Abs. 1 GG liegt daher nicht vor.

Soweit die Revision mit ihrem Vortrag, auch mit der übertariflichen Arbeitszeit trügen die Arbeitnehmer der Klägerin zum Beitragsaufkommen der Beklagten bei, auf eine Verletzung des Art. 14 GG durch § 69 AFG abzielt, ist diese Meinung ebenfalls unbegründet.

Auch öffentlich-rechtliche Rechtspositionen können nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BSG Gegenstand der Eigentumsgarantie sein, sofern sie Ausdruck eigener Leistung sind oder „es nach dem rechtsstaatlichen Gehalt des Grundgesetzes als ausgeschlossen erscheint, daß der Staat sie ersatzlos entziehen kann” (BVerfGE 16, 94, 112; BSGE 5, 40, 42 ff.; 9, 127, 128; 26, 255, 257 f.). Geschützt ist auf diese Weise der Anspruch auf Kug aber allenfalls „in seinem Kernbestand”. Es steht dem Gesetzgeber frei, die Leistung der Höhe nach und in ihren Einzelheiten zu regeln. § 69 AFG würde sich dann als Mittel darstellen, Inhalt und Schranken des Eigentums nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG zu bestimmen (BVerfGE 16, 97, 112; zustimmend: Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, 1965, I S. 243 ff). Im übrigen würde eine Auffassung, welche die Beitragsgerechtigkeit zum entscheidenden Kriterium erhebt, das versicherungsrechtliche Äquivalentsprinzip verkennen. Allein bedeutsam ist der soziale Ausgleich unter den Versicherten bei angemessener Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses im „wesentlichen Kern” (Werner Weber AöR 1966 – Band 91 –, S. 382, 395; ähnlich Wannagat aaO S. 2 f.).

Nach allem ist somit die Regelung des § 69 AFG nicht verfassungswidrig. Die Beklagte hat bei der Berechnung des Kug für die Arbeitnehmer im Betrieb der Klägerin zutreffend nicht die dort regelmäßige betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit von 44,1 Stunden, sondern „die tarifliche wöchentliche Arbeitszeit gleicher oder ähnlicher Betriebe” zugrunde gelegt. Die Revision der Klägerin kann daher keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Brocke, Hennig, Dr. Gagel

 

Fundstellen

BSGE, 98

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