Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Streitig ist, ob der Kläger als asylsuchender Ausländer Anspruch auf Kindergeld hat.

Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er hielt sich von 1962 bis 1974 im Bundesgebiet und in Berlin-West auf. Nachdem seine Ausweisung angeordnet war, verließ er das Bundesgebiet. Ein Asylantrag, den er nach der angeordneten Ausweisung gestellt hatte, wurde vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 16. Januar 1976 abgelehnt. Während des Aufenthaltes bezog der Kläger Kindergeld.

Am 14. Juni 1977 kehrte der Kläger nach Berlin-West zurück und beantragte am 1. Juli 1977, ihm Asyl zu gewähren. Der Polizeipräsident in Berlin ordnete am 6. September 1977 an, daß der Kläger das Bundesgebiet unverzüglich zu verlassen habe und drohte ihm die Abschiebung an, falls er der Anordnung nicht innerhalb einer Woche Folge leiste. Er bezog sich dabei auf die unanfechtbare Ausweisungsverfügung vom 18. Oktober 1972. Der Kläger erhob Widerspruch. Das Verwaltungsgericht Berlin ordnete mit Beschluß vom 20. Oktober 1977 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs an, weil der Abschiebung das eingeleitete Asylverfahren entgegenstehe und zur Zeit davon auszugehen sei, daß ein beachtlicher Asylantrag vorliege und der Kläger das Asylverfahren nicht rechtsmißbräuchlich betreibe. Daraufhin hob der Polizeipräsident die Ausreiseanordnung auf. Er verfügte, daß der Aufenthalt des Klägers zu dulden sei und auf den Bereich des Landes Berlin beschränkt werde. Er erteilte dem Kläger eine entsprechende Bescheinigung, die zur Zeit des erstinstanzlichen Urteils (26. Januar 1979) bis zum 9. Mai 1979 verlängert worden war.

Am 15. Dezember 1977 beantragte der Kläger, ihm für seine sechs ehelichen Kinder, die sich in Berlin aufhalten, Kindergeld zu gewähren. Die Beklagte, lehnte diesen Antrag ab, weil der Kläger weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) habe.

Das Sozialgericht Berlin (SG) hat den Bescheid der Beklagten vom 9. Februar 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 1978 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger das Kindergeld aufgrund des Antrages vom 15. Dezember 1977 zu gewähren. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 26. Januar 1979).

Die Beklagte hat mit Zustimmung des Klägers Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1 Nr. 1 BKGG i.V.m. § 30 Abs. 3 SGB 1. Sie hält an ihrer Rechtsauffassung fest, daß, von bestimmten Ausnahmen abgesehen, ausländische Asylbewerber während des Laufes des Asylverfahrens keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG haben.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Januar 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil des SG ist aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Kindergeld, weil er keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG hat (§ 1 Nr. 1 BKGG). Hierzu gehört auch das Land Berlin (§ 46 BKGG).

Nach den nicht angegriffenen und deshalb für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen des SG (§ 163 SGG) ist der Kläger, ein syrischer Staatsangehöriger, am 14. Juni 1977 erneut in das Land Berlin eingereist und hat am 1. Juli 1977 einen erneuten Asylantrag gestellt. Seitdem wird sein Aufenthalt in West-Berlin für die Dauer des Asylverfahrens "geduldet". Er hält sich daher zwar mit seinen Kindern tatsächlich im Land Berlin auf, hat hier aber keinen gewöhnlichen Aufenthalt, geschweige denn einen Wohnsitz.

Nach der seit dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil (SGB 1) am 1. Januar 1976 (Art II § 23 Abs. 1 Satz 1 SGB 1) auch für das Kindergeldrecht (§ 25 SGB 1) geltenden Legaldefinition des § 30 Abs. 3 SGB 1 hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Die Begriffe "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" waren in § 1 BKGG durch den mit dem Finanzänderungsgesetz vom 21. Dezember 1967 (BGBl. I 1259, 1277) zur Klarstellung eingefügten Klammerzusatz "(§§ 13 und 14 Abs. 1 des Steueranpassungsgesetzes -StAnpG-)" definiert. Nachdem die §§ 13 und 14 StAnpG durch die §§ 8 und 9 der Abgabenordnung vom 16. März 1976 - BGBl. I 613 - (AO 1977) ersetzt worden waren und § 30 Abs. 3 SGB 1 in Kraft getreten war, wurde der Klammerzusatz in § 1 BKGG gestrichen (Art 90 des Einführungsgesetzes zur AO 1977 - BGBl. I 3341 -). Trotz dieser Gesetzesänderung sind die Begriffe "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" inhaltlich unverändert geblieben. Sie gelten und galten inhaltsgleich im Steuer- und Kindergeldrecht (BSGE 45, 95; Urteil des erkennenden Senats vom 27. April 1978 - 8 RKg 2/77 = Praxis 1978, 333, 334). § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB 1 hat für den gewöhnlichen Aufenthalt nur die Begriffsbestimmung des § 14 Abs. 1 Satz 1 StAnpG (jetzt § 9 Satz 1 AO 1977) übernommen. § 14 Abs. 1 Satz 2 StAnpG enthielt bezüglich der dort genannten Sechsmonatsfrist keine gesetzliche Umschreibung des "gewöhnlichen Aufenthalts". Mit dem Inkrafttreten des § 30 Abs. 3 SGB 1 ist daher keine Rechtsänderung eingetreten.

Schon nach dem Gesetzeswortlaut sind für die Bestimmung des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthalts die tatsächlichen Umstände maßgebend. So hat der Bundesfinanzhof (BFH) in ständiger Rechtsprechung den Wohnsitz nur nach tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, nicht dagegen etwa nach den §§ 7 und 8 des Bürgerlichen Gesetzbuches beurteilt. Der Gesetzgeber des SGB 1 ist, wie sich aus der Fassung des § 30 Abs. 3 ergibt, der steuerrechtlichen Begriffsbestimmung gefolgt (vgl. Wannagat, Sozialgesetzbuch § 30 AT Rd.Nr. 15; Burdenski/von Maydell/Schellhorn, Kommentar zum Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -, § 30 Rd.Nr 39). Der erkennende Senat hat sich bereits in früheren Entscheidungen für das Kindergeldrecht dieser Auslegung angeschlossen (Urteile vom 27. April 1978 - 8 RKg 2/77 - und vom 26. Juli 1977 - 8b RKg 12/78 -). Danach ist nicht der Wille eines Menschen, in einem Ort einen Wohnsitz zu begründen oder sich nicht nur vorübergehend aufzuhalten, ausschlaggebend; die tatsächlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse dürfen diesem Willen nicht entgegenstehen (Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Stand Juni 1979, § 8 Rd.Nr. 4, § 9 Rd.Nr 4; BFH in BStBl 1968 II, 803, 818; vgl. auch das Urteil des erkennenden Senats vom 26. Juli 1979 - 8b RKg 12/78 a.E.). Ein asylsuchender Ausländer hat daher nicht schon deshalb allein einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG, weil er sich hier mit der Absicht aufhält, für längere Zeit im Bundesgebiet oder im Land Berlin zu verweilen.

Während des Anerkennungsverfahrens (§§ 29 bis 45 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 -AuslG - BGBl. I 353, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens vom 25. Juli 1978 - BGBl. I, 1108), in dem darüber entschieden wird, ob ein Antragsteller als Asylberechtiger anerkannt wird (§ 28 AuslG), besteht ein Schwebezustand. Grundsätzlich hat nämlich ein Ausländer, der weder eine Aufenthaltserlaubnis (§§ 2, 5 AuslG) oder eine Aufenthaltsberechtigung (§ 8 AuslG) besitzt noch von dem Erfordernis der Aufenthaltserlaubnis befreit ist (§§ 2 Abs. 2 bis 4; 49 Abs. 2 AuslG), den Geltungsbereich des AuslG unverzüglich zu verlassen (§ 12 Abs. 1 Satz 1 AuslG). Ein Ausländer, der den Geltungsbereich des AuslG zu verlassen hat, ist abzuschieben, wenn u.a. seine freiwillige Ausreise nicht gesichert ist (§ 13 AuslG). Allerdings kann gemäß § 17 AuslG die Abschiebung zeitweise ausgesetzt werden (Duldung). Das ist hier offenbar einer allgemeinen Verwaltungsübung folgend für die Dauer des Asylanerkennungsverfahrens geschehen (vgl. die allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Ausführung des Ausländergesetzes vom 7. Juli 1967 - GMBl 231 -i.d.F. vom 7. Juli 1978 - GMBl S. 368 - AuslVwV - zu § 17 Nr. 1a). Der Kläger unterliegt daher zwar auch grundsätzlich weiterhin der Ausreisepflicht. Die Ausreise kann aber während der Duldung nicht zwangsweise durchgesetzt werden (Marxen, Deutsches Ausländerrecht, 1967, § 17 AuslG, Rd.Nr. 2.1 a). Der Kläger macht sich während der Duldung nicht nach § 47 AuslG strafbar. Eine Aufenthaltserlaubnis, mit der die Ausreisepflicht erlischt, erhält der Asylsuchende erst als asylberechtigter Ausländer (§ 43 AuslG). Über die Anerkennung als Asylberechtigter wird in einem besonderen Anerkennungsverfahren vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge entschieden (§ 29 Abs. 1 AuslG). Die Entscheidung im Anerkennungsverfahren ist in allen Angelegenheiten verbindlich, in denen die Anerkennung rechtserheblich ist (§ 45 AuslG). Das gilt also insbesondere auch für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. Während des Anerkennungsverfahrens steht somit nicht verbindlich fest, ob der Ausländer asylberechtigt ist oder nicht, d.h. ob ihm eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist oder nicht. Die Duldung ist daher ein vorübergehender Zustand. Sie ist zu widerrufen, wenn die Gründe, die der Abschiebung entgegenstehen, entfallen (§ 17 Abs. 1 Satz 2 AuslG). Auch bei den in § 40 AuslG vorgesehenen Fällen, in denen asylsuchenden politisch Verfolgten der Aufenthalt im Sammellager zu gestatten ist, handelt es sich grundsätzlich um einen vorübergehenden Rechtszustand, der für die Dauer des Anerkennungsverfahrens beschränkt ist. Ist das Verfahren abgeschlossen, richtet sich die weitere Behandlung des Ausländers nach den allgemeinen ausländerrechtlichen Vorschriften (AuslVwV zu § 40 Nr. 9). Bevor daher im Anerkennungsverfahren nicht bindend oder rechtskräftig festgestellt ist, daß ein Asylsuchender asylberechtigt und ihm deshalb eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, hat er in aller Regel im Bundesgebiet oder Land Berlin nur einen vorübergehenden, also keinen gewöhnlichen Aufenthalt i.S. von § 1 Nr. 1 BKGG i.V.m. § 30 Abs. 3 SGB 1 und deshalb keinen Kindergeldanspruch (ebenso: Krebs, Kommentar zum BKGG, § 1 Rd.Nr. 10). Ob in bestimmten, besonders gelagerten Fällen, in denen kein Zweifel daran besteht, daß dem Ausländer Asyl gewährt werden wird, ein gewöhnlicher Aufenthalt schon seit dem Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet angenommen werden kann, braucht hier nicht entschieden zu werden (vgl. bezüglich der Vietnamflüchtlinge: Runderlaß des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit Nr. 375/74 zu § 1 BKGG 1.16. Die in diesem Runderlaß ebenfalls vertretene Auffassung, daß bei Asylbewerbern auch dann ein gewöhnlicher Aufenthalt anzunehmen sei, wenn über den Asylantrag negativ entschieden worden ist, der ablehnende Bescheid aber mit einem Rechtsbehelf angefochten ist, erscheint allerdings schwer verständlich).

Die Rechtsauffassung des SG, ein asylsuchender Ausländer habe dann einen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG, wenn er sich länger als 6 Monate hier aufgehalten habe, vermag der Senat nicht zu teilen. § 30 Abs. 3 SGB 1 enthält keine, dem früheren § 14 Abs. 1 Satz 2 StAnpG und dem jetzigen § 9 Satz 2 f. AO 1977 entsprechende Regelung. Daraus folgt, daß der Gesetzgeber insoweit dem Steuerrecht nicht gefolgt ist und eine dahingehende gesetzliche Vermutung für das Sozialversicherungsrecht nicht normieren wollte. Sie kann daher nicht für die Auslegung der Begriffe "Wohnsitz" und "gewöhnlicher Aufenthalt" i.S. von § 30 Abs. 3 SGB 1 ergänzend herangezogen werden.

Dieses Ergebnis steht im Einklang mit den Verpflichtungen, die die Bundesrepublik Deutschland im Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 übernommen hat, das Gesetzeskraft hat (Gesetz vom 1. September 1953, BGBl. II 559). Nach Art 24 des Abkommens gewähren die Vertragsstaaten den Flüchtlingen, die sich rechtmäßig in ihrem Gebiet aufhalten, dieselbe Behandlung wie ihren Staatsangehörigen, wenn es, sich um die im einzelnen in diesem Artikel aufgeführten Rechte handelt. Dazu gehören auch Ansprüche auf Kindergeld (vgl. SozR 5870 § 2 Nr. 13). Wie sich aus der Formulierung "rechtmäßig aufhalten" ergibt, sollen Rechtsansprüche der genannten Art nicht grundsätzlich jedem Flüchtling, der sich nur tatsächlich im Gebiet eines Vertragsstaats aufhält, zukommen. Hierzu bestimmt § 44 AuslG, daß die Rechtsstellung nach dem Abkommen Ausländer genießen, die nach 28 Nr. 1 AuslG "anerkannt worden sind''.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.8b RKg 4/79

Bundessozialgericht

 

Fundstellen

BSGE, 254

Breith. 1980, 901

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