Leitsatz (amtlich)

Nach AVG § 18d Abs 3 (= RVO § 1241d Abs 3) gilt der Rehabilitationsantrag eines erwerbsunfähigen Versicherten auch bei einer bewilligten, zunächst versuchten, dann aber fehlgeschlagenen Rehabilitation als Rentenantrag (Anschluß an BSG 1979-10-10 3 RK 25/79 = SozR 2200 § 1241d Nr 1).

 

Normenkette

AVG § 18d Abs 3 Fassung: 1974-08-07; RVO § 1241d Abs 3 Fassung: 1974-08-07; RehaAnglG § 7 Fassung: 1974-08-07

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 12.01.1979; Aktenzeichen L 3 An 134/78)

SG Aachen (Entscheidung vom 28.04.1978; Aktenzeichen S 11 An 138/77)

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt als Rechtsnachfolgerin ihres bei der Beklagten versichert gewesenen verstorbenen Ehemannes noch Übergangsgeld für eine Zeit vor einer Rehabilitationsmaßnahme (§ 18 d Abs 1 Satz 2 Angestelltenversicherungsgesetz -AVG-).

Der Versicherte war seit Beendigung seiner letzten Beschäftigung im September 1973 erwerbsunfähig. Er erhielt von der Beklagten drei Heilverfahren und Übergangsgeld für deren Dauer. Ferner gewährte ihm die Beklagte aufgrund eines im Februar 1976 gestellten Rentenantrages für die Zeit nach dem dritten Heilverfahren Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und gemäß § 18 Abs 1 Satz 2 AVG Übergangsgeld für die Zeit vom 1. Februar 1976 bis zum Beginn dieses Heilverfahrens am 26. Oktober 1976 (Bescheid vom 4. Februar 1977).

Mit dem hiergegen eingelegten Widerspruch machte der Versicherte geltend, ihm stehe auch für die Zeit vom 1. Mai 1975 bis zum Beginn des zweiten Heilverfahrens am 10. Dezember 1975 Übergangsgeld zu, da sein am 6.Mai 1975 gestellter Antrag auf Gewährung des zweiten Heilverfahrens gemäß § 18 d Abs 3 AVG als Rentenantrag gelte.

Die Beklagte wies den Widerspruch zurück, da der Heilverfahrensantrag durch Gewährung des Heilverfahrens verbraucht und somit seine Umdeutung in einen Rentenantrag nicht möglich sei.

Der Versicherte ist am 3. August 1977 verstorben. Seine mit ihm in häuslicher Gemeinschaft lebende Ehefrau hat als seine Rechtsnachfolgerin Klage erhoben. Diese blieb in beiden Vorinstanzen ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Aachen vom 28. April 1978; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Januar 1979). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, wenn einem Rehabilitationsantrag stattgegeben worden sei, lasse sich weder aus § 18 d Abs 3 AVG noch aus einer anderen Gesetzesbestimmung ein Anspruch auf vorgezogenes Übergangsgeld ableiten. Hätte der Gesetzgeber wirklich jeden Antrag auf Rehabilitation, den ein objektiv bereits Erwerbsunfähiger oder Berufsunfähiger stelle, als fiktiven Rentenantrag gelten lassen wollen, dann würde die ausdrücklich genannte Voraussetzung "ganz und gar unnütz", es dürfe nicht zu erwarten sein, daß die Erwerbsfähigkeit erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden könne.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt die Klägerin,

unter Abänderung der Urteile der Vorinstanzen und der Bescheide vom 4. Februar und 28. Juli 1977 die Beklagte zu verurteilen, ihr als Rechtsnachfolgerin des Versicherten für die Zeit vom 1. Juli bis zum 10. Dezember 1975 Übergangsgeld zu gewähren.

Den Anspruch auf Übergangsgeld für die Zeit vom 1. Mai bis zum 30. Juni 1975 macht sie nicht mehr geltend, da der Versicherte damals noch Krankengeld bezogen habe. Im übrigen führt sie zur Begründung ihrer Revision aus, wenn die angegriffenen Urteile richtig wären, müßte man allen Personen, die noch nicht genau wüßten, ob eine Rehabilitationsmaßnahme erfolgreich sein werde, raten, gegen den Willen des Gesetzgebers lieber sofort einen Rentenantrag als einen Rehabilitationsantrag zu stellen. Die Auslegung durch das LSG verstoße zudem gegen Art 3 Grundgesetz (GG); wer in Zukunft wieder arbeiten wolle, dürfe nicht schlechter gestellt werden als derjenige, der diesen Willen von vornherein nicht kundtue. Darüber hinaus zeige gerade ihr Fall, daß sonst eine echte Versorgungslücke entstehe.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist begründet. Ihr steht als Rechtsnachfolgerin ihres Mannes der - nur noch für die Zeit vom 1. Juli bis zum 10. Dezember 1975 geltend gemachte - Anspruch auf Übergangsgeld aufgrund von § 18 d Abs 1 Satz 2 AVG zu, weil bei Anwendung dieser Bestimmung entgegen der Ansicht der Vorinstanzen und der Beklagten der im Februar 1975 gestellte Rehabilitationsantrag gemäß § 18 d Abs 3 AVG als Rentenantrag gilt.

Nach § 18 d Abs 3 AVG gilt der Antrag auf Rehabilitation als Antrag auf Rente, wenn der Versicherte berufsunfähig oder erwerbsunfähig und nicht zu erwarten ist, daß die Erwerbsfähigkeit erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann. Gedacht ist dabei an eine Beeinflussung durch die in §§ 13 ff AVG genannten Rehabilitationsleistungen; diese Leistungen des Versicherungsträgers setzen nach § 13 Abs 1 AVG nämlich voraus, daß durch sie die Erwerbsfähigkeit des Versicherten voraussichtlich erhalten, wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann.

Hiernach scheinen Wortlaut und Zusammenhang beider Vorschriften (§§ 13 Abs 1, 18 d Abs 3 AVG) darauf hinzudeuten, daß die Fiktion des Rentenantrages nur Platz greifen soll, wenn der Versicherungsträger Rehabilitationsleistungen ablehnen muß. Gleichwohl führt eine Gesamtbetrachtung aller für die Auslegung dieser Vorschriften bedeutsamen Umstände zu dem Ergebnis, daß auch bei einer bewilligten, zunächst versuchten, dann aber fehlgeschlagenen Rehabilitation der Rentenantrag als gestellt zu gelten hat. Für diese Auslegung hat sich bereits der 3. Senat in seinem den Beteiligten bekannten Urteil vom 10. Oktober 1979 - 3 RK 25/79 - ausgesprochen. Dem schließt sich der erkennende Senat auch in Kenntnis abweichender Stimmen des Schrifttums (vgl ua Friederichs, SV 1979, 256) im Ergebnis an.

Dabei hat der Senat zunächst berücksichtigt, daß der Wortlaut des § 18 d Abs 3 AVG eine Ablehnung des Rehabilitationsantrages nicht als Tatbestandsmerkmal enthält. Die dort verwendeten Worte "nicht zu erwarten ist" deuten allerdings auf eine im Zeitpunkt der Antragstellung, spätestens der Antragsbescheidung zu treffende Prognose hin. Die Rechtsprechung hat aber schon in anderem Zusammenhang bei der Überprüfung von Prognosen eine Berücksichtigung der späteren tatsächlichen Entwicklung nicht schlechthin ausgeschlossen (vgl zB BSGE 37, 163, 171 und SozR 4100 § 36 Nr 16). Der Wortlaut des § 18 d Abs 3 AVG muß demnach nicht der Auslegung entgegenstehen, daß ein Rehabilitationsantrag bei Fortbestand von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit auch dann als Rentenantrag gilt, wenn wider ursprüngliches Erwarten die auf den Rehabilitationsantrag eingeleitete Rehabilitationsmaßnahme erfolglos geblieben ist.

Für eine Auslegung des § 18 d Abs 3 AVG in diesem Sinne spricht die Entstehungsgeschichte. So heißt es in der Regierungsbegründung (BT-Drucks 7/1237 auf S 64, dort im Zusammenhang mit § 183 Abs 7 Reichsversicherungsordnung -RVO-): "Nur wenn die Erwerbsfähigkeit nicht wiederhergestellt werden kann, gilt der Antrag auf Rehabilitation nach § 1241 d Abs 3 RVO als Antrag auf Rente". Diese Begründung stellt deutlich nicht auf die Ablehnung des Rehabilitationsantrages und nicht einmal auf eine vorherige negative Prognose, sondern allein darauf ab, daß die Erwerbsfähigkeit (tatsächlich)nicht wiederhergestellt werden kann.

Vor allem sprechen Sinn und Zweck der Norm mit erheblichem Gewicht für diese Auslegung, wie schon der 3.Senat hervorgehoben hat. Die Antragsfiktion soll Behinderte vor Nachteilen bewahren, wenn sie entsprechend dem Grundsatz "Rehabilitation vor Rente" (§ 7 Rehabilitations- Angleichungsgesetz -RehaAnglG- ) zunächst nur ihre Rehabilitation und nicht (bzw nicht auch) Rente beantragen. Der Gesetzgeber will, daß sie sich zunächst ganz auf ihre Rückführung in das Erwerbsleben einstellen und das Rentendenken zurückdrängen (vgl Begründung zu § 7, BT-Drucks 7/1237 S 56). Dem würde es widersprechen, wenn Behinderte zur Wahrung ihrer Interessen gehalten wären, vorsorglich - für den Fall, daß die Rehabilitation wider Erwarten keinen Erfolg haben sollte - zugleich mit dem Rehabilitationsantrag Rentenantrag zu stellen; eine derart kombinierte Antragstellung wäre ihnen rechtlich jedenfalls nicht verwehrt. Bei der einengenden Auslegung des § 18 d Abs 3 AVG würde nämlich ein Behinderter, der nur Rehabilitation beantragt hat, kein Übergangsgeld für die Zeit bis zur Stellung (auch) des Rentenantrages erhalten, ohne daß dies durch Sachgründe geboten wäre und in der gewährten Rehabilitationsmaßnahme einen Ausgleich fände.

Dem steht nicht entgegen, daß ein berufsunfähiger bzw erwerbsunfähiger Behinderter im Falle der Wiederherstellung seiner Erwerbsfähigkeit für die hier streitige Zwischenzeit keinen Anspruch auf Übergangsgeld hat, weil zur Anwendung des § 18 d Abs 3 AVG die in dieser Zeit noch bestehende Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit allein nicht genügt (damit erweist sich entgegen der Meinung des LSG das weitere Tatbestandsmerkmal gerade nicht als unnütz). Denn dafür ist nicht die Auslegung seines Antrages, sondern die Wiederherstellung seiner Erwerbsfähigkeit als sachlicher Grund maßgebend. Insoweit ist zu berücksichtigen, daß nach § 53 AVG bei vorübergehender Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit ebenfalls für eine Zwischenzeit (hier von 26 Wochen) kein Anspruch auf Rente besteht. Der Kläger hebt daher zutreffend im Hinblick auf Art 3 GG hervor, es sei kein Grund ersichtlich, den Behinderten, der noch arbeiten wolle und der deshalb zunächst - wenn auch erfolglos - seine Rehabilitation versuche, schlechter zu stellen als denjenigen, der sogleich Rente beantragt.

Das gilt jedenfalls, wenn der Versicherte keinen Anspruch auf Krankengeld hat oder das Krankengeld geringer als das Übergangsgeld ist. Im übrigen wäre der vom Gesetzgeber gewollte Vorrang der Rehabilitation auch dann gefährdet, wenn die Krankenversicherung mit ihren Leistungen die Versorgungslücke füllen kann. Denn bei einer einengenden Auslegung des § 18 d Abs 3 AVG könnten sich dann Träger der Krankenversicherung zur Erreichung eines Anspruchsübergangs nach § 183 Abs 3 und 4 der RVO veranlaßt sehen, den Versicherten nicht nur zu einem Rehabilitationsantrag aufzufordern, sondern ihm zugleich die Stellung eines Rentenantrages nahezulegen (vgl Sonnenschein, Mitteilungen LVA Rheinprovinz 1979, 187 ff und SGb 1979, 373 ff). Damit würde wiederum dem Rentendenken Vorschub geleistet.

Der Einwand des Rentenversicherungsträgers, einer "Umdeutung" des Rehabilitationsantrages stehe dessen Verbrauch mit Bewilligung der Rehabilitation entgegen, ist demgegenüber nicht stichhaltig. Dabei wird übersehen, daß § 18 d Abs 3 AVG nicht die Umdeutung eines (nicht verbrauchten) Rehabilitationsantrages vorsieht. Der ursprüngliche Charakter des Rehabilitationsantrages bleibt ohne Rücksicht darauf erhalten, ob diesem Antrag stattgegeben wird oder nicht. § 18 d Abs 3 AVG mißt dem Rehabilitationsantrag unter den dort genannten Voraussetzungen vielmehr zusätzlich fiktiv ("gilt") die Bedeutung eines Rentenantrages bei. Dem kann ein "Verbrauch" des Antrages nicht entgegenstehen. Im übrigen müßte die Beklagte auch bei einer Ablehnung des Rehabilitationsantrages den Antrag als verbraucht und somit von ihrem Standpunkt aus als nicht mehr "umdeutungsfähig" erachten.

Durchgreifende Bedenken ergeben sich ferner nicht aus der Befürchtung der Beklagten, bei der hier vertretenen Auslegung entstehe stets ein weit in die Vergangenheit zurückreichender und entsprechend schwer zu klärender Widerspruch zwischen ärztlichen Beurteilungen; auch im Verhältnis zu anderen Vorschriften führe eine solche Regelung nur zu Unstimmigkeiten. Die Beklagte übersieht, daß in der Regel nach Abschluß einer Rehabilitationsmaßnahme die Frage nach deren Erfolg oder Mißerfolg leichter zu beantworten ist als die Frage, ob bei Bewilligung der Rehabilitationsmaßnahme diese angezeigt war. Gerade wenn nicht auf den Mißerfolg der Maßnahme, sondern (dem Wortlaut entsprechend) auf eine Prognose abgestellt würde, wären Widersprüche zwischen ärztlichen Beurteilungen zu erwarten. Im übrigen würden derartige Schwierigkeiten auch dann auftreten, wenn die Antragsfiktion nicht Platz greifen würde, und der Versicherte deshalb vorsorglich zugleich mit dem Rehabilitationsantrag Rentenantrag stellt.

Schließlich nötigt auch der Hinweis der Beklagten zu keiner anderen Beurteilung, der Behinderte könne ein Interesse daran haben, trotz eingetretener Erwerbsunfähigkeit keinen Rentenantrag zu stellen, etwa im Hinblick auf ein bestehendes Arbeitsverhältnis oder einen (höheren) Krankengeldanspruch für die Zeit bis zu dessen Aussteuerung. Denn das aufgezeigte Interesse besteht unabhängig davon, ob die Rehabilitationsmaßnahme abgelehnt wurde (dann gilt auch nach Ansicht der Beklagten die Antragsfiktion) oder ob die Maßnahme erfolglos durchgeführt wurde. Zudem wird die Antragsfiktion in beiden Fällen (sowohl bei abgelehnter als auch bei erfolgloser Rehabilitationsmaßnahme) dahin einzuschränken sein, daß sie jedenfalls dann nicht gilt, wenn der Behinderte zur Wahrung der aufgezeigten Interessen erklärt, daß der Rehabilitationsantrag in seinem Falle nicht zugleich als Rentenantrag gelten soll. Die Dispositionsbefugnis über die Antragstellung muß dem Versicherten insoweit erhalten bleiben. Seine Interessen werden damit aber bei der weiten Auslegung der Antragsfiktion umfassender gewahrt als bei der von der Beklagten vertretenen einengenden Auslegung.

Die Revision der Klägerin mußte daher Erfolg in dem im Tenor dieses Urteils ausgesprochenen Sinne haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1656658

Breith. 1980, 954

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