Leitsatz (amtlich)

1. Zum Verhältnis von Nr 3 und Nr 4 in RVO § 1744 Abs 1.

2. Gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt kann der Versicherungsträger in eine neue Prüfung nach RVO § 1744 Abs 1 Nr 4 nur eintreten, wenn wegen des hier genannten Sachverhalts ("wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen") eine strafrechtliche Entscheidung iS von Abs 2 Nr 1 oder Nr 2 ergangen ist.

 

Leitsatz (redaktionell)

Trotz strafgerichtlicher Verurteilung der Witwe des Versicherten gemäß StGB § 216 (Tötung des Versicherten auf dessen Verlangen) darf der zugunsten der Witwe ergangene und bereits endgültig gewordene Rentenbescheid nicht nach RVO § 1744 Abs 1 Nr 6 wiederaufgehoben werden, falls der Versicherungsträger von dem Strafurteil gegen die Witwe erfährt.

Eine Berufung auf BGB § 826 kommt für den Versicherungsträger gleichfalls nicht ohne weiteres in Betracht.

 

Orientierungssatz

1. Zur Frage der Anwendbarkeit des RVO § 1277 Abs 1 S 2.

2. Zur Frage, wann der Tatbestand des RVO § 1744 Abs 1 Nr 6 erfüllt ist.

 

Normenkette

RVO § 1744 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03, Nr. 4 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1953-09-03, § 1277 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-02-23; StGB § 216; BGB § 826

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. April 1968 und das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 23. November 1966 aufgehoben.

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres im November 1965 erlassenen Bescheides verurteilt, der Klägerin die Witwenrente gemäß dem Bescheid vom 2. Juli 1964 zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

Streitig ist, ob die Beklagte berechtigt war, den der Klägerin erteilten Rentenbescheid wieder aufzuheben und ihr die bereits bindend bewilligten Leistungen zu versagen.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) beantragte die Klägerin, Witwe des am 21. Dezember 1963 verstorbenen Versicherten F S, am 7. Januar 1964 die Gewährung der Hinterbliebenenrente. Als Todesursache gab sie im Antragsvordruck "Schlaganfall" an. Die Beklagte, der die näheren Umstände des Todesfalles nicht bekannt waren, gewährte mit Bescheid vom 2. Juli 1964 der Klägerin vom 1. Dezember 1963 an die Witwenrente in Höhe von 284,60 DM monatlich. Der Bescheid wurde bindend.

Durch Urteil des Schwurgerichts Tübingen vom 7. Juli 1965 wurde die Klägerin wegen eines Vergehens der Tötung auf Verlangen (§ 216 des Strafgesetzbuches - StGB -), begangen an dem Versicherten, rechtskräftig zu einer Gefängnisstrafe von neun Monaten - mit Bewährung - verurteilt. Das Schwurgericht stellte fest, die Klägerin habe ihren Ehemann vorsätzlich durch pflichtwidriges Unterlassen getötet; sie habe keinen Arzt gerufen, nachdem der Ehemann in selbstmörderischer Absicht eine Überdosis von Schlafmitteln eingenommen und die Klägerin ernsthaft gebeten hatte, sie möge nichts zu seiner Rettung tun, sondern ihn sterben lassen.

Die Beklagte hob nach dem Bekanntwerden dieser Verurteilung durch Bescheid (ohne Datum, wahrscheinlich im November 1965) den Witwenrentenbescheid vom 2. Juli 1964 auf und lehnte den Antrag der Klägerin auf Witwenrente ab: Hinterbliebene hätten keinen Anspruch auf Rente, wenn sie den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt hätten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -); die wissentlich falsche Angabe der Klägerin im Rentenantrag, der Versicherte sei an einem Schlaganfall verstorben, sei ursächlich für den Erlaß des Witwenrentenbescheides gewesen; nach § 1744 Abs. 1 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei sie, die Beklagte, berechtigt, die Voraussetzungen für die Rentengewährung neu zu prüfen.

Die Klage, mit der die Klägerin die Aufhebung dieses Bescheides und die Gewährung der Witwenrente begehrte, weil weder die Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Satz 2 AVG noch diejenigen des § 1744 RVO gegeben seien, wurde vom Sozialgericht (SG) Reutlingen abgewiesen (Urteil vom 23. November 1966). Das LSG wies die Berufung der Klägerin - unter Zulassung der Revision - zurück: Die Beklagte habe den rechtsverbindlich gewordenen Witwenrentenbescheid zurücknehmen und die Gewährung der Leistungen versagen dürfen. § 1744 RVO bedürfe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) einer ausdehnenden Auslegung. Im vorliegenden Fall müßten allerdings die Tatbestände der Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 5 im Absatz 1 dieser Vorschrift ausscheiden, auch lasse sich der Sachverhalt nicht unter Nr. 6 bringen, weil mit dem Schwurgerichtsurteil nur der Nachweis dafür geführt werden könne, daß die Klägerin an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Strafe rechtskräftig verurteilt worden sei, was für die Anwendbarkeit dieser Gesetzesstelle nicht ausreiche. Etwas anderes gelte jedoch für Nr. 3 und Nr. 4 des § 1744 Abs. 1 RVO. Zwar sei weder die strafbare Handlung, derentwegen die Klägerin rechtskräftig verurteilt worden sei, auf den Erlaß des Rentenbewilligungsbescheides gerichtet gewesen, noch sei die Klägerin wegen eines Tatbestandes der Nr. 4, nämlich wegen ihrer falschen Angabe und ihres vorsätzlichen Verschweigens von Tatsachen im Rentenantrag, rechtskräftig verurteilt worden. Gleichwohl führe aber die sinngemäße Auslegung von Nr. 3 und Nr. 4 zur Anwendbarkeit dieser Vorschriften. Die beiden Tatbestände unterschieden sich dadurch, daß bei Nr. 4 (anders als bei Nr. 3) die strafbare Handlung nicht auf den Erlaß des Rentenbescheides gerichtet sein müsse; es genüge hier vielmehr, wenn die strafbare Handlung für den Erlaß des Bescheides wesentlich gewesen und vom Beteiligten gegenüber dem Versicherungsträger verschwiegen worden sei. Erforderlich sei nur, daß die falschen Behauptungen bzw. das vorsätzliche Verschweigen von Tatsachen den Versicherungsträger zum Erlaß seines Bescheides veranlaßt hätten. Dabei habe das Strafgerichtsurteil, das nach § 1744 Abs. 2 Nr. 1 RVO vorliegen müsse, Tatbestandswirkung; die Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hätten nicht zu prüfen und zu entscheiden, ob die Beurteilung durch das Strafgericht zu Recht erfolgt ist. Im vorliegenden Fall sei die strafbare und rechtskräftig abgeurteilte Handlung des Tötungsdelikts nach § 216 StGB für den Erlaß des Rentenbewilligungsbescheides wesentlich gewesen, denn sie habe den Eintritt des Versicherungsfalles und damit eine Voraussetzung für den Bewilligungsbescheid geschaffen. Die unrichtige Angabe der Klägerin über die Todesursache und das Verschweigen des wahren Sachverhalts seien für den Erlaß des Bewilligungsbescheides ebenfalls wesentlich gewesen. Damit seien die Voraussetzungen des § 1744 RVO erfüllt gewesen. Die Beklagte hätte danach den Rentenbewilligungsbescheid zurücknehmen und die Rechtslage neu prüfen dürfen. Der rechtskräftig abgeurteilte Tatbestand des § 216 StGB erfülle auch den Tatbestand des § 54 Abs. 1 Satz 2 AVG. Die Beklagte sei deshalb berechtigt, die Rente zu versagen (Urteil vom 30. April 1968).

Mit der Revision beantragt die Klägerin, die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten - IVb 10/317 S 64 - aufzuheben und ihr die Witwenrente zuzusprechen. Sie rügt die Verletzung des § 1744 RVO. Das LSG habe zu Unrecht die Voraussetzungen dieser Vorschrift als gegeben angesehen; in Wirklichkeit habe die Beklagte den Rentenbewilligungsbescheid nicht zurücknehmen dürfen.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.

Die Revision ist zulässig und begründet; die Beklagte war nicht berechtigt, die Voraussetzungen für die Gewährung der Witwenrente neu zu prüfen und aufgrund dieser Prüfung die Leistung an die Klägerin zu versagen.

Die Beklagte hat zwar in Unkenntnis der Vorgänge, die zum Tode des Versicherten geführt haben, bei der Entscheidung über den Rentenantrag der Klägerin die Anwendbarkeit des § 54 Abs. 1 Satz 2 AVG nicht geprüft. Nach dieser Vorschrift haben Hinterbliebene keinen Anspruch auf die Rente, wenn sie den Tod des Versicherten, d.h. den Versicherungsfall, vorsätzlich herbeigeführt haben. Wer sich durch vorsätzliche Tötung des Versicherten selbst zum Hinterbliebenen macht, soll keine Rente erhalten. Der Senat braucht aber nicht zu entscheiden, ob das Verhalten der Klägerin beim Ableben des Versicherten diese Voraussetzungen erfüllt, ob sie insbesondere vom Schwurgericht mit Recht wegen eines Vergehens der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) verurteilt worden ist oder ob sie sich mit ihrem Verhalten, wie sie im vorliegenden Rechtsstreit geltend macht, nur eines Vergehens der unterlassenen Hilfeleistung (§ 330c StGB) schuldig gemacht hat (vgl. zu dieser auch in der Rechtsprechung der Strafgerichte und in der Literatur umstrittenen Frage BGHSt 2, 152; 13, 162, 166; LG Berlin in JR 1967, 269 mit Anmerkung von Dreher; LG Bonn in MDR 1968, 66 mit Anmerkung von Pochler ; Schönke/Schröder, Anmerkung 12 zu § 216 StGB; Gallas in JZ 1960, 688). Ebenso kann es offen bleiben, ob auch eine vorsätzlich und rechtswidrig unterlassene Hilfeleistung mit Todesfolge zur Anwendung des § 54 Abs. 1 Satz 2 AVG führen kann. Selbst wenn das Verhalten der Klägerin die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllte und es deshalb feststünde, daß ihr die Witwenrente entgegen dem materiellen Recht zugesprochen worden ist, kann der im Wiederaufnahmeverfahren ergangene Bescheid der Beklagten keinen Bestand haben.

Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, konnte die Beklagte den Bescheid, mit dem sie nach dem Tode des Versicherten die Witwenrente bewilligt hatte, wegen der nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) eingetretenen formellen und materiellen Bindungswirkung und in Ermangelung sonstiger Aufhebungsgründe zuungunsten der Klägerin nur dann aufheben, wenn eine der in § 1744 RVO (§ 204 AVG) genannten besonderen Voraussetzungen gegeben war (BSG 14, 10, 13; 15, 252, 256; 18, 84, 90; SozR Nr. 17 zu § 381 RVO). Von den in Absatz 1 dieser Vorschrift genannten Tatbeständen scheiden bei dem gegebenen Sachverhalt von vornherein die Nummern 1, 2 und 5 aus; das LSG hat ferner zutreffend ausgeführt, daß auch der Tatbestand der Nr. 6 nicht erfüllt wird. Danach kann gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt eines Versicherungsträgers eine neue Prüfung beantragt oder vorgenommen werden, wenn ein Beteiligter nachträglich eine Urkunde, die einen ihm günstigeren Verwaltungsakt herbeigeführt haben würde, auffindet oder zu benützen instand gesetzt wird. Wie das LSG nicht verkannt hat, kann auch ein gerichtliches Urteil eine in diesem Sinn nachträglich aufgefundene Urkunde sein. Jedoch lassen sich durch das nach der Rentenbewilligung ergangene Schwurgerichtsurteil die Geschehnisse, auf die es hier ankommt, nicht urkundlich beweisen. Zwar gibt es urkundlichen Aufschluß darüber, daß die Klägerin an einem bestimmten Tage wegen eines Vergehens der Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB, begangen an ihrem Ehemann, rechtskräftig bestraft wurde; es beurkundet ferner die Angaben, welche die Klägerin, die Zeugen und die Sachverständigen im Strafverfahren über den Tathergang gemacht haben, und die vom Schwurgericht dazu getroffenen Feststellungen. Es beweist aber nicht urkundlich - worauf es hier ankommt -, daß die Klägerin den Tod des Versicherten vorsätzlich herbeigeführt hat, sondern nur, daß sie wegen einer solchen Tat rechtskräftig verurteilt worden ist. Dies reicht aber nicht aus, um § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO anzuwenden (vgl. Entscheidung des RVA Nr. 4505, AN 1932 IV 496 und das zu § 179 SGG, § 580 Nr. 7b ZPO ergangene Urteil vom 14. November 1968 - 10 RV 471/65 -, abgedruckt in SozR Nr. 3 zu § 580 ZPO). Auch entfällt die Anwendung der Vorschrift deshalb, weil sie nach dem Wortlaut ("nachträglich auffinden") und dem Sinn des Gesetzes nur solche Urkunden betrifft, die vor dem Eintritt der Bindungswirkung des Bescheides errichtet sind (BSG 6, 283, 286; vgl. auch § 42 Abs. 1 Nr. 9 VerwVG; ferner Tannen in Sgb 1961, 104). Zwar läßt die Rechtsprechung für das gerichtliche Restitutionsverfahren nach der ähnlich gefaßten Vorschrift in § 580 Nr. 7 Buchstb. b der Zivilprozeßordnung - ZPO - (§ 179 SGG) Ausnahmen für solche Urkunden zu, "die ihrer Natur nach nicht im zeitlichen Zusammenhang mit den durch sie bezeugten Tatsachen errichtet werden können und die deshalb, wenn sie errichtet werden, Tatsachen beweisen, die einer zurückliegenden Zeit angehören", was insbesondere für nachträglich ausgestellte Personenstandsurkunden gilt (BSG 18, 186, 188 und die hier angegebene Rechtsprechung des RG und des BGH). Ein solcher Ausnahmefall liegt aber, auch wenn man es für zulässig hält, die Grundsätze dieser Rechtsprechung auf die Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens nach § 1744 Abs. 1 Nr. 6 RVO zu erstrecken, nicht vor, weil das Schwurgerichtsurteil, wie bereits ausgeführt, als Urkunde nur die Tatsache der Verurteilung beweist und nicht die Tatsachen, derentwegen es ergangen ist.

Zu Unrecht hat aber das LSG die Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens nach § 1744 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 RVO als erfüllt angesehen. Danach kann der Versicherungsträger gegenüber einem bindenden Verwaltungsakt in eine neue Prüfung eintreten, wenn ein Beteiligter oder sein Vertreter den Verwaltungsakt durch eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung erwirkt hat (Nr. 3) oder wenn ein Beteiligter Tatsachen, die für den Erlaß des Verwaltungsaktes von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen hat (Nr. 4). Eine falsche Tatsachenbehauptung im Sinne der Nr. 4 hat das LSG mit Recht in der Angabe der Klägerin im Rentenantrag gesehen, der Versicherte sei an einem Schlaganfall, also an einer natürlichen Todesart, verstorben. Jedoch macht § 1744 Abs. 2 RVO in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 4 die Zulässigkeit einer neuen Prüfung durch den Versicherungsträger weiterhin davon abhängig, daß entweder "wegen der strafbaren Handlung eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung ergangen ist" oder "ein gerichtliches Strafverfahren aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweisen nicht eingeleitet oder nicht durchgeführt werden konnte". Der Umstand, daß bereits § 1744 Abs. 1 Nr. 3 RVO jede strafbare Handlung als Wiederaufnahmegrund erfaßt, läßt es, wie das LSG richtig erkannt hat, fraglich erscheinen, inwiefern sich die beiden Tatbestände voneinander unterscheiden, ob insbesondere Nr. 4 der Vorschrift gegenüber Nr. 3 eine eigene, besondere Bedeutung hat. Jedoch kann der Unterschied zwischen den beiden Vorschriften entgegen der Auffassung des LSG nicht darin gesehen werden, daß Nr. 4 (anders als Nr. 3) irgendeine nicht auf den Erlaß des Rentenbescheides gerichtete strafbare Handlung - hier ein Vergehen nach § 216 StGB - voraussetzt und diese Tat dem Versicherungsträger gegenüber verschwiegen worden ist. Wie sich aus dem Wortlaut und dem Zusammenhang der Regelung des § 1744 RVO ergibt, beziehen sich die Worte "wegen der strafbaren Handlung" in Absatz 2 nur auf die in Absatz 1 Nr. 1 bis 4 ausdrücklich genannten Tatbestände, hier also auf die Worte in Nr. 4 "wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen". Nur wenn in einer solchen in bezug auf das Ergebnis des Rentenverfahrens begangenen Täuschungshandlung eine strafbare Handlung liegt, kommt eine neue Prüfung nach § 1744 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 2 RVO in Betracht. Dies folgt auch aus einem Vergleich mit der dieser Vorschrift entsprechenden Vorschrift in § 179 Abs. 2 SGG. Hier ist die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil beendeten Verfahrens für den Fall vorgesehen, daß ein Beteiligter strafgerichtlich verurteilt worden ist, weil er Tatsachen, die für die Entscheidung des Rechtsstreits von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen hat (Prozeßbetrug). Auch hier genügt also nicht die Verurteilung wegen einer Straftat, die außerhalb des in der Vorschrift genannten Sachverhalts liegt.

§ 1744 Abs. 1 Nr. 4 RVO deckt sich hiernach zum großen Teil mit Nr. 3 derselben Vorschrift, weil ein in der vorsätzlich falschen Angabe oder in dem wissentlichen Verschweigen von Tatsachen liegender Betrug (§ 263 StGB) bereits von Nr. 3 erfaßt wird. Es ist deshalb schon erwogen worden, ob der Wiederaufnahmegrund der Nr. 4 im Unterschied zu dem der Nr. 3 etwa keine strafbare Handlung voraussetzt und das Gesetz die Anwendung des Absatzes 2 auf die Fälle des Absatzes 1 Nr. 4 nur versehentlich vorgeschrieben hat (vgl. Urteil vom 30. Juni 1961 - 2 RU 151/59 -). Für eine solche Annahme könnte die ähnliche Regelung der Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens im Recht der Kriegsopferversorgung sprechen. Nach § 42 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) vom 2. Mai 1955 (BGBl I 202) kann die Versorgungsbehörde auf Antrag oder von Amts wegen neu entscheiden, wenn u.a. Tatsachen, die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung waren, wissentlich falsch angegeben oder verschwiegen worden sind (Nr. 3) oder wenn die Entscheidung durch eine mit gerichtlicher Strafe bedrohte Handlung erwirkt worden ist (Nr. 6). Während aber die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Tatbestand in § 42 Abs. 1 Nr. 6 VerwVG nach Absatz 2 dieser Vorschrift weiter davon abhängt, daß eine gerichtliche Bestrafung erfolgt ist oder nur aus besonderen Gründen nicht durchgeführt werden kann, ist die gleiche Einschränkung für den Tatbestand in Nr. 3, der demjenigen in § 1744 Abs. 1 Nr. 4 RVO gleicht, nicht gemacht. Jedoch mag der Gesetzgeber für die unterschiedliche Regelung solcher Fälle im Recht der Kriegsopferversorgung und im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung Gründe gehabt haben, die mit dem besonderen Vertrauensschutz für bindend gewordene Bescheide im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung zusammenhängen und die es nicht zulassen, daß Rentenbescheide, auch wenn sie durch wissentlich falsche Tatsachenangaben eines Beteiligten (Versicherten, Hinterbliebenen, Rechtsnachfolger) beeinflußt worden sind, korrigiert werden, wenn und solange nicht eine strafgerichtliche Verurteilung wegen der Täuschungshandlung erfolgt ist oder die Nichtdurchführbarkeit eines Strafverfahrens aus anderen als Beweisgründen feststeht. Der insoweit eindeutige Wortlaut des § 1744 Abs. 2 RVO, der dem § 581 Abs. 1 ZPO entspricht, läßt eine andere Auslegung der Vorschrift in § 1744 Abs. 1 Nr. 4 RVO nicht zu.

Die Klägerin ist nach den Feststellungen des LSG vom Schwurgericht zwar wegen eines Vergehens der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB), nicht aber wegen ihrer falschen Tatsachenangaben im Rentenantrag bestraft worden. Die Voraussetzungen des § 1744 Abs. 2 Nr. 1 RVO sind daher nicht gegeben. Ob ein Strafverfahren wegen dieser Handlung künftig etwa noch durchgeführt werden kann oder ob die Einleitung eines solchen aus anderen als Beweisgründen - etwa wegen Verjährung oder Geringfügigkeit - nicht möglich ist, vermag der Senat nicht zu beurteilen. Der aus der falschen Angabe der Klägerin hergeleitete Wiederaufnahmegrund kann aber nicht geltend gemacht werden, solange ein Strafverfahren möglicherweise noch eingeleitet werden kann (vgl. BGHZ 5, 299; Pickel in WzS 1969, 161, 164). Zum Nachweis, daß die Voraussetzungen des § 1744 Abs. 2 Nr. 2 RVO vorliegen, genügt die Erklärung der zuständigen Staatsanwaltschaft, daß sie das Verfahren aus anderen Gründen als wegen Mangels an Beweisen nicht durchführen kann (Baumbach/Lauterbach, Anmerkung 1 zu § 581 ZPO). Solange den Erfordernissen aus § 1744 Abs. 2 RVO nicht genügt ist, muß aber eine neue Prüfung des Rentenanspruchs wegen der Handlungsweise der Klägerin bei der Stellung des Rentenantrages unterbleiben. Der im Wiederaufnahmeverfahren ergangene Bescheid der Beklagten ist unrechtmäßig und aufzuheben.

Die Beklagte kann der Klägerin die Leistungen aus dem hiernach wiederherzustellenden Rentenbescheid vom 2. Juli 1964 auch nicht mit dem Einwand der unzulässigen Rechtsausübung (§ 826 BGB) versagen, falls davon auszugehen wäre, daß das Verhalten der Klägerin beim Ableben des Versicherten die Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Satz 2 AVG erfüllt. Zwar hat das ehemalige Reichsversicherungsamt (RVA) in einem ähnlich liegenden Streitfall entschieden, aus der rechtskräftigen Feststellung eines Rentenanspruchs könnten dann keine Rechte hergeleitet werden, wenn die Feststellung arglistig erschlichen worden sei. Es sei unbillig und mit dem "gesunden Rechtsempfinden" nicht vereinbar, wenn es keinen Weg gäbe, einer offenbar verwerflichen und arglistigen Handlungsweise mit Erfolg entgegenzutreten und eine durch solches Handeln erschlichene Rente, die den Versicherungsträger unrechtmäßig und zum Nachteil der übrigen Versicherten belaste, wieder abzuerkennen. Es hat deshalb die Grundsätze, die das frühere Reichsgericht (RG) über den Wegfall der Rechtskraftwirkung für den Fall entwickelt hat, daß das Urteil in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise zu Unrecht erwirkt wurde (u.a. RGZ 155, 55; 156, 269), auch gegenüber einem in der gesetzlichen Rentenversicherung ergangenen Bescheid des Versicherungsträgers für anwendbar erklärt (Entscheidung Nr. 5374, AN 1940 II 219). Dies erscheint verständlich, wenn man berücksichtigt, daß die Bescheide der Versicherungsträger in der gesetzlichen Rentenversicherung nach dem damaligen Recht erstinstanzliche Entscheidungen darstellten und als solche der materiellen Rechtskraft voll fähig waren (BSG 5, 96, 98; 7, 276). Fraglich ist jedoch, ob die genannten Grundsätze des RG, die der Bundesgerichtshof (BGH) in mehreren Urteilen fortgeführt hat (BGHZ 13, 72 und 26, 391; NJW 1968, 1275), auch auf bindend gewordene Verwaltungsakte angewandt und damit die in § 77 SGG bestimmte Bindungswirkung beseitigt werden kann (vgl. hierzu BSG 7, 152, 156 und 18, 92; ferner Breithaupt 1966, 306) oder ob eine solche Handhabung in rechtlich unzulässiger Weise die Regelung des § 1744 RVO umginge (vgl. Schindera, Rückforderungs- und Schadensersatzansprüche der Unfallversicherungsträger bei Betrugshandlungen in SozVers 1969, 144). Einer Entscheidung dieser Frage bedarf es jedoch im vorliegenden Rechtsstreit nicht. Denn die genannten Grundsätze der zivilprozessualen Rechtsprechung - übertragen auf das Verwaltungsverfahren des Versicherungsträgers - setzen voraus, daß entweder der bindende Bescheid erschlichen ist oder daß dem von dem Bescheid Gebrauch machenden Beteiligten die Unrichtigkeit des Bescheides bekannt ist und besondere Umstände hinzutreten, die dessen Ausnutzung als sittenwidrig erscheinen lassen. Der Senat kann aber nicht feststellen, daß diese Voraussetzungen bei der Klägerin gegeben sind. Sie hat zwar im Antragsvordruck als Ursache des Todes des Versicherten das Wort "Schlaganfall" angegeben; es trifft auch zu, daß ihr die Unrichtigkeit und Unvollständigkeit dieser Angabe bekannt gewesen sind. Es steht ferner fest, daß die Entscheidung des Versicherungsträgers durch diese Angabe bzw. durch das Verschweigen der wahren Todesursache beeinflußt worden ist. Solange aber eine strafrechtliche Klärung des Sachverhalts nicht stattgefunden hat, wie sie § 1744 Abs. 2 Nr. 1 RVO (§ 204 AVG) für Fälle dieser Art vorsieht, fehlt es an sicheren Anhaltspunkten für die Annahme, daß die Klägerin die Ursache des Todes des Versicherten im Antragsvordruck deshalb unrichtig bezeichnet hat, weil sie wußte, daß sie anderenfalls nicht in den Genuß der Hinterbliebenenrente gelangen werde. Ohne Hinzutritt so schwerwiegender Umstände (bewußte Täuschung des Versicherungsträgers) ist es auch nicht sittenwidrig, wenn sich die Klägerin auf die Bindungswirkung des Rentenbescheides beruft, obwohl ihr - jedenfalls seit dem Wiederaufnahmeverfahren der Beklagten - bekannt ist, daß der Bescheid - möglicherweise - nicht der materiellen Rechtslage entspricht. Die Beklagte, die sich übrigens bisher auf die Grundsätze der zivilrechtlichen Rechtsprechung nicht ausdrücklich berufen hat, kann von ihnen schon aus diesen Gründen keinen Gebrauch machen.

Die von einer gegenteiligen Rechtsmeinung ausgehenden Urteile des LSG und des SG müssen aufgehoben werden, ebenso der Wiederaufnahmebescheid der Beklagten vom November 1965. Die Beklagte muß verurteilt werden, der Klägerin die Leistungen aus dem Bescheid vom 2. Juli 1964 zukommen zu lassen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 99

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge