Orientierungssatz

1. Im sozialgerichtlichen Verfahren sind psychologische Gutachten nicht als Beweismittel ausgeschlossen.

2. Ein Gutachten ist unvollständig und entzieht sich dadurch der Würdigung durch das Gericht, wenn außer allgemein nicht bekannter Abkürzungen keine weiteren Angaben über den Untersuchungsablauf bzw über durchgeführte Testverfahren vorhanden sind.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. September 1974 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Das Landessozialgericht (LSG) hat den Kläger als berufsunfähig angesehen und die Beklagte deshalb verurteilt, an ihn die Versichertenrente zu zahlen (Urteil vom 12. September 1974).

In den Gründen des Urteils ist u. a. ausgeführt, der Kläger sei in der Vergangenheit als Waldfacharbeiter beschäftigt gewesen. Neben der Prüfung als Waldfacharbeiter habe er sowohl einen Lehrgang für Motorsägenführer als auch einen solchen für Haumeister erfolgreich absolviert. Wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls sei er nicht mehr in der Lage, seinen Beruf als Waldfacharbeiter auszuüben. Es gebe auch keine andere - ihm zumutbare - Tätigkeit, auf die er verwiesen werden könne. Es mangele ihm insoweit an Kenntnissen und Fähigkeiten. Seine Intelligenz reiche nicht aus, eine neue, für ihn in Betracht kommende Tätigkeit zu erlernen. Das LSG hat seine Entscheidung - wie die Urteilsgründe ausweisen - u. a. auf ein psychologisches Gutachten der Dipl.-Psychologin C gestützt.

Die Revision ist vom LSG nicht zugelassen worden, die Beklagte hat das Rechtsmittel gleichwohl eingelegt.

Sie rügt, das Urteil des Berufungsgerichts sei verfahrensrechtswidrig zustande gekommen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Revision der Beklagten ist zulässig.

Das LSG hat gegen § 128 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen. Hiernach entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es darf die Grenzen des Rechts auf freie Beweiswürdigung nicht überschreiten. Dies ist in dem vorliegenden Fall dadurch geschehen, daß das Gutachten der Dipl.-Psychologin C verwertet wurde. Zwar sind im sozialgerichtlichen Verfahren psychologische Gutachten nicht schlechthin als Beweismittel ausgeschlossen; das vorbezeichnete Gutachten durfte jedoch so, wie es dem LSG vorlag, nicht der Entscheidung zugrunde gelegt werden. Es ist in wesentlichen Punkten unvollständig und entzieht sich dadurch einer Würdigung durch das Gericht. Die Sachverständige bezeichnet in ihrem Gutachten zunächst - unter Verwendung nicht allgemein bekannter Abkürzungen - die Testverfahren, die sie mit dem Kläger durchgeführt hat. Zur Anwendung kamen hiernach folgende Testverfahren in nachstehender Reihenfolge: "Meldung I - LPS 1-14 - FPI - D 2 - SPM - MPI - Meldung II - IST RA - IST ME -". - Sie schildert dann, daß der Kläger sich zwar bemüht habe, dem Untersuchungsverlauf zu folgen, daß ihm die Bearbeitung auch sehr einfacher Testverfahren jedoch schwergefallen sei. Wegen seiner Schmerzen im rechten Handgelenk hätten öfter als üblich Pausen eingelegt werden müssen. Seine mangelnde Auffassungsgabe habe dazu geführt, daß Instruktionen in vereinfachter Form hätten dargeboten werden müssen. Einige Untersuchungsverfahren, die Überblick und differenziertes Denken verlangten, hätten nicht durchgeführt werden können. Anschließend folgen die Ergebnisse der Testverfahren. Hier heißt es im wesentlichen, daß eine generelle Intelligenzschwäche festgestellt worden sei. Der Kläger sei nicht in der Lage, formallogische Gedankengänge nachzuvollziehen. Es könne nicht damit gerechnet werden, daß er neue Lerninhalte so verarbeite, wie es eine betriebliche Anlernmaßnahme erfordere. Es fehle an einer geistigen Beweglichkeit und Umstellfähigkeit. Eine ausreichende Basis schulischer Grundlagenkenntnisse sei nicht mehr vorhanden. Der Kläger sei weitgehend konzentrationsunfähig. Es fehle ihm die Möglichkeit, sich geistig anzuspannen. Die Fähigkeit zum Neulernen sei mangelhaft. - Die Sachverständige führt weiter aus, es seien 12 Eigenschaftsdimensionen des Klägers erfaßt worden, nämlich

"1.

Psychosomatische Gestörtheit versus Ungestörtheit

2.

Aggressivität versus Beherrschtheit

3.

Depressivität versus Selbstzufriedenheit

4.

Erregbarkeit versus ruhiges Verhalten

5.

Lebhaftigkeit versus Zurückhaltung

6.

Gelassenheit versus Irritierbarkeit

7.

Dominanzstreben versus Nachgiebigkeit

8.

Gehemmtheit versus Kontaktfähigkeit

9.

Offenheit versus Verschlossenheit

10.

Extraversion versus Introversion

11.

Emotionale Labilität versus emotionale Stabilität

12.

Neurotische Tendenz versus normal".

Die vom Gericht an sie gestellten Fragen beantwortet die Sachverständige dahingehend, daß der Kläger nach Wissen und Können nicht in der Lage sei, berufsfremde Überwachungs- oder Kontrollfunktionen auszuüben oder zu erlernen. Die Ausübung einer berufsfremden Tätigkeit in dem vorbezeichneten Sinne würde sich "in sehr rasch einsetzenden Monotoniezuständen" niederschlagen, die zu einer verminderten Reaktionsfähigkeit und zum Absinken der Leistung führen würden.

Aus dieser Darstellung des Gutachtens ergibt sich, daß die Sachverständige es unterlassen hat, die Tatsachen und Geschehensabläufe, die zu der von ihr abgegebenen Beurteilung geführt haben, im einzelnen zu schildern. Außer einer kurzen - wegen der Verwendung von Abkürzungen weitgehend unverständlichen - Aufzählung der einzelnen Testverfahren, besteht das Gutachten lediglich aus den von der Sachverständigen gewonnenen Ergebnissen und Schlußfolgerungen. Das LSG hat diese Schlußfolgerungen übernommen, ohne eine eigene Beweiswürdigung vorzunehmen. Zu einer eigenen Würdigung war das Berufungsgericht auch nicht in der Lage, weil das Gutachten dies im Hinblick auf seine Unvollständigkeit nicht zuläßt. Das Tatsachengericht kann seine Verpflichtung, die Beweise zu würdigen, nur dann erfüllen, wenn die Tatsachen und Geschehensabläufe, die zu den von dem Sachverständigen gewonnenen Ergebnissen geführt haben, der Beurteilung durch das Gericht zugänglich sind. Sonst tritt der Sachverständige im Ergebnis an die Stelle des Richters. Der Umstand, daß der Richter auf dem Spezialgebiet des Sachverständigen häufig keine oder nur geringe Kenntnisse besitzen mag, entbindet ihn nicht von der Pflicht zur Beweiswürdigung auch auf solchen Gebieten. Im Zusammenhang mit dem psychologischen Gutachten hat eine solche Beweiswürdigung nicht stattgefunden, sie hat auch nicht stattfinden können.

Dieser Verstoß gegen § 128 SGG ist von der Beklagten, die sich schon vor dem LSG gegen die Verwertung des Gutachtens in der vorliegenden Form gewandt hat, ordnungsgemäß gerügt worden; er führt zur Zulässigkeit der Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 2, § 164 Abs. 2 SGG).

Die Revision ist auch begründet.

Es ist nicht auszuschließen, daß das LSG bei Beachtung der vorstehenden Gesichtspunkte - evtl. nach Stellungnahmen seitens der Beteiligten - zu einem anderen, für die Beklagte günstigen Ergebnis gelangt wäre.

Das angefochtene Urteil muß daher aufgehoben, der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

In dem neuen Verfahren wird das LSG die Sachverständige veranlassen müssen, die tatsächlichen Grundlagen, die zu den von ihr gewonnenen Ergebnissen geführt haben, in einer solchen Weise darzulegen, daß das Gutachten in seiner Gesamtheit überprüft und gewürdigt werden kann. Den Beteiligten muß die Möglichkeit einer Stellungnahme gegeben werden.

Das LSG wird sodann auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651071

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