Leitsatz (amtlich)

Ein Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung, der von einer Erstattung nach G 131 § 74 nicht erfaßt worden ist, weil die Beteiligten von seiner Entrichtung erst nach Abschluß des Erstattungsverfahrens erfahren haben, kann - abweichend von der allgemein für Beitragserstattungen geltenden Rechtsfolge (RVO § 1303 Abs 7; vergleiche BSG 1957-05-22 1 RA 132/55 = BSGE 5, 153) - Grundlage für die Anrechnung einer Versicherungszeit sein, zB als "Brückenbeiträge" (RVO § 1249) dienen.

 

Normenkette

G131 § 74 Fassung: 1953-09-01, § 74 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1957-09-11; RVO § 1445c Abs. 3 Fassung: 1924-12-15, § 1249 Fassung: 1957-02-23, § 1424 Fassung: 1957-02-23, § 1303 Abs. 5 Fassung: 1957-02-23, Abs. 7 Fassung: 1957-02-23, § 1309a Abs. 3

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Mai 1964 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird um die Gewährung einer Witwenrente geführt. Die beklagte Landesversicherungsanstalt hat es abgelehnt, einem Beitrag, der von einer Beitragserstattung nach § 74 des Gesetzes zu Art. 131 GG (G 131) nicht erfaßt wurde, weil seine Existenz den Beteiligten s. Zt. nicht bekannt war, nach Abschluß des Erstattungsverfahrens anspruchsbegründende Bedeutung beizumessen. Die Klägerin möchte dagegen diesen - im Beitragskonto verbliebenen - Beitrag als Grundlage für die Anrechnung von Versicherungszeiten vor 1924, also als sogenannten Brückenbeitrag, gewertet wissen.

Der Ehemann der Klägerin war im Jahre 1919 zum Beamten ernannt worden. Vorher hatte er in der Invalidenversicherung Beitrags- und Ersatzzeiten von 130 Monaten zurückgelegt. Nach dem staatlichen Zusammenbruch im Jahre 1945 war er wieder versicherungspflichtig beschäftigt; Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung wurden abgeführt. Die Arbeitnehmeranteile dieser Beiträge ließ er sich 1953 erstatten. Erst später - nach dem Tode des Versicherten im Jahre 1954 - stellte sich heraus, daß außer den erstatteten Beiträgen ein weiterer Beitrag für Juli 1945 aufgewendet worden war. Im Hinblick auf diesen Beitrag sei - so nimmt die Klägerin an - die Anwartschaft aus den vor dem 1. Januar 1924 erbrachten Versicherungszeiten von 130 Monaten gemäß § 1249 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (i. V. m. Art. 2 §§ 8, 17 ArVNG) erhalten. Sie erstrebt deshalb die Bewilligung einer Witwenrente. Ihren Antrag hat die Beklagte jedoch abgelehnt. Sie hält das Versicherungsverhältnis für erloschen. Diese Wirkung folge ihres Erachtens aus der - wenn auch unvollständigen - Beitragserstattung. Die Klägerin könne lediglich noch den halben Gegenwert für den nicht erstatteten Beitrag verlangen (Bescheid vom 22. Mai 1958).

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen; das Landessozialgericht (LSG) ihr stattgegeben. Es nimmt an, die Beitragserstattung nach § 74 G 131 schließe die Geltendmachung von Rechten nur aus den erstatteten Beiträgen, nicht aber aus allen bis zur Erstattung entrichteten Beiträgen aus. Das folge aus der Bindungswirkung des über die Erstattung ergangenen Verwaltungsaktes (Urteil vom 8. Mai 1964).

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Sie vermag sich mit dem Berufungsurteil deshalb nicht abzufinden, weil es die umfassende Wirkung einer Beitragserstattung verkenne. Der Versicherte habe seinen Erstattungsantrag nicht auf einen Teil der Beiträge beschränkt und auch nicht beschränken können. Selbst wenn aber eine solche Beschränkung rechtlich möglich gewesen sein sollte, so sei sie nur bis zur Abwicklung des Erstattungsgeschäfts zulässig gewesen (vgl. BSG 10, 257). Nach Erlaß des mit dem Antrag übereinstimmenden Erstattungsbescheides - und dieser Bescheid habe sich ersichtlich auf sämtliche rückzahlbaren Beiträge beziehen wollen - könne eine Antragsbeschränkung nicht mehr gestattet sein. Das Versicherungsverhältnis sei vielmehr erloschen.

Die Klägerin beantragt in erster Linie, die Revision als unzulässig zu verwerfen; hilfsweise, das Rechtsmittel zurückzuweisen. Sie meint, das LSG habe lediglich über eine Tatsache zu entscheiden brauchen, nämlich darüber, ob für Juli 1945 ein Beitrag entrichtet und nicht erstattet worden sei. Über eine Rechtsfrage habe es nicht befinden müssen. Infolgedessen habe für die Zulassung der Revision kein Anlaß bestanden. Deshalb sei auch das Revisionsgericht an den dies betreffenden Ausspruch des Berufungsgerichts nicht gebunden.

Die Revision ist zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -. Das Berufungsgericht hat das Rechtsmittel nicht offenbar gesetzwidrig eröffnet, und es hat nicht ohne Grund angenommen, daß über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden ist. Dies ergeben die Gründe, die der Berufungsrichter seiner Entscheidung gegeben hat. Ein Fall, der den Gedanken aufkommen ließe, der Berufungsrichter habe dem Sinn einer Rechtsmittelzulassung eindeutig zuwider gehandelt, liegt nicht vor.

Die Revision ist aber unbegründet.

Das LSG hat zutreffend angenommen, daß im Streitfalle die Wartezeit aus anwartschaftlich erhaltenen Beiträgen erfüllt ist. Hierfür ist es erheblich, daß der für den Monat Juli 1945 entrichtete Beitrag voll wirksam geblieben ist. Daran hat die Beitragserstattung gemäß § 74 G 131 (in der Fassung vom 1. September 1953 - BGBl I, 1287) nichts geändert.

Was das Gesetz zu Artikel 131 GG unter dem Begriff Erstattung versteht und welche Rechtsfolgen es damit verbindet, ist in ihm nicht erläutert. Das Gesetz begnügt sich im wesentlichen damit auszusprechen, daß die Erstattung von Pflichtbeiträgen sich nur auf die Arbeitnehmeranteile bezieht und daß eine Erstattung unterbleibt, sofern aus der Versicherung Leistungen erbracht worden sind. In dieser Beziehung schloß sich § 74 G 131 in seinen älteren - hier maßgeblichen - Fassungen an die Regelung an, die seinerzeit in § 1445 c Abs. 3 RVO aF für die Rückforderung zu Unrecht entrichteter Beiträge getroffen war. Diese Regelung untersagte eine Rückgewähr von Beiträgen, wenn "aus diesen ... eine Leistung bewilligt worden war." Die Fassung, die § 74 Abs. 1 Satz 2 G 131 im Jahre 1957 (BGBl I, 1297) erhalten hat, stimmt indessen nicht mehr mit dem - jetzt die Rückforderung betreffenden - § 1424 Abs. 3 RVO überein, sondern übernimmt wörtlich die entsprechende Bestimmung für Beitragserstattungen in § 1303 Abs. 5 RVO nF. Danach können nur noch die "später" - nach Bezug der Leistung - entrichteten Beiträge zurückverlangt werden. Ältere Beiträge haben also selbst dann unberücksichtigt zu bleiben, wenn sie sich in einer Leistung nicht niederschlugen. Aus der aufgezeigten Gesetzesentwicklung und Gegenüberstellung von Vorschriften des Gesetzes zu Art. 131 GG mit solchen der RVO läßt sich jedoch kein sicherer Anhalt für die Interpretation gewinnen; dies um so weniger, als auch der damals geltende Text der RVO keine feste, sich immer gleichbleibende Terminologie aufwies; so spricht selbst § 1445 c Abs. 4 RVO aF von dem "Rückerstattungsanspruch" und meint nichts anderes als die Rückforderung.

Die Parallele zur Beitragserstattung liegt jedoch näher als die zur Rückforderung. Das Wort "erstatten" wird nicht ohne Bedacht benutzt worden sein. Zum Unterschied hiervon werden denn auch in der späteren Fassung des G 131 daneben die Worte "zurückzahlen" (§ 72 a Abs. 1 Satz 4 und 5) und "zurückfordern" (§ 73 Abs. 1) verwendet. In dem einen Zusammenhang fehlte die Versicherungspflicht oder Versicherungsberechtigung von Anbeginn an und im anderen Falle wurde dem Versicherungsverhältnis kraft rückwirkenden Hoheitsakts der Boden entzogen. Mit § 74 G 131 hat der Gesetzgeber die Versicherungspflicht nicht rückwirkend aufgehoben, obgleich er die nach dem 8. Mai 1945 zurückgelegten Versicherungszeiten als ruhegehaltsfähige Dienstzeiten im beamtenrechtlichen Sinne anerkannt und damit einen Tatbestand unterstellt hat, der an sich wegen Gewährleistung beamtenrechtlicher Versorgung die Versicherungsfreiheit begründete (vgl. § 169 RVO; § 1234 RVO aF). Trotz Verleihung des Rechtsstandes als Beamter zur Wiederverwendung blieb das Versicherungsverhältnis bestehen; aus den Beiträgen darf nur eine Erstattung verlangt werden (vgl. BSG 10, 257). So ist denn auch § 74 Abs. 3 G 131 zu verstehen, in dem ohne weitere Bedingung angeordnet wird, daß damals verwendete und nachher nicht erstattete Beiträge als freiwillige Beiträge "gelten". Mit dieser Vorschrift geht das Gesetz zu Art. 131 GG über die korrespondierende Norm des § 1446 RVO aF hinaus. Denn dort werden zu Unrecht entrichtete und nicht zurückerbetene Beiträge nur dann als freiwillige Beiträge zugelassen, wenn außerdem in der Zeit ihrer Entrichtung das Recht zur Selbst- oder Weiterversicherung bestand. Die abweichende Regelung in § 74 G 131 erklärt sich eben daraus, daß - im Gegensatz zu dort - das Beitragsgrundverhältnis, wie es wegen der Unsicherheit der Rechtslage für die Beamten zur Wiederverwendung nach 1945 bestand, nicht angetastet worden ist, sondern unmittelbar von Gesetzes wegen gegeben blieb. Gleichwohl ist es nicht angezeigt, die im Gesetz zu Art. 131 GG selbst nicht angeordneten Rechtsfolgen der Beitragserstattung aus dem allgemeinen Rechtsinstitut gleichen Namens (§ 1309 a RVO aF, §§ 1303, 1304 RVO nF) abzuleiten. Das gebieten weder der Gebrauch des Begriffs "erstatten" noch gewisse Einzelzüge der Regelung des § 74 G 131. Hätte man die Wirkungen einer Beitragserstattung aus den angeführten allgemeinen Vorschriften auf § 74 G 131 zu übernehmen, dann könnte die Klägerin allerdings aus dem einen seinerzeit nicht zurückgezahlten Beitragsanteil keine leistungsbegründende Rechte herleiten. Denn die Erstattung schlösse "weitere Ansprüche aus den bisher zurückgelegten Versicherungszeiten" aus (§ 1303 Abs. 7 RVO). Dies hätte nicht nur für die ausgezahlten Beiträge, sondern für alle vorher aufgewendeten Beiträge überhaupt zu gelten. Das macht § 1303 RVO schon damit deutlich, daß er zwar eine Beitragserstattung nur aus den nach dem Währungsstichtag (20. Juni 1948) erbrachten Beiträgen gestattet, aber die versicherungsrechtlichen Ansprüche aus allen früheren Beiträgen erlöschen läßt. Hiervon kann auch für eine unvollständige Erfüllung der Erstattungsschuld keine Ausnahme gemacht werden (vgl. BSG 5, 153). Daraus kann uU lediglich eine Nachforderung begründet sein.

Diese weittragende Folgerung kann jedoch an die Beitragserstattung gemäß § 74 G 131 nicht geknüpft werden. Ausdrücklich schließt diese Gesetzesbestimmung Versicherungsansprüche nicht ebenso wie § 1309 a Abs. 5 RVO aF oder § 1303 Abs. 7 RVO nF aus. Diese Vorschrift enthält vielmehr in bezug auf die Voraussetzungen und den Umfang der Beitragserstattung eine in sich geschlossene Regelung, die eine stillschweigende Verweisung auf die allgemeinen Vorschriften über die Beitragserstattung nur insoweit einbezieht, als sich dies aus ihrem Wortsinn dem engeren Zusammenhang, in dem sie steht, dem ihr zugrunde liegenden Beweggrund und dem mit ihr erkennbar verfolgten Zweck ergibt. Diese für die Gesetzesauslegung maßgebenden Hilfsmittel geben jedoch weder in der einen noch in der anderen Richtung einen sicheren Fingerzeig. Die besondere Interessenlage der unter das Gesetz zu Art. 131 fallenden Personen läßt es als denkbar erscheinen, daß der Gesetzgeber in ihrem Falle die Wirkungen einer Beitragserstattung abweichend von der allgemeinen Regelung gestalten wollte. Dem Beamten zur Wiederverwendung konnte sehr wohl daran gelegen sein, sich neben seiner beamtenrechtlichen Versorgung die zusätzliche Sicherung seiner Rentenversicherung zu erhalten. Häufig wird er sogar durch die Beiträge, von deren Erstattung § 74 G 131 handelt, eine erloschene Anwartschaft aus zurückliegenden Versicherungszeiten wieder erworben haben. Um sich diese Anwartschaft zu erhalten, konnte sich sein Interesse gerade auf die für den Fortbestand der Versicherung benötigten Beiträge konzentrieren. Die Möglichkeit der beschränkten Beitragserstattung vermochte durchaus einem praktischen Bedürfnis zu entsprechen. Daß der Gesetzgeber diese Möglichkeit neben der Alternativlösung zwischen restloser Beitragserstattung oder völlig unangetastetem Versicherungsbestande einräumen wollte, muß in Rechnung gestellt werden; jedenfalls ist dies nicht auszuschließen (im Ergebnis ebenso: Anders, Gesetz zu Art. 131 GG, 3. Aufl., Anm. 2 zu § 74 S. 316). Dem nicht erstatteten Beitrag kann deshalb eine anwartschaftssichernde Bedeutung zukommen.

Dieses Ergebnis wird nicht durch den Bescheid entkräftet, den die Beklagte im Jahre 1953 zur Beitragserstattung erließ. Welche Wirkungen und Tragweite einem solchen Bescheid damals generell beizumessen war, kann auf sich beruhen. Des weiteren kann unerörtert bleiben, ob im Zusammenhang mit § 74 G 131 die Verwaltungserleichterung des § 1309 a Abs. 3 RVO aF galt, wonach abweichend von § 1631 Abs. 1 RVO über die Beitragserstattung kein Feststellungsbescheid zu ergehen hatte. Keinesfalls sollte und konnte aber mit dem Bescheid eine Regelung getroffen werden, die von den gesetzlichen Rechtsfolgen abwich und über den konkreten Erstattungsvorgang hinaus in das Versicherungsverhältnis eingriff. In dem Bescheid hieß es zwar, und dabei bediente sich die Beklagte eines vorgedruckten Formulars, daß dem Ehemann der Klägerin "die für die Zeit nach dem 8. Mai 1945 bis zum 30. September 1951 zur Rentenversicherung entrichteten Arbeitnehmeranteile erstattet" würden; zugleich wurde aber auf die aus der Anlage zu ersehende "Berechnung des zu erstattenden Betrages" verwiesen. Der vollständige Inhalt der Verwaltungserklärung ergab sich also aus Bescheid und Anlage. Die letztere wich aber in mehrfacher Richtung von dem Text des Bescheides ab. Unerwähnt blieb im besonderen der Beitrag für Juli 1945. Das Beitragsguthaben, das zur Hälfte erstattet wurde, wurde genau nur in der Anlage nach Zeit und Höhe spezifiziert. Der Gesamtinhalt der abgegebenen Erklärungen war mithin nicht widerspruchsfrei. Um so mehr Gewicht kam deshalb der Anlage für die Auslegung zu, weil nur in ihr auf die Fallbesonderheiten eingegangen wurde. Damit waren aber die inhaltlichen Schranken des Bescheides auf die hier nicht interessierenden Beitragszeitabschnitte festgelegt. Der gegenwärtige Streit wird deshalb von der Regelung des Bescheides nicht berührt. Der seinerzeit gestellte Antrag auf Erstattung hat infolgedessen den im Juli 1945 entrichteten Beitrag nicht erreicht. Die Klägerin hält insoweit an dem Erstattungsverlangen heute nicht mehr fest.

Nach allem hat das Berufungsgericht zutreffend entschieden, daß dem für Juli 1945 wirksam entrichteten Beitrag die Bedeutung der Anwartschaftserhaltung für die vor dem 1. Januar 1924 zurückgelegten Versicherungszeiten zukommt. Da auch die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente erfüllt sind, ist der Klage zu Recht stattgegeben worden. Die Revision ist zurückzuweisen.

Die Pflicht der Beklagten zur Erstattung der Kosten des Revisionsverfahrens folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325464

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