Entscheidungsstichwort (Thema)
Berichtigung von Urteilen (SGG § 138). Heiratserstattung
Leitsatz (amtlich)
Es verstößt nicht gegen GG Art 14 Abs 1 und 3, daß durch die Heiratserstattung nach RVO § 1304 Abs 3 (Fassung: 1957-02-23) iVm RVO § 1303 Abs 7 sämtliche bis zur Heiratserstattung zurückgelegten Versicherungszeiten verfallen, obschon sich nach RVO § 1304 Abs 1 (Fassung: 1957-02-23) die Heiratserstattung auf die Beiträge beschränkt, die für die Zeit nach dem 1948-06-20 entrichtet sind.
Orientierungssatz
1. Es stellt kein einem Schreib- oder Rechenfehler oder einer ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit vergleichbares Versehen iS von § 138 SGG dar, wenn ein Urteil nur über eine Berufung, nicht aber über eine ebenfalls zugelassene Sprungrevision belehrt.
2. Durch den Erstattungsantrag wird nicht ein beim Rentenversicherungsträger aufgelaufenes Beitragsguthaben aufgelöst, sondern das gesamte Versicherungsverhältnis rückwirkend gelöscht.
3. Eine Heiratsbeitragserstattung ist mögliche Folge der durch die Ausübung des Gestaltungsrechts (Antrags auf Heiratsbeitragserstattung) der verheirateten Versicherten bewirkten Löschung des bisherigen Versicherungsverhältnisses. Die Auflösung des Versicherungsverhältnisses setzt demgemäß eine Beitragserstattung nicht voraus.
Normenkette
RVO § 1304 Abs 1 Fassung: 1957-02-23, § 1304 Abs 3 Fassung: 1957-02-23, § 1303 Abs 7 Fassung: 1957-02-23; GG Art 14 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 14 Abs 3 Fassung: 1949-05-23; SGG § 138 S 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
SG Kiel (Entscheidung vom 14.06.1979; Aktenzeichen S 5 J 5/79) |
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung von Beitragszeiten, die vor einer Heiratserstattung liegen.
Die 1920 geborene Klägerin, ab 1935 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen, beantragte nach ihrer ersten Verheiratung bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) am 12. Mai 1961 Erstattung der Beiträge wegen Heirat für die Zeit "nach dem 20. Juni 1948" und erklärte, ihr sei "bekannt, daß die Erstattung weitere Ansprüche aus allen bisher zurückgelegten Versicherungszeiten ... ausschließt". Dem Antrag entsprach die Beklagte und erstattete für die Zeit vom 21. Juni 1948 bis 30. April 1961 Beiträge im Betrag von 1684,50 DM (Bescheid vom 27. Oktober 1961).
Unter dem 18. Januar 1977 erstellte die Beklagte einen Versicherungsverlauf der Klägerin, in dem Beiträge für die Zeit vor dem 21. Juni 1948 nicht enthalten sind.
Die Gegenvorstellungen der Klägerin wies die Beklagte mit dem streitbefangenen Bescheid vom 27. Mai 1977 zurück und führte aus, aus den vor dem 1. Mai 1961 - Antrag auf Heiratserstattung - zurückgelegten Versicherungszeiten seien Ansprüche ausgeschlossen. Den Widerspruch der Klägerin hiergegen wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 1978).
Mit dem angefochtenen Urteil vom 14. Juni 1979 hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen und ausgeführt: Der Rechtsbehelf sei statthaft, aber unzulässig. Der Bescheid der Beklagten über die Bewilligung der Heiratserstattung habe weitere Ansprüche aus den bis 1961 gezahlten Beiträgen ausgeschlossen. Dieser Bescheid sei auch nicht gemäß § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) abzuändern. Eine Eigentumsgarantie sei nicht verletzt; jeder Eigentümer könne sein Eigentum zu dem Preis veräußern, den er für richtig halte. Mit der Heiratserstattung verbundene Nachteile bezweckten, dem Versicherten den Versicherungsschutz zu erhalten, und entsprächen daher den Grundsätzen eines sozialen Rechtsstaates. Die Menschenwürde (Art 1 des Grundgesetzes -GG-) sei nicht verletzt, weil jedermann auch Verfügungen treffen könne, die für ihn ungünstig seien.
Gegen dieses Urteil hat das SG die Berufung und die Revision zugelassen, es jedoch nur mit einer Berufungsbelehrung versehen.
Hiergegen richtet sich mit schriftlicher Zustimmung der Beklagten die Revision der Klägerin. Sie führt aus, ihren Antrag auf Beitragserstattung von 1961 fechte sie nunmehr wegen Irrtums an. Im übrigen sage das Gesetz nicht, was nach einer Beitragserstattung mit den vor dem 21. Juni 1948 entrichteten Beiträgen geschehen solle. Ihren Antrag habe sie außerdem auf die Zeit vom 21. Juni 1948 bis 30. April 1961 beschränkt.Die Auffassung der Beklagten verstoße gegen Art 1 bis 3 GG; gegen Art 1, weil sich die Beklagte der Währungsumstellung 10 : 1 entziehe und sozialrechtliche Ansprüche ohne jegliche Entschädigung beseitige; gegen Art 3, weil aus Anlaß der Heirat erstattete Pflichtbeiträge vor dem 21. Juni 1948 und solche nach dem 20. Juni 1948 nicht verschieden behandelt werden dürften. Es sei nicht Absicht des Gesetzgebers gewesen, die Zeiten vor der Währungsreform erstattungslos zu löschen, weil dies sonst einer durch Art 14 GG verbotenen entschädigungslosen Enteignung gleichkomme.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil des Sozialgerichts aufzuheben
und entsprechend in dem Vorverfahren gestellten
Anträgen zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Beide Beteiligte haben erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die mit schriftlicher Zustimmung der Beklagten am 13. November 1979 eingelegte Revision der Klägerin ist zulässig. Mit der Zustellung des angefochtenen Urteils am 4. August 1979 ist die Revisionsfrist gemäß § 66 Abs 1 SGG nicht in Lauf gesetzt worden, weil im Urteil zwar die Sprungrevision ausdrücklich zugelassen (§ 161 Abs 1 und 2 SGG), eine Belehrung über die Modalitäten dieses Rechtsmittels aber unterblieben ist. Der "Berichtigungsbeschluß" des SG vom 31. August 1979, zugestellt am 14. September 1979, konnte nicht auf den Zeitpunkt der Urteilszustellung zurückwirken; eine im Urteil unterlassene Rechtsmittelbelehrung entfaltet bereits mit der Urteilszustellung für den Beginn der Rechtsmittelfrist unaufhebbar die Wirkung des § 66 Abs 1 aaO. Im übrigen stellt es kein einem Schreib- oder Rechenfehler oder einer ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit vergleichbares Versehen im Sinne von § 138 SGG dar, wenn ein Urteil nur über eine Berufung, nicht aber über eine ebenfalls zugelassene Sprungrevision belehrt.
Das hiernach rechtzeitige Rechtsmittel der Klägerin ist in der Sache nicht begründet.
Die Klägerin begehrt sinngemäß die Vormerkung der von ihr von 1935 bis 20. Juni 1948 zurückgelegten Versicherungszeiten. Dem steht indessen § 1304 Abs 1 und 3 iVm § 1303 Abs 7 RVO idF des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I, 45), aufgehoben erst durch Art 1 § 1 Nr 26 des am 1. Januar 1968 in Kraft getretenen Finanzänderungsgesetzes (FinÄndG) vom 21. Dezember 1967 (BGBl I, 1259), entgegen. Danach schließt die Erstattung von Beiträgen wegen Heirat der Versicherten weitere Ansprüche "aus den bisher zurückgelegten Versicherungszeiten" aus. Diese "Verfallswirkung" sämtlicher bis zur Heiratserstattung zurückgelegten Versicherungszeiten ist auch bei Streichung des § 1304 RVO aF durch das FinÄndG nicht rückwirkend beseitigt worden. Die Übergangsvorschrift des Art 3 § 15 dieses Gesetzes hat im Gegenteil den Erstattungsantrag sogar noch bis zum 31. Januar 1968 für zulässig erklärt, ohne dessen Wirkungen aus §§ 1304 Abs 3 aF, 1303 Abs 7 RVO zu beschränken. Die Behauptung der Klägerin, der Gesetzgeber habe die Verfallswirkung der vor dem 21. Juni 1948 entrichteten Beiträge weder gesehen noch überhaupt geregelt, findet hiernach schon im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze (vgl dazu auch das Urteil des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1303 Nr 14 mit zahlreichen Nachweisen aus der einschlägigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG-). Im übrigen hat die Klägerin selbst im Antrag auf Heiratserstattung vom 12. Mai 1961 unterschriftlich versichert, ihr sei bekannt, "daß die Erstattung weitere Ansprüche aus allen bisher zurückgelegten Versicherungszeiten ausschließt", und zwar in Kenntnis des Umstandes, daß sich die Heiratserstattung nach § 1304 Abs 1 RVO aF auf die Beiträge beschränkt, "die für die Zeit nach dem 20. Juni 1948 ... entrichtet sind".
Wieweit ein Antrag auf Regelleistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung nach §§ 1613 Abs 1, 1235 Nr 4 RVO - hier der Antrag der Klägerin auf Heiratserstattung vom 12. Mai 1961 - nach §§ 119, 121, 143 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) wegen Irrtums überhaupt angefochten werden könnte, kann dahinstehen.
Als ein von der Klägerin nach Schluß der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz, nämlich erst in der Revisionsbegründung gesetzte Tatsache materiell-rechtlichen Gehalts ist die Anfechtung für das Revisionsgericht schon nach § 163 SGG unbeachtlich (vgl zB Meyer-Ladewig, SGG, § 163 Anm 4 und 5).
Die Klägerin behauptet die Verfassungswidrigkeit des "Verfalls" der vor dem 21. Juni 1948 zurückgelegten Versicherungszeiten mit der Begründung, ihr Erstattungsantrag 1961 habe zur Erstattung auch dieser Beiträge, und zwar nach der Währungsumstellung 1948 zumindest im Verhältnis 10 : 1 führen müssen. Wollte der Senat der Klägerin darin folgen, so würde dies das im gegenwärtigen Verfahren verfolgte Begehren auf Vormerkung anrechenbarer Versicherungszeiten nicht stützen: Nach Erstattung der für diese Zeit entrichteten Beiträge wären anrechenbare Beitragszeiten ebensowenig vorhanden wie auf Grund des von der Klägerin bekämpften Verfalls nach § 1304 Abs 3 aF iVm § 1303 Abs 7 RVO. Ihrer Argumentation, bei der Verfallswirkung handele es sich mangels einer Beitragserstattung für die strittige Zeit um eine verfassungswidrig entschädigungslose Enteignung (Art 14 Abs 3 GG) und in Verbindung damit um Verstöße gegen Art 1 und 3 GG, brauchte der Senat daher nur nachzugehen, wenn die Klägerin auch auf eine Beitragserstattung im weiteren Umfang als ihr von der Beklagten im Bescheid vom 27. Oktober 1961 bewilligt, antragen würde. Das ist nicht der Fall; die Klägerin macht die vor dem 21. Juni 1948 entrichteten Beiträge gerade und sehr wohl als weiterhin bestehend und wirksam geltend.
Der leistungsrechtliche Verfall von Beiträgen bei Heiratserstattung verstößt unter Zugrundelegung der zum Vorteil des Begehrens der Klägerin anzustellenden Prämisse, daß die für Zeiten vor dem 21. Juni 1948 entrichteten Beiträge nicht zu erstatten sind, nicht gegen Verfassungsrecht. Insbesondere liegt aus folgenden Gründen kein entschädigungsloser Eingriff in eigentumsähnliche Rentenanwartschaften vor:
Bei der Beitragserstattung handelt es sich um keine Rückzahlung ungültiger Beiträge, sondern - als Regelleistung der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 1235 Nr 4 RVO) - um die Auflösung eines ganzen Versicherungsverlaufs kraft Gestaltungsaktes (Antrages) der Versicherten mit der Folge, daß geleistete Beiträge sodann erstattet werden können (vgl dazu auch § 1425 Abs 1 RVO und BSGE 10, 127, 129; 41, 89, 90; BSG SozR Nr 14 und 15 zu § 1303 RVO). Durch den Erstattungsantrag wird also nicht ein beim Rentenversicherungsträger aufgelaufenes Beitragsguthaben aufgelöst, sondern das gesamte Versicherungsverhältnis rückwirkend gelöscht (so der erkennende Senat aaO in Übereinstimmung zB mit Hanow/Lehmann/Bogs, Rentenversicherung der Arbeiter, 5. Aufl, § 1303 RdNr 4 und Koch/Hartmann, AVG, 3. Aufl, § 82 Anm C). Die Frage, ob die Ausübung des Gestaltungsrechts das gesamte vor dem Erstattungsantrag liegende Versicherungsverhältnis auch dann auflöst, wenn das Gesetz - wie im Falle der Heiratserstattung an eine Versicherte - eine Beitragserstattung nur für einen Teil dieses Zeitraums erlaubt, ist bedenkenfrei zu bejahen. Die Beitragserstattung ist mögliche Folge der durch Ausübung des Gestaltungsrechts bewirkten Löschung des bisherigen Versicherungsverhältnisses; die Auflösung des Versicherungsverhältnisses setzt demgemäß eine Beitragserstattung nicht voraus. Der Antrag auf Heiratserstattung nach § 1304 Abs 1 RVO aF bewirkt die Auflösung des Versicherungsverhältnisses und damit in leistungsrechtlicher Hinsicht den Verfall der bis dahin zurückgelegten Versicherungszeiten unabhängig davon, wieweit der Gesetzgeber im Anschluß hieran und als Folge der rückwirkenden Löschung des Versicherungsverhältnisses eine Beitragserstattung zuläßt, obschon der Versicherungsträger bis dahin das Risiko des Eintritts des Versicherungs- und Leistungsfalles bereits getragen hat. Sollte, wie die Klägerin meint, der leistungsrechtliche Verfall der Versicherungszeiten einerseits und die Beitragserstattung andererseits nicht in einem mit Art 14 Abs 1 und 3 GG zu vereinbarenden Gleichgewicht stehen, so wäre dieser Ausgleich bei der Beitragserstattung und ihrem Umfang, nicht bei der Auflösung des Versicherungsverhältnisses als der direkten und unabänderbaren Wirkung der Ausübung des Gestaltungsrechts nach § 1304 Abs 1 RVO aF vorzunehmen. Ohne eine von der verheirateten Versicherten bewirkte Löschung des Versicherungsverhältnisses fehlte nach der Grundkonzeption des Gesetzgebers jeder Beitragserstattung aus Anlaß der Heirat die Grundlage schlechthin. Das im vorliegenden Verfahren allein streitige Begehren der Klägerin, ihre vor dem Antrag auf Heiratserstattung zurückgelegten Versicherungszeiten noch als wirksam und gültig vorzumerken, wird nach allem weder vom Gesetz, noch von den von ihr angeführten Vorschriften des GG gestützt.
Das Urteil des SG trifft hiernach zu, so daß die Revision der Klägerin hiergegen als unbegründet zurückzuweisen war.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§ 193 SGG).
Fundstellen