Orientierungssatz

1. Zur Frage der Verweisung eines Schneiders auf leichte Arbeiten im Rahmen der Prüfung der BU.

2. Zur Frage des Verfahrens bei Verwertung der Gerichtskunde durch das Tatsachengericht.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 62 Fassung: 1953-09-03, § 128 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Fassung: 1949-05-23

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 08.03.1977; Aktenzeichen L 5 Ar 202/76)

SG Würzburg (Entscheidung vom 01.04.1976; Aktenzeichen S 6 Ar 309/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird dos Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. März 1977 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Streit geht um die Erwerbs- und Berufsunfähigkeit des Klägers.

Der 1927 geborene Kläger, ein zuletzt als Zuschneider beschäftigt gewesener gelernter Schneider, erlitt 1970 einen Herzinfarkt. Die Beklagte gewährte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bis Mai 1975. Die vom Kläger beantragte Weitergewährung der Rente lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 15. Juli 1975 ab, weil er nicht mehr berufsunfähig sei.

Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Im angefochtenen Urteil vom 8. März 1977 führt das Landessozialgericht (LSG) aus, der Kläger könne noch leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen vollschichtig unter Ausschluß ua von Schichtarbeiten, Akkord- und Bandarbeiten und Arbeiten mit besonderer seelischgeistiger Beanspruchung verrichten. Der Kläger könne in kleineren und mittleren Betrieben noch im erlernten Beruf, als Änderungsschneider, Maßnehmer in Konfektionsbetrieben, Verkäufer in Bekleidungsgeschäften und auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt - in der Apparatebedienung, bei Schalt- und Führungsarbeiten in der mechanischen Produktion und in der Anlagenkontrolle - noch tätig sein.

Auf die Beschwerde hat der 5. Senat die Revision gegen dieses Urteil zugelassen (Beschluß vom 22. September 1977).

Der Kläger hat die Revision eingelegt. Er führt aus, er rüge verfahrensrechtlich eine Verletzung der §§ 62, 103, 106, 128 und 136 Abs 1 Nr 6 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Erkenntnis des LSG, er, der Kläger, könne trotz weitgehender Einschränkungen noch leichte Arbeiten im erlernten Beruf als Schneider ausführen, sei verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Das LSG gebe nicht an, woher es dieses Wissen habe. Es sei keineswegs offenkundig, daß zur Ausübung des Schneiderberufs die Fähigkeit zu leichter körperlicher Arbeit ausreiche. Sofern das Gericht seine "Gerichtskunde" in das Verfahren hätte einbringen wollen, hätte es zuvor die Beteiligten hierauf hinweisen und ihnen Gelegenheit geben müssen, sich zu den in anderen Verfahren gewonnenen Beweisergebnissen zu äußern. Soweit ihn das LSG auf Tätigkeiten eines Verkäufers verweise, fehlten Ausführungen über die hierzu erforderliche berufliche Qualifikation. Was die Verweisung auf Tätigkeiten in der Apparatebedienung in der mechanisierten Produktion und in anderen Bereichen des allgemeinen Arbeitsmarktes betreffe, so fehlten Feststellungen darüber, ob er, der Kläger, sich hierzu eigne und nicht wissens- und könnensmäßig überfordert werde. Ebenso verschweige das LSG, woher es wisse, daß es sich bei diesen Tätigkeiten um leichte Arbeiten handele, die nicht in Schichten und ohne besondere seelisch-geistige Beanspruchung ausgeübt werden könnten. Da das LSG hinsichtlich der beruflichen und körperlich-geistigen Anforderungen der von ihm ins Feld geführten Verweisungstätigkeiten offensichtlich über kein eigenes Wissen verfüge, hätte es sich gedrängt fühlen müssen, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Im übrigen habe das LSG auch sachlich-rechtlich § 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unrichtig ausgelegt und die Rechtsprechung insbesondere des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) mißachtet.

Der Kläger beantragt,

die angefochtene Entscheidung, das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 1. April 1976 sowie den Bescheid der Beklagten vom 15. Juli 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. Juni 1975 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu leisten,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffen.

II

Die Revision ist mit ihrem Hilfsantrag auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Nach dem nicht angegriffenen und damit für den erkennenden Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) kann der Kläger aus gesundheitlichen Gründen nur noch leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen mit der weiteren Einschränkung verrichten, daß Schichtarbeiten, Akkord- und Bandarbeiten sowie Arbeiten "mit besonderer seelisch-geistiger Beanspruchung" ausscheiden. Das LSG hat weiter schlüssig festgestellt, daß der vom Kläger erlernte Beruf eines Schneiders keine höheren - körperlichen und geistigen - Beanspruchungen stellt, so daß ihnen dieser trotzt des soeben dargestellten geminderten Leistungsvermögen genügen kann. Diese schlüssige Feststellung des LSG folgt daraus, daß das Gericht den Kläger sonst nicht auf Arbeiten im erlernten Beruf in kleineren und mittleren Schneiderbetrieben und auf die Tätigkeit eines Änderungsschneiders oder "Maßnehmers" in Konfektions- und Maßkonfektionsbetrieben verwiesen hätte. Diese Feststellungen des LSG hat der Kläger indessen gemäß §§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 SGG begründet angegriffen. Die Feststellung, daß selbst im mittleren Betrieben des Schneidergewerbes oder im Konfektions- und Maßkonfektionsbetrieben keine Schicht-, Akkord- und Bandarbeit verlange wird und keine "besonderen seelisch-geistigen Beanspruchungen" gestellt werden, hat das, LSG ohne Beweisaufnahme getroffen. Es scheint sich daher insoweit auf sein eigenes Sachwissen - Gerichtskunde - zu stützen. Eine Allgemeinkunde in Bezug auf die Tatsache, daß etwa in einem der gerade genannten Betriebe keine Schicht- oder Akkordarbeit verrichtet werden und daß - auch mit Rücksicht auf die in mittleren und in Konfektionsbetrieben mögliche (Teil-) Mechanisierung oder gar (Teil-)Automatisierung - keine besondere seelische und geistige Beanspruchung stattfindet, besteht sicher nicht. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG muß eine vom Tatsachengericht angenommene, eine Beweisaufnahme ersetzende Gerichtskunde in bezug auf bestimmte Tatsachen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden; geschieht dies nicht, liegt eine Verletzung des Anspruchs der Verfahrensbeteiligten auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes -GG-; § 62 SGG) und zugleich des § 128 Abs 2 SGG vor (vgl zB BSGE 22, 19 = SozR Nr 70 zu § 128 SGG; BSG SozR Nr 91 zu § 128 SGG; SozR 1500 § 62 Nr 2 und 3; Urteil des erkennenden Senats vom 15. März 1978 - 1/5 RJ 128/76 -; Urteil des 11. Senats des BSG vom 16. März 1978 - 11 RA 66/77). Weder dem angefochtenen Urteil noch den Streitakten des Berufungsgerichts ist zu entnehmen, daß das LSG in diesem Sinne verfahren wäre.

Nun hat das LSG den Kläger unter Verneinung von Berufsunfähigkeit (§ 1246 Abs 2 RVO) nicht nur auf Tätigkeiten in seinen bisherigen, erlernten Facharbeiterberuf als Schneider, sondern auch auf berufsfremde Tätigkeiten verwiesen. Aber auch insoweit sind schon die tatsächlichen Feststellungen verfahrensfehlerhaft. Schlüssig hat das LSG nämlich - durch entsprechende, nicht weiter begründete Verweisung des Klägers auf solche Tätigkeiten - ferner festgestellt, er genüge auch den gesundheitlichen und beruflichen Anforderungen im Beruf eines "Verkäufers in Herrenbekleidungsbetrieben und -Geschäften". Da für den Verkäufer eine gestufte Ausbildung bis zu drei Jahren vorgeschrieben ist (vgl das Verzeichnis der anerkannten Ausbildungsberufe, Ausgebe 1977, lfd Nr 100 und 255), kenn auch hier nicht im Sinne einer Allgemeinkunde davon ausgegangen werden, daß jeder sogar leistungsgeminderte Schneider den Anforderungen dieses Ausbildungsberufes genügen könnte. Sollte das LSG auch hier Anstelle einer Beweisaufnahme Gerichtskunde in Anspruch genommen haben, gilt das oben Gesagte entsprechen.

Soweit das LSG den Kläger schließlich auf gehobene Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes - Apparatbedienung, Schalt- und Führungsarbeiten in der mechanisierten Produktion, Anlagenkontrolle, Meßwarttätigkeiten - verwiesen hat, so trifft zwar zu, daß ein Facharbeiter nach der inzwischen gesicherten Rechtsprechung des 1., 4 und 5. Senats des BSG im Rahmen der Prüfung der Berufungsunfähigkeit nach § 1246 Abs. 2 RVO auf diejenigen ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden kann, die nach ihrer tariflichen Einstufung in die Gruppe mit dem "Leitberuf" des sonstigen Ausbildungsberufs (Anlernberufs) fallen (vgl zB BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; Urteile des BSG vom 24. Juni 4977 - 5 RJ 132/76, vom 22. September 1977 - 5 RJ 96/76, vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 81/77 und vom 15. März 1978 - 1/5 RJ 128/76). Indessen ist in Bezug auf die sogenannten leichten Maschinen-, Prüf- und Kontrolltätigkeiten vorweg zu beachten, daß die einfacheren von ihnen nach ihrer tariflichen Bewertung häufig nicht in die Gruppe der Arbeiter mit dem Leitberuf des Angelernten hineinragen, die höherwertigen aber wiederum nicht selten eine Ausbildung vom mehr als drei Monaten voraussetzen; sowohl der eine wie der andere Umstand einten schließt dann aber eine Verweisung des Facharbeiters auf diese Tätigkeiten als unzumutbar aus (vgl zB Urteil des BSG vom 25. Mai 1976 - 5/12 RJ 162/75; vgl hierzu ferner die eingehenden tatsächlichen Feststellungen im Urteil des LSG Niedersachsen vom 22. Dezember 1977 - L 10 J 206/76). Dem angegriffenen Urteil ist nicht zu entnehmen, ob und in welschem Umfang es diese vorrangigen rechtlichen Gesichtspunkte geprüft und die hierzu erforderlichen tat sächlichen Feststellungen getroffen hat. Nach alledem kann der erkennende Senat schon deswegen nicht im der Sache entscheiden, weil die erforderlichen tatsächlichen. Feststellungen vom LSG entweder verfahrensfehlerhaft oder nicht getroffen worden sind. Der Senat mußte das angefochtene Urteil daher aufheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das Berufungsgericht wird die erforderlichen Feststellungen nunmehr nachzuholen haben.

Was im übrigen die sachlich-rechtliche Seite einer Verweisung des Klägers auf ungelernte Arbeiten betrifft, so wird aus dem Urteil des Berufungsgerichts nicht ersichtlich, ob es die oben zitierte Rechtsprechung des BSG zur Zumutbarkeit der Verweisung von Facharbeitern beachtet hat. Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG daher, sollte es den Kläger erneut auf ungelernte Arbeiten verweisen wollen, nicht auf Heranziehung von Tarifverträgen verzichten können, um die Frage der Zumutbarkeit der Verweisung abschließend beantworten zu können. Dabei wird es gemäß der Rechtsprechung des BSG so zu verfahren haben, daß es zunächst in dem für den bisherigen Beruf des Klägers maßgebenden Tarifvertrag nachforscht, um dort nach Möglichkeit artverwandte Tätigkeiten aufzufinden. Das LSG wird aber auch andere Tarifverträge zu berücksichtigen haben, sich hierbei aber einerseits auf die Tarifverträge desselben Tarifbezirks, unter diesen außerdem nur auf diejenigen beschränken dürfen, die wegen der großen Zahl der von ihnen erfaßten Arbeitnehmer für den Tarifbezirk repräsentativ sind (vgl hierzu insbesondere BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; BSG vom 29. Juni 1977 - 5 RJ 132/76; BSG vom 22. September 1977 - 5 RJ 96/76).

Der Ausspruch über die Kosten ist dem abschließenden Urteil in der Sache vorzubehalten.

Der Senat hat gem § 126 SGG nach Lage der Akten entschieden, da keiner der ordnungsgemäß geladenen Beteiligten zum Verhandlungstermin erschienen war.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652973

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