Leitsatz (amtlich)

1. Eine "Auskunft in anderer Sache" darf das Gericht für seine Entscheidung nur verwerten, wenn sich die Beteiligten zu dieser Auskunft haben äußern können.

2. Auch zu Tatsachen, die als gerichtskundig angesehen werden, müssen sich die Beteiligten äußern können.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 62 Fassung: 1953-09-03; GG Art. 103 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. April 1962 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Klägerin, geboren ... 1905, war von 1925 bis 1940 als Friseuse, von 1940 bis 1956 im wesentlichen als Verwaltungsangestellte, Verkäuferin und Büroangestellte beschäftigt. Am 30. Juni 1957 beantragte sie Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit; die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13. Januar 1958 ab, da die Klägerin nach ihrem Gesundheitszustand nicht erwerbsunfähig und auch nicht berufsunfähig sei. Mit der Klage begehrte die Klägerin vom 1. Juni 1957 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf entsprach diesem Begehren mit Urteil vom 3. Februar 1960. Die Beklagte legte Berufung ein; während des Berufungsverfahrens gewährte sie der Klägerin durch Bescheid vom 5. Dezember 1960 vom 1. Juni 1957 an Rente wegen Berufsunfähigkeit; sie hielt jedoch ihre Berufung aufrecht, soweit sie vom SG zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verurteilt worden war. Durch Urteil vom 18. April 1962 änderte das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG ab; es wies die Klage ab, soweit sie die Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit betraf. Die Klägerin sei zwar als Friseuse und Verwaltungs- oder Büroangestellte nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten berufsunfähig; als Friseuse sei sie wegen eines Hautekzems auch "erwerbsunfähig"; sie sei aber in ihrem Gesundheitszustand durch das Hautekzem und ihre anderen Leiden, im wesentlichen ein Cervikal- und Lumbalsyndrom mit dadurch bedingten Myalgien der Nacken- und Lumbalmuskulatur, nicht so weitgehend geschwächt, daß sie nicht doch noch als Verwaltungs- oder Büroangestellte in zeitlich begrenztem Ausmaß eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit verrichten könne; nach den ärztlichen Gutachten könne ihr noch sitzende Tätigkeit als Verwaltungs- oder Büroangestellte zwei bis drei Stunden täglich zugemutet werden. Die Klägerin könne die ihr verbliebene Erwerbsfähigkeit auch noch wirtschaftlich nutzen; sie komme nach ihrem Berufsleben zwar nicht für leitende, aber für ordnende, routinemäßige Büroarbeiten in Betracht; solche Tätigkeiten seien auch bei verkürzter Arbeitszeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auffindbar; dies sei dem Gericht insbesondere für die Tätigkeiten von Stenotypistinnen und Buchhalterinnen "aus einer in anderer Sache eingeholten Auskunft des Arbeitsamts Essen vom 6. Dezember 1961" bekannt; ebenso beständen z. B. für Karteiarbeiten auch bei verkürzter Arbeitszeit noch ausreichende Verwendungsmöglichkeiten, wie insbesondere dem Anzeigenteil der größeren Tageszeitungen entnommen werden könne. Das Urteil wurde der Klägerin am 17. Mai 1962 zugestellt.

Am 30. Mai 1962 legte die Klägerin Revision ein; sie beantragte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Sie rügte Verstöße des LSG gegen die §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Das LSG habe zu Unrecht nicht geprüft, ob die Klägerin nach ihren beruflichen Fähigkeiten überhaupt für eine Tätigkeit als Stenotypistin oder Buchhalterin in Betracht komme; es habe sich auch in der Frage, ob die Klägerin solche Beschäftigungen bei verkürzter Arbeitszeit überhaupt finden könne, zu Unrecht auf eine Auskunft des Arbeitsamts Essen in einer anderen Sache gestützt; diese Auskunft sei nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen; soweit das LSG seine eigene Sachkenntnis auf diese Auskunft gestützt habe, habe es darlegen müssen, wie es zu dieser Sachkenntnis gekommen sei; dies sei nicht geschehen; soweit das LSG seine Sachkenntnis hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten für eine Karteiführertätigkeit "aus größeren Tageszeitungen" entnommen habe, habe es die aus den Tageszeitungen entnommenen Tatsachen näher darlegen und es habe auch prüfen müssen, ob derartige Stellen wenigstens in nennenswertem Umfang vorhanden seien.

Die Beklagte beantragte,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II

Die Revision ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; die Klägerin rügt zu Recht einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des LSG.

Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG ausreichende Unterlagen gehabt hat für die Feststellung, daß die Klägerin in gewisser Regelmäßigkeit auch eine Tätigkeit als Stenotypistin oder Buchhalterin verrichten könne und ob insoweit die Verfahrensrügen der Klägerin begründet sind. Jedenfalls hat das LSG es nach den Gründen des angefochtenen Urteils sachlich-rechtlich für erheblich gehalten, ob für die Klägerin die ihr verbliebene Erwerbsfähigkeit "noch wirtschaftlich nutzbar" ist, ob sie also - sei es durch Arbeit als Stenotypistin oder Buchhalterin, als Karteiführerin oder mit sonstigen Büroarbeiten - "mehr als nur geringfügige Einkünfte" im Sinne von § 24 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), 2. Alternative, erzielen kann. Das LSG hat dies deshalb bejaht, weil es in tatsächlicher Hinsicht festgestellt hat, für die Klägerin seien auch bei erheblich verkürzter Arbeitszeit Arbeitsmöglichkeiten, die in ordnenden, routinemäßigen Büroverrichtungen und insbesondere in einer Beschäftigung als Stenotypistin oder Buchhalterin bestehen, vorhanden, worin sinngemäß zugleich die Feststellung liegt, die Klägerin könne durch solche Tätigkeiten auch mehr als nur geringfügige Einkünfte erzielen. Die Klägerin rügt zu Recht, diese Feststellungen seien nicht in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise zustandegekommen. Sofern das LSG "die Auskunft des Arbeitsamts Essen vom 6. Dezember 1961 in anderer Sache" nach § 106 Abs. 1 Nr. 3 SGG auch in dem anhängigen Verfahren hat verwerten wollen, hat es dies nur dann tun dürfen, wenn sich die Beteiligten zu der Auskunft des Arbeitsamts haben äußern können. Dies ist nicht der Fall gewesen. Die Gründe des angefochtenen Urteils lassen nicht erkennen, daß das LSG die Akten der "anderen Sache" oder doch die Auskunft des Arbeitsamts - falls sie überhaupt schriftlich erteilt worden ist - herangezogen und daß es diese Auskunft zum Gegenstand des Verfahrens in der vorliegenden Sache gemacht hat. Insoweit hat das LSG gegen § 128 Abs. 2 SGG verstoßen. Aus den Gründen des Urteils des LSG ist nicht zu entnehmen, welchen Inhalt die Auskunft des Arbeitsamts gehabt hat, ob sie sich nur allgemein auf Arbeitsmöglichkeiten bei verkürzter Arbeitszeit bezogen hat, ob sie Büroangestellte im weiteren Sinne, zu denen die Klägerin nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG gehört, betroffen hat oder ob sie nur die Arbeitsmöglichkeiten für "Stenotypistinnen oder Buchhalterinnen" zum Inhalt gehabt hat, zu denen die Klägerin möglicherweise nicht gehört. Das Gesamtergebnis des Verfahrens im Sinne von § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG darf vom Gericht nur insoweit verwertet werden, als der Grundsatz des rechtlichen Gehörs beachtet worden ist; ein Verstoß gegen § 128 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGG enthält daher zugleich auch einen Verstoß gegen § 62 SGG und Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Wenn aber das LSG diese Auskunft nicht als Beweismittel in dem vorliegenden Verfahren hat ansehen und würdigen wollen, wenn es vielmehr geglaubt hat, den Inhalt der Auskunft als gerichtskundig ansehen und verwerten zu dürfen, sind § 62 SGG und Art. 103 Abs. 1 GG ebenso verletzt; auch gerichtskundige Tatsachen müssen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden (Beschluß des BVerwG vom 3. November 1959, JZ 1960, 124 = NJW 1960, 31). Auf die Gewährung rechtlichen Gehörs hat das LSG auch insoweit achten müssen, als es sich für seine Kenntnis von Arbeitsmöglichkeiten für die Klägerin auf den "Anzeigenteil der größeren Tageszeitungen" gestützt hat. Da das hier nicht geschehen ist und die Klägerin dies auch in der durch § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG gebotenen Form gerügt hat, ist die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Es kann dahingestellt bleiben, ob das LSG noch weitere Ermittlungen hat anstellen müssen und ob es insoweit möglicherweise auch gegen § 103 SGG verstoßen hat.

Die Revision der Klägerin ist auch begründet. Es ist möglich, daß das LSG, wenn es den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung zu der Auskunft des Arbeitsamts und zu dem vom LSG verwerteten Inhalt des "Anzeigenteils der größeren Tageszeitungen" gibt, hinsichtlich der Arbeitsmöglichkeiten für die Klägerin zu einem anderen Ergebnis kommt. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, weil die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht fehlerfrei getroffen und deshalb für das Bundessozialgericht nicht bindend sind (§ 163 SGG). Die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird bei erneuter Entscheidung sachlich-rechtlich auch die Ausführungen des erkennenden Senats zu dem Begriff der Erwerbsunfähigkeit in dem Urteil vom 23. Juni 1964 - 11/1 RA 84/63 - zu berücksichtigen haben.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 19

NJW 1965, 221

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