Leitsatz (amtlich)

Eine allergische Bindehauterkrankung kann eine Berufskrankheit iS von Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO (Hauterkrankung) sein.

 

Leitsatz (redaktionell)

Angesichts des unterschiedlichen und vielfältigen Begriffsinhaltes des Wortes Haut im Sprachgebrauch ist davon auszugehen, daß die Auslegung des Begriffs "Hauterkrankung" vom Schutzzweck der Norm her zu erfolgen hat. Daß der Gesetzgeber bei der Aufnahme bestimmter Hautkrankheiten in den Katalog der Berufskrankheiten ausschließlich an die Zuständigkeit des Hautarztes auf der einen und die anderer Fachärzte auf der anderen Seite gedacht habe, ist nirgendwo erkennbar. Es erscheint daher nicht gerechtfertigt, Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO nur aus einem allgemeinen oder medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch heraus oder aufgrund der besonderen medizinischen Beschaffenheit der Bindehaut zu deuten und dabei die eigentliche Funktion, nämlich die Absicherung gegen die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen des Einflusses schädlicher Arbeitsstoffe und den dadurch erzwungenen Wechsel der beruflichen Tätigkeit, in den Hintergrund zu rücken.

 

Normenkette

BKVO Anl 1 Nr. 5101

 

Verfahrensgang

SG Würzburg (Entscheidung vom 17.10.1983; Aktenzeichen S 6 U 294/81)

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 29.03.1983; Aktenzeichen L 3 U 5/84)

 

Tatbestand

Mit der vorliegenden vom Landessozialgericht (LSG) zugelassenen Revision wendet die Beklagte sich dagegen, daß sie zur Anerkennung einer beim Kläger vorhandenen Hauterkrankung als Berufskrankheit (BK) sowie zur Gewährung der gesetzlichen Leistungen verurteilt worden ist (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 17. Oktober 1983; Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts -LSG- vom 29. März 1985).

Der Kläger ist gelernter Bäcker. Er gab diesen Beruf im Jahre 1980 wegen einer beidseitigen Erkrankung der Bindehaut auf und wird umgeschult. Die Krankheit beruht auf einer Allergie gegen Mehlstaub.

Durch ihren Bescheid vom 23. September 1981 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, es liege keine BK im Sinne der Nr 5101 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vor.

In dem Urteil des SG ist ausgeführt, daß es sich bei der chronischen Bindehautentzündung des Klägers nicht um eine Augenerkrankung, sondern um eine allergische Hautentzündung handele. Für die Anerkennung der Krankheit als BK bestehe wegen der Notwendigkeit einer Umschulung ein Rechtsschutzbedürfnis.

Das LSG hat in seinem Urteil im einzelnen ausgeführt, daß die Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA) vom 6. August 1937 (EuM 42, 7), wonach die Bindehaut des Auges nicht dem Hautorgan zuzurechnen sei, sowohl methodisch als auch im Ergebnis nicht zu billigen sei. Eine am objektiven Willen des Gesetzgebers orientierte verfassungskonforme Auslegung des Begriffs Hauterkrankung in Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO führe zur Gleichbehandlung von Haut und Schleimhaut. Die Erkrankung des Klägers sei schwer; sie habe mehrfach eine ärztliche Behandlung erfordert und zur Aufgabe des erlernten Berufs geführt.

Nach Auffassung der Revision unterscheidet der Sprachgebrauch ebenso wie die medizinische Wissenschaft zwischen menschlicher Haut und Bindehaut; beide seien medizinisch und tatsächlich nicht gleichwertig und nicht gleichartig: "Haut ist nicht gleich Haut". Bezeichnend sei, daß die Bindehautentzündung nicht vom Hautfacharzt, sondern vom Augenarzt behandelt werde; ähnliche Unterschiede gebe es zwischen der Hautbehandlung sowie der Behandlung der Schleimhäute innerer Organe. Dieser Zusammenhang hätte von dem LSG durch Einholung eines Gutachtens geklärt werden müssen.

Die Beklagte beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen LSG-Urteils a) in erster Linie in Stattgabe der Berufung der Beklagten gegen das klagzusprechende Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 17. Oktober 1983 zu S 6/U 294/83 auch dieses Urteil aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid (Verwaltungsakt) der Beklagten vom 23. September 1981 zu 1/45540/80 abzuweisen, b) hilfsweise aber die Sache gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. März 1985 zurückzuweisen.

Nach seiner Überzeugung ist der Begriff Hauterkrankung durch das RVA einseitig und unberechtigt ausschließlich nach dem Sprachgebrauch abgegrenzt worden. Er sei demgegenüber unter dem Gesichtspunkt der Verhütung von Arbeitsunfällen und bei Berücksichtigung der Auslegungsregel des § 2 Abs 2 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (SGB 1) zu bestimmen. Eines weiteren Gutachtens bedürfe es nicht.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten führt zwar zur Klarstellung des Urteilsausspruchs; sie ist jedoch unbegründet, weil bei dem Kläger eine BK im Sinne von Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO vorliegt.

Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören nach Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO "schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können". Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, an die das Revisionsgericht mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen und Anschlußrügen gebunden ist (§ 163 SGG), besteht bei dem Kläger eine beidseitige Bindehauterkrankung, welche durch die berufliche Tätigkeit als Bäcker hervorgerufen worden ist. Ebenso hat der Senat von der weiteren Feststellung des LSG auszugehen, daß diese Krankheit zur Aufgabe des erlernten Berufs gezwungen hat, wobei entgegen einer früher geäußerten Meinung der Beklagten nicht rechtserheblich ist, ob sie für die Aufgabe der Beschäftigung maßgebend war (BSGE 56, 94 ff).

Bei dieser Sach- und Rechtslage haben SG, LSG und die Verfahrensbeteiligten mit Recht die Frage in den Mittelpunkt der Erörterung gerückt, ob die Bindehauterkrankung des Klägers eine Hauterkrankung im Sinne von Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO ist und ob sie schwer oder wiederholt rückfällig war bzw ist. Diese Frage ist nach der Überzeugung des Senats mit dem SG und LSG zu bejahen. Insbesondere das LSG hat überzeugend dargelegt, daß die gegenteilige Annahme des RVA (EuM 42, 7 f iVm dem Gutachten S 126 ff) nicht befriedigen kann.

Das RVA (aaO S 8) ist bei der Bestimmung des Begriffs "Hautkrankheiten" vom allgemeinen und vom medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch ausgegangen. Warum der allgemeine Sprachgebrauch die Bindehaut nicht zur Haut rechnen soll, ist ohnehin nicht darzutun und wird auch durch die Umschreibung der Beklagten "Haut ist nicht Haut" nicht recht einsichtig gemacht. Der Versuch, insoweit eine Abgrenzung nach dem Sprachgebrauch vorzunehmen, drängt sich auch bei Berücksichtigung des medizinischen Sprachgebrauchs nicht ohne weiteres auf, zumal da - worauf die Beklagte richtig hinweist - die Bezeichnung innerer Körperteile (Hirnhaut, Knochenhaut usw) als Haut auf medizinische Begriffsbildungen zurückgeht.

Angesichts des unterschiedlichen und vielfältigen Begriffsinhalts des Wortes Haut im Sprachgebrauch ist davon auszugehen, daß die Auslegung des Begriffs "Hauterkrankung" vom Schutzzweck der Norm her zu erfolgen hat. Daß der Gesetzgeber bei der Aufnahme bestimmter Hautkrankheiten in den Katalog der BKen ausschließlich an die Zuständigkeit des Hautarztes auf der einen und die anderer Fachärzte auf der anderen gedacht habe, ist nirgendwo erkennbar, wenn auch nicht zu übersehen ist, daß diese Abgrenzung bereits vor der Entscheidung des RVA aaO in der Rechtsprechung eine gewissen Rolle gespielt hat (vgl die Nachweise in den Leitfäden der Knappschafts-Berufsgenossenschaft zur Zweiten und zur Dritten Verordnung über die Ausdehnung der Unfallversicherung auf Berufskrankheiten S 85/86 bzw 160/161) und rein tatsächlich in den meisten Fällen der Hauterkrankungen iS der Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO auch die Zuständigkeit des Hautarztes gegeben sein wird.

Allgemein bekannt und anerkannt ist, daß Hautkrankheiten im Sinne von Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO in der Regel durch äußere Einwirkungen (Berührungen) schädigender Arbeitsstoffe hervorgerufen oder beeinflußt werden (Elster, Berufskrankheitenrecht, 3. Lieferung, S 162/163; Wagner/Zerlett, Berufskrankheiten der 7. BKVO, 2. Aufl, S 175; Merkblatt zu Nr 5101, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung; Fischer/Herget/Mollowitz, Das ärztliche Gutachten im Versicherungswesen, 3. Aufl, Bd I S 617, 618 und 760; Schönberger/Mertens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 3. Aufl 1984, S 642 ff). Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß der Verordnungsgeber auch Krankheitserscheinungen an der Haut, die durch Aufnahme schädigender Stoffe in den Körper verursacht werden, zu den Hautkrankheiten rechnet (s den Zusatz zu Nrn 1101 bis 1110, 1201 und 1202 sowie 1303 bis 1309 der Anlage 1 zur BKVO); sie spielen in der Praxis jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Demgemäß gewährt der Verordnungsgeber durch die Bezeichnung von Hauterkrankungen als BK in erster Linie Schutz gegen die Folgen äußerlich wirkender schädigender Einflüsse am Arbeitsplatz. Dies ist die eigentliche Zielrichtung der Aufnahme von Hauterkrankungen in den Katalog der BKen. Nirgendwo ist dabei erkennbar, daß zugleich oder gar in erster Linie eine Beschreibung oder Definition des Wortes "Haut" beabsichtigt ist. Es erscheint daher nicht gerechtfertigt, Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO nur aus einem allgemeinen oder medizinisch-wissenschaftlichen Sprachgebrauch heraus zu deuten und dabei die eigentliche Funktion, nämlich die Absicherung gegen die wirtschaftlichen und gesundheitlichen Folgen des Einflusses schädlicher Arbeitsstoffe und den dadurch erzwungenen Wechsel der beruflichen Tätigkeit, in den Hintergrund zu rücken. Mit Recht hat das LSG daher auf diese Funktion der Vorschrift abgestellt. Dies führt dazu, die Bindehauterkrankung des Klägers als BK im Sinne von Nr 5101 der Anlage 1 zur BKVO anzusehen. Es handelt sich dabei, wie den verschiedenen Gutachten zu entnehmen ist, um eine durch die äußere Einwirkung von Mehlstaub hervorgerufene Erkrankung, wie sie typischerweise in dem erlernten Beruf des Klägers auftreten kann. Die Schutzfunktion der Vorschrift wird nicht durch die besondere medizinische Beschaffenheit der Bindehaut aufgehoben; entscheidend ist vielmehr, daß sie schädigenden äußeren Einwirkungen am Arbeitsplatz typischerweise - wie die Rechtsprechung des RVA aaO und der hier zu beurteilende Sachverhalt zeigen - ausgesetzt ist, und zwar nicht anders als die sonstige Deckschicht des Körpers.

Das LSG hat zutreffend angenommen, daß die Hauterkrankung des Klägers als "schwer" anzusehen ist. Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn die Erkrankung der Haut längere Zeit bestanden hat (BSGE 10, 286, 289; 38, 17, 18; BSG SozR Nr 4 zur 5. BKVO Anl Nr 19) oder bei Fortdauer der schädigenden Tätigkeit zu erheblichen Körperschäden führen würde (BSGE 51, 251, 253; BSG SozR 5677 Nr 12 zu Anl 1 Nr 46). Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG sind diese Voraussetzungen gegeben.

Der Kläger erstrebt in diesem Verfahren von Anfang an die Anerkennung seiner Bindehauterkrankung als BK. Eine entsprechende Feststellung sieht das Gesetz in § 55 Abs 1 Nr 3 SGG ausdrücklich vor. Sie ist hier vom SG und vom LSG in Verbindung mit einer Verurteilung zur Gewährung von "gesetzlichen Leistungen" getroffen worden, ohne daß tatsächliche Feststellungen in dem angefochtenen Urteil enthalten sind, welche entsprechende Ansprüche begründen könnten. Insoweit war der Urteilsausspruch richtig zu stellen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665572

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