Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Versicherungsschutzes bei Unfällen aus Spielerei.

 

Normenkette

RVO § 542 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. April 1960 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Gründe

I

Der im Jahre 1935 geborene Kläger war bis zum 10. Dezember 1955 im Preßwerk des Volkswagenwerks in W... beschäftigt. An diesem Tage arbeitete er erstmalig an der Kurbelpresse Nr. 363, an der mit einem Druck von mehreren hundert Tonnen Kotflügel bearbeitet wurden. Während der Pressenführer … durch Betätigen der elektrischen Schalteinrichtung die Maschine in Gang hielt, faßte der Kläger mit beiden Händen in einen ungesicherten Spalt zwischen der Stempelhalterplatte und der Führungsplatte des Blechhalters, die sich beide nach unten bewegten. Im unteren Totpunkt des beweglichen Teils der Presse wurden die Hände des Klägers zwischen den beiden Platten gequetscht. Die Verletzungen, die er dadurch erlitt, führten zum Teilverlust aller Finger mit Ausnahme der beiden Daumen und des kleinen Fingers der rechten Hand.

Durch Bescheid vom 18. Januar 1957 lehnte die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) den Entschädigungsanspruch des Klägers ab. Zur Begründung führte sie aus: Das Verhalten des Klägers, das zu dem Unfall geführt habe, sei als eine den Zusammenhang mit der Betriebsarbeit lösende Spielerei anzusehen; der Kläger habe sich in scherzhafter Weise trotz vorausgegangener Warnung des Pressenführers an den Stößel der Presse gehängt, als wolle er - was jedoch mit Menschenkraft nicht erreichbar gewesen sei - den Gang der Maschine beschleunigen.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Aufhebungs- und Leistungsklage hat der Kläger u.a. vorgebracht, er sei als Neuling an der ungeschützten Kurbelpresse mit den von ihr ausgehenden Gefahren nicht vertraut gewesen und auch nicht darüber belehrt worden. Daß er von dem Pressenführer gewarnt worden sei, sich in der Weise, wie geschehen, an den Stößel zu hängen, hat er bestritten.

Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat nach Vernehmung des Pressenführers P... als Zeugen durch Urteil vom 7. November 1957 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, an den Kläger Entschädigung im gesetzlichen Rahmen aus Anlaß seines Unfalls vom 10. Dezember 1955 zu gewähren.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen erneut Beweis erhoben durch Anhörung des Zeugen P..., ferner des Sicherheitsingenieurs G... und des Oberingenieurs K.... Durch Urteil vom 25. April 1960 hat es die erstinstanzliche Entscheidung aufgehoben und die Klage abgewiesen. In tatsächlicher Hinsicht ist das LSG der in der mündlichen Verhandlung vom 25. April 1960 abgegebenen Erklärung des Klägers, er glaube, sich mit den Händen gegen die vorstehende Stempelhalterplatte der Maschine gestützt zu haben, nicht gefolgt. Es hat vielmehr als erwiesen angesehen, daß der Kläger bewußt mit beiden Händen in den Zwischenraum des Blechhalters gegriffen habe, um scherzhaft den Eindruck zu erwecken, als wolle er den Gang der Maschine beschleunigen. Als entscheidend für die Beweiswürdigung hat das LSG angesehen, daß der Kläger sich schon vor dem Unfall spielerisch an der Maschine betätigt und auch nach dem Unfall diesen so, wie festgestellt, dem Zeugen G... geschildert habe, ferner daß die Art der Verletzungen auf einen solchen Geschehensablauf hindeute. Das LSG hat weiter festgestellt und ausgeführt: Die Verhaltensweise des Klägers könne nur einem Hang zum Spielen entsprungen sein; denn die Körperkraft eines Menschen vermöge den Lauf einer Presse, die mit einem Druck von mehreren hundert Tonnen arbeite, nicht zu beeinflussen. Bei einer bewußten Spielerei an einer Maschine müßten besondere, vom Betrieb zu vertretende Umstände vorliegen, wenn trotz der Spielerei der ursächliche Zusammenhang bejaht werden solle. Solche Umstände seien in dem hier zu entscheidenden Falle nicht schon darin zu sehen, daß die Maschine gegen Spielereien nicht völlig gesichert gewesen sei (vgl. Bayer. LVA in ZfS 1952, 196). Das gleiche gelte für das Verhalten des Pressenführers. Dieser habe zwar zunächst die Spielerei mitgemacht, indem er die Maschine eingeschaltet habe, als sich der Kläger an den Stößel gehängt habe. Vor der Fortsetzung der Arbeit habe er sich aber davon überzeugt, daß der Kläger seine Hände nicht mehr an der Maschine gehabt habe. Auch der Umstand, daß der Kläger am Unfalltage zum ersten Male an dieser Presse gearbeitet habe, genüge nicht, um einen ursächlichen Zusammenhang trotz der Spielerei annehmen zu können, da der Kläger zuvor schon an einer ähnlichen Presse ein viertel Jahr lang beschäftigt und infolgedessen mit den Gefahren einer solchen Maschine vertraut gewesen sei. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist dem Kläger am 20. Juni 1960 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 7. Juli 1960 Revision eingelegt und diese mit der Verletzung materiellen, hilfsweise auch formellen Rechts (§ 542 der Reichsversicherungsordnung -RVO-, § 128 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) wie folgt begründet: Selbst wenn man die Beweiswürdigung des LSG als fehlerfrei ansehe, liege eine Lösung vom Betrieb schon deshalb nicht vor, weil der Unfall während des normalen Produktionsablaufs eingetreten und die vom LSG als Spielerei angesehene Verhaltensweise des Klägers nur von kurzer Dauer gewesen sei. Außerdem sei eine rechtlich wesentliche Teilursache des Unfalls darin zu sehen, daß die Arbeitgeberin unter Nichtbeachtung der Unfallverhütungsvorschriften es unterlassen habe, die Presse durch ein Schutzblech abzusichern, und daß sie die Maschinenaufsicht einer ungeeigneten Arbeitskraft anvertraut habe, die das - allerdings fahrlässige und leichtsinnige - Verhalten des Klägers nicht nur geduldet, sondern durch Beteiligung an der "Spielerei" geradezu provoziert habe. Im übrigen habe das LSG das Ergebnis der Beweisaufnahme fehlerhaft gewürdigt; die Erklärung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG widerspreche seinen Erklärungen vom Jahre 1955 gegenüber dem Zeugen C... nicht.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des LSG Niedersachsen vom 25. April 1960 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Lüneburg vom 7. November 1957 zurückzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des Berufungsurteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie tritt den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei und hält die Rüge der fehlerhaften Beweiswürdigung für unbegründet.

Die Beteiligten haben sich mit Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Befugnis, in dieser Weise zu verfahren (§ 124 Abs. 2 SGG), Gebrauch gemacht.

II

Die durch Zulassung statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte Revision ist zulässig; sie hatte auch insofern Erfolg, als sie zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz geführt hat.

Der rechtlichen Würdigung des Streitfalles hatte der Senat die Feststellung des LSG zugrunde zu legen, die Gesundheitsschädigung des Klägers sei darauf zurückzuführen, daß er sich aus einem Hang zu spielerischer Betätigung an den Stößel der Maschine gehängt habe. Die in bezug auf diese Feststellung erhobene Rüge, das LSG hätte bei fehlerfreier Beweiswürdigung als erwiesen ansehen müssen, daß der Kläger sich an der Maschine lediglich habe abstützen wollen, ist nicht begründet. Der dahingehenden Erklärung des Klägers in der mündlichen Verhandlung vom 25. April 1960 brauchte das LSG in Ausübung seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen (§ 128 Abs. 1 SGG), nicht zu folgen. Dabei hat es ohne Verletzung der Denkgesetze festgestellt, die Erklärung des Klägers vom 25. April 1960 widerspreche seiner Erklärung gegenüber dem Ingenieur C... vom 11. Dezember 1955. Die gegenteilige Meinung des Zeugen K... trifft nicht zu.

Steht somit fest, daß der Kläger während einer Spielerei an der Presse verunglückt ist, so hatte der Senat zunächst zu prüfen, ob der Kläger sich durch sein Verhalten von der versicherten Tätigkeit gelöst und aus diesem Grunde den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung verloren hatte. Die zuweilen vertretene Auffassung, daß Spielerei im allgemeinen den Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit löse (vgl. Wagner, Der Arbeitsunfall, 1954 S. 151), hält der Senat für zu weitgehend; zumindest ist sie geeignet, zu Irrtümern zu führen. Diese Auffassung kann für Fälle gelten, in denen eine Betriebseinrichtung allein zum Zweck der Spielerei, also unabhängig von einem Arbeitsvorgang, benutzt wird. Spielereien können aber auch - wie hier - bei der Ausübung einer versicherten Tätigkeit vorkommen; dies ist z.B. bei einem Kraftfahrer der Fall, der während der Fahrt am Steuerrad oder einer anderen Einrichtung seines Wagens spielt. In einem solchen Fall übt der Versicherte trotz der Spielerei - ebenso wie ein alkoholbedingt fahruntüchtiger, aber nicht im Vollrausch fahrender Kraftfahrer (vgl. BSG 12, 242, 245) - eine versicherte Tätigkeit aus. Im vorliegenden Falle versteht der Senat die vom LSG getroffenen Feststellungen so, daß der Kläger, während der Stößel der Presse sich zum unteren Totpunkt bewegte, keine besondere betriebliche Verrichtung auszuführen, vielmehr nur in Bereitschaft zu stehen hatte. Trifft dies zu, so hat der Kläger trotz der Spielerei weder seinen Arbeitsplatz verlassen noch irgendeine der von ihm zu verrichtenden Tätigkeiten versäumt. Die Presse war nicht etwa lediglich zu Spielzwecken, sondern für die normalen Produktionsaufgaben in Gang gesetzt worden. Eine Lösung vom Betrieb ist daher nicht eingetreten. Es brauchte deshalb nicht geprüft zu werden, ob etwa die geringfügige Lauer der Spielerei, wie die Revision meint, einer Lösung vom Betrieb entgegenstand.

Trotzdem kann der Versicherungsschutz ausgeschlossen sein; er ist nämlich nur dann gegeben, wenn die unfallbringende Betätigung des Klägers in einem inneren Zusammenhang mit dessen versicherter Tätigkeit gestanden hat. Verunglückt ein Erwachsener - um einen solchen handelt es sich bei dem zur Zeit des Unfalls 20 Jahre alten Kläger - beim Spielen an. einer Betriebseinrichtung, so fehlt es im allgemeinen an diesem Zusammenhang. In solchen Fällen wird die Spielerei grundsätzlich als ein den Zwecken des Betriebes zuwiderlaufendes Verhalten und im Verhältnis zu dem Umstand, daß der Verletzte während des Unfalls im Betriebe beschäftigt war und eine Betriebseinrichtung zum Zustandekommen des Unfalls mitgewirkt hat, als die rechtlich allein wesentliche Ursache angesehen (vgl. RVA, AN 1906 S. 509 Nr. 2163; RVA, Breithaupt 1916/17 S. 126 = BG 1916 S. 137; BSG vom 30.7.1958 - 2 RU 119/57). In der Rechtsprechung zur Spielerei ist jedoch mehrfach zum Ausdruck gekommen, daß ein Unfall bei einer Spielerei während einer versicherten Tätigkeit unter "besonderen Umständen" einen Arbeitsunfall darstellen könne (zB RVA, AN 1906. S. 509 Nr. 2163; vgl. auch Handbuch der Unfallversicherung Bd. 1 S. 79). Das Bayerische Landesversicherungsamt (LVAmt) hat in der vom LSG angeführten Entscheidung vom 26. Oktober 1951 (ZfS 1952 S. 196) dem Oberversicherungsamt (OVA), an das es den Streitfall zurückverwiesen hat, zu prüfen aufgegeben, ob die Spielerei des Verletzten, der einen Elektrowagen unbefugt in Betrieb gesetzt hatte und dabei verunglückt war, die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls war oder ob das Stehenlassen des ungesicherten Fahrzeugs unter Berücksichtigung aller - im einzelnen näher dargelegten - Umstände eine vom Unternehmer zu vertretende Gefahr gesetzt hatte, die als wesentliche Mitursache am Entstehen des Unfalls anzusprechen war. Nach der Auffassung des erkennenden Senats zwingt, wenn eine Spielerei an einer Maschine während der Arbeitstätigkeit zu einem Unfall führt, der Umstand, daß eine gebotene und zumutbare Sicherung unterlassen wurde, nicht ohne weiteres zur Annahme eines Arbeitsunfalls. Spielt zB ein Versicherter in ungewöhnlich vernunftwidriger Weise an einer in Betrieb befindlichen ungesicherten, für jedermann erkennbar gefahrbringenden Kreissäge, so wird ein dadurch herbeigeführter Unfall nicht als Arbeitsunfall angesehen werden können. In einem solchen Falle sind die leichte Erkennbarkeit der Gefahr und das Maß der Unvernunft im Verhalten des Verletzten für den Eintritt der Schädigung so entscheidend, daß sie die Mitwirkung der Betriebseinrichtung als Teilursache in den Hintergrund treten und deshalb als rechtlich unwesentlich erscheinen lassen. Auch in dem hier zu entscheidenden Falle kommt es nach der Auffassung des Senats darauf an, inwieweit der Kläger die von dem in Bewegung befindlichen Stößel ausgehende Gefahr erkennen konnte und welches Maß an Sorglosigkeit und Unvernunft in seinem spielerischen Verhalten zu sehen ist (vgl. hierzu BSG vom 30.3.1962 - 2 RU 32/61 -). Zur Beurteilung dieser Fragen reichen indes die vom LSG getroffenen Feststellungen nicht aus. Die Tatsache allein, daß der Kläger vor dem Unfall mehrere Monate an einer "ähnlichen Presse" beschäftigt war, beweist nicht, daß ihm schon am ersten Tage seiner Arbeit an der Kurbelpresse Nr. 363 deren Wirkungsweise völlig vertraut und deren Gefahren hinreichend erkennbar waren. Daß er hierüber belehrt worden sei, hat das LSG nicht festgestellt. Die Wirkungsweise der Presse ist auch in dem angefochtenen Urteil nicht so klar beschrieben, daß hieraus ohne weiteres auf das Maß der Gefahr und deren Übersehbarkeit in den einzelnen Stadien der Abwärtsbewegung des Stößels geschlossen werden könnte. Jedenfalls läßt es der Umstand, daß der Pressenführer P..., obwohl ihm seine Funktion das Gegenteil gebot, die Spielerei des Klägers zeitweise geduldet hat, zweifelhaft erscheinen, ob der Kläger das Ausmaß der mit seiner Handlungsweise verbundenen Gefahr erkennen konnte und ob es unter diesen Umständen gerechtfertigt ist, seine Spielerei als in hohem Grade vernunftswidrig zu bezeichnen.

Da es noch weiterer Feststellungen in der angegebenen Richtung bedarf, konnte der Senat keine abschließende Entscheidung treffen. Deshalb mußte die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG in seinem abschließenden Urteil zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2336714

NJW 1962, 1742

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