Leitsatz (amtlich)

1. Der Versicherungsträger darf eine zu Unrecht erbrachte Leistung abgesondert von der Frage, ob die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist, durch Verwaltungsakt "dem Grunde nach" zurückfordern.

2. Stellt sich heraus, daß dem Versicherten eine Leistung nicht zusteht, so darf der Versicherungsträger einen nicht leichtfertig gewährten Vorschuß zurückfordern, sofern dies im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist (Weiterführung von BSG 1965-08-25 5 RKn 72/61 = BSGE 23, 259 = SozR Nr 2 zu § 93 RKG).

 

Normenkette

RKG § 93 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1301 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1965-06-09, § 628 Fassung: 1963-04-30, § 629 Fassung: 1963-04-30; SGG §§ 54, 77, 154

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Juli 1974 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 5. Oktober 1973 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Dem 1932 geborenen Kläger gewährte die beklagte Berufsgenossenschaft (BG) in den Jahren 1971 bis 1972 auf Grund ärztlicher Gutachten, die einen ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Tätigkeit des Klägers als Bergmann und einem bei ihm vorliegenden Meniskusschaden bejahten, Vorschüsse von insgesamt 2.500,- DM auf eine möglicherweise zu gewährende Entschädigung für eine Berufskrankheit nach Nr. 42 der Anlage 1 zur 7. Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO). Nach Anhörung weiterer Gutachter stellte die Beklagte mit Bescheid vom 12. April 1972 die Entschädigung wegen einer nur vorübergehenden berufskrankheitsbedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf insgesamt 1.368,- DM und unter Anrechnung der Vorschüsse eine Überzahlung von 1.132,- DM fest. Eine gegen diesen Bescheid erhobene Klage hat der Kläger wieder zurückgenommen.

Unter dem 19. März 1973 richtete die Beklagte die streitige, als Bescheid bezeichnete Verlautbarung an den Kläger; in ihr wird der Kläger unter Bezug auf den Leistungsbescheid vom 12. April 1972 für verpflichtet erklärt, den überzahlten Betrag von 1.132,- DM zurückzuzahlen, zugleich aber ausgesprochen, daß mit Rücksicht auf die gegenwärtige wirtschaftliche Lage des Versicherten von einer sofortigen Rückforderung abgesehen werde. Den Widerspruch des Klägers hiergegen wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 1973).

Mit der Klage hatte der Kläger in zweiter Instanz Erfolg. Im angefochtenen Urteil vom 18. Juli 1974 hat das Landessozialgericht (LSG) die klageabweisende Entscheidung des Sozialgerichts (SG) vom 5. Oktober 1973 sowie die Bescheide der Beklagten vom 19. März 1973 und 30. Mai 1973 aufgehoben. In der Begründung heißt es, § 628 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestatte der Beklagten eine Rückforderung nur dem Grunde nach nicht. Da das Prozeßgericht das der Verwaltung bei der Rückforderung zustehende Ermessen nicht ersetzen könne, könnte eine Verbesserung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers auch nicht von Gerichts wegen nachträglich geprüft werden. Als feststellender Verwaltungsakt lasse sich der angefochtene Bescheid nicht beurteilen. Es sei nicht zulässig, in einem Verwaltungsakt nur einige Tatbestandsmerkmale, einige Elemente eines Anspruches - hier des Rückforderungsanspruches - isoliert festzustellen. Da die Verwaltung selbst bei rechtlich möglicher Rückforderung nicht zurückzufordern brauche und insoweit ihr Ermessen ausüben müsse, sei zuvor eine entgegenstehende Selbstbindung der Verwaltung nicht statthaft.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die zugelassene Revision der Beklagten. Sie stützt sich zur Begründung im wesentlichen auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 30. August 1973 (BSGE 36, 137 = SozR Nr. 19 zu § 1301 RVO), in der im Rahmen der Rückforderung die bescheidmäßige Feststellung einer Gesamtschuld als vermögenswerte Rechtsposition für zulässig erklärt worden sei.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.

Mit der Klage angegriffen ist der "Bescheid" der Beklagten vom 19. März 1973 in der Gestalt des bestätigenden "Widerspruchsbescheides" vom 30. Mai 1973. Vorweg ist zu klären, ob der angegriffene "Bescheid" der Beklagten ein Verwaltungsakt ist. Denn die auf Aufhebung eines Verwaltungsaktes zielende Klage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alternative 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; vgl. § 42 Abs. 1 Alternative 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VGO -) setzt das Vorliegen eines Verwaltungsaktes voraus (vgl. BSGE 9, 171, 173; BVerwG in ständiger Rechtsprechung, z. B. BVerwGE 14, 323, 324; Ule, Verwaltungsprozeßrecht, 5. Aufl., S. 112, 122; Redeker/v. Oertzen, Komm. zur VGO, 4. Aufl., Anm. 9 bei § 42; grundsätzlich zustimmend auch Eyermann/Fröhler, Komm. zur VGO, 6. Aufl., Rd. Nr. 11 zu § 42 und Bachof, DÖV 1957, 241, 262). Nach dieser Auffassung müßte die Aufhebungsklage, wäre die angegriffene Maßnahme kein Verwaltungsakt, als unzulässig abgewiesen werden (BVerwGE 2, 273), es sei denn, der von dem Nichtverwaltungsakt erzeugte Rechtsschein geböte im Einzelfall anderes (vgl. dazu BVerwG in NJW 1958, 1107, 1108; Redeker/v. Oertzen, aaO, Anm. 12). Der Inhalt des "Bescheides" begründet im vorliegenden Fall Zweifel, weil die Beklagte ausdrücklich erklärt, daß der Kläger zu Unrecht erhaltene Leistungen im Augenblick nicht zurückzuzahlen brauche. Das könnte für die Annahme sprechen, daß es sich nicht um einen Verwaltungsakt handelt. Die nähere Prüfung hat jedoch ergeben, daß der vom Kläger angegriffene "Bescheid" der Beklagten vom 19. März 1973 ein Verwaltungsakt ist.

Eingangs erklärt die Beklagte den Kläger für verpflichtet, 1.132,- DM zurückzuzahlen. Eine solche Verfügung ist fraglos ein Verwaltungsakt. Allerdings hat die Beklagte in der gleichen Verlautbarung diese Verfügung dadurch relativiert, daß sie - etwas weiter unten im Text - ausführt, daß "mit Rücksicht auf die gegenwärtige wirtschaftliche Lage des Versicherten ... von einer sofortigen Rückzahlung abgesehen (wird)". Diese Relativierung findet zusätzlich Ausdruck darin, daß die Beklagte den Kläger auffordert mitzuteilen, wenn sich in seinen wirtschaftlichen Verhältnissen etwas ändere, und daß sie im Widerspruch sogar betont, der Kläger sei zur Rückzahlung erst verpflichtet, "sobald in seinen wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnissen eine Änderung eingetreten ist, die eine Rückzahlung ermöglicht".

Hiernach stellt sich die Frage, ob die Beklagte mit der angegriffenen Maßnahme nicht lediglich einen Verwaltungsakt angekündigt hat. Die Ankündigung eines Verwaltungsaktes für den möglichen zukünftigen Fall des Eintritts bestimmter Bedingungen kann kein Verwaltungsakt sein, weil sie noch keine Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit unmittelbarer rechtlicher Wirkung enthält (vgl. dazu z. B. Eyermann/Fröhler, aaO, Rd. Nr. 27 a bei § 42). Die angegriffene Maßnahme der Beklagten läßt sich mithin nur dann als Verwaltungsakt qualifizieren, wenn sie als "Rückforderung dem Grunde nach", als "Rückforderung an sich" bereits eine individualisierbare, mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit ausgestattete Regelung eines Einzelfalles darstellt. Das ist der Fall.

Nach § 628 Satz 1 RVO braucht der Träger der Unfallversicherung eine Leistung nicht zurückzufordern, die er - u. a. - zu Unrecht gezahlt hat. Das Gesetz setzt also voraus, daß der Versicherungsträger im Falle der Unrechtzahlung gegen den Versicherten einen Anspruch auf Rückerstattung der Leistungen hat: Nur auf Grund eines dem Versicherungsträger zustehenden Rückforderungsanspruches kann dieser die durch Satz 1 aaO in sein - pflichtgemäßes - Ermessen gestellte Entscheidung treffen, ob er die zu Unrecht gezahlte Leistung zurückfordert oder nicht zurückfordert (vgl. BSG in SozR Nr. 10 zu § 1301 RVO, der mit § 628 RVO gleichlautent). Bei dem Anspruch, den § 628 Satz 1 RVO voraussetzt, aber nicht selbst normiert, handelt es sich um den allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch; dieser wurzelt in dem anerkannten allgemeinen Grundsatz des öffentlichen Rechts, daß Leistungen, die eines Rechtsgrundes entbehren, zu erstatten sind (vgl. z. B. die Entscheidung des BSG vom 16. Juli 1974 - 1 RA 183/71 - mit zahlreichen Nachweisen; Langkeit, DOK 1971, 341; Goennewig, ErsK 1973, 484). Da der Kläger 1.132,- DM zuviel ausgezahlt erhalten hat, steht der Beklagten ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch gegen den Kläger zu. Ob, in welchem Umfang und auf welche Weise sie diesen Anspruch geltend macht, steht allerdings in ihrem pflichtgemäßen Ermessen, das nicht nur insofern eingeschränkt ist, als sie die Grenzen dieses Ermessens ganz allgemein beachten muß, sondern daraufhin auch insofern, als sie nach § 628 Satz 2 RVO die zu Unrecht erbrachten Leistungen vom Empfänger überhaupt nur bei Vorliegen bestimmter weiterer Voraussetzungen zurückfordern darf. Dadurch wird allein das dem Versicherungsträger in bezug auf die Geltendmachung des in Satz 1 aaO vorausgesetzten Erstattungsanspruches eingeräumte Ermessen weiter begrenzt (vgl. dazu auch die Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes - GmS - vom 19. Oktober 1971 in NJW 1972, 1411 = DVBl 1972, 604; ferner den erkennenden Senat in BSGE 34, 269, 270 = SozR Nr. 1 zu § 602 RVO). Sonach berührt auch der Mangel der in Satz 2 aaO genannten Vertretbarkeit der Rückforderung im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers nicht den in Satz 1 aaO vorausgesetzten öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch "an sich". Einer Geltendmachung dieses dem Versicherungsträger zustehenden Erstattungsanspruches nur "dem Grunde nach" stellt § 628 Satz 2 RVO nach allem keine rechtskonstruktiven Hindernisse entgegen.

Hinzu kommt, daß die Vertretbarkeit einer Rückforderung im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers der zu Unrecht erbrachten Leistungen auch ihrem Wesen nach eher zum Bereich der Durchsetzbarkeit der Forderung als zum Bereich der den Rückforderungsanspruch begründenden Tatbestandsmerkmale gehört. Selbst dort, wo der Gesetzgeber ausnahmsweise die wirtschaftliche Durchsetzbarkeit einer Rückforderung zum die Rückforderbarkeit begründenden Tatbestandsmerkmal erhoben hat, läßt sie sich von den anderen anspruchsbegründenden Merkmalen ohne Mühe abgrenzen: Es bietet keine Schwierigkeit festzustellen, daß der Anspruch, abgesehen einmal von der im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners zu prüfenden Durchsetzbarkeit, "an sich" gegeben ist. Zumindest muß diese Überlegung zutreffen, wo - wie hier - die wirtschaftliche Vertretbarkeit der Rückforderung lediglich ein Element des dem Versicherungsträger zur Frage der Geltendmachung der Rückforderung eingeräumten Ermessens ist.

Eine von der Frage der wirtschaftlichen Vertretbarkeit abgesonderte "Rückforderung dem Grunde nach" ist aber auch von den praktischen Bedürfnissen her zweckmäßig und geboten. Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers einer zu Unrecht gewährten Leistung können sich im Laufe der Zeit zu seinen Gunsten oder/und zu seinen Ungunsten unter Umständen vielfach ändern. Wie der erkennende Senat heute in einer anderen Streitsache (5 RKn 20/73) entschieden hat, ist im Rahmen der Anwendung des § 1301 RVO (= § 628 RVO) bei der Prüfung der Vertretbarkeit der Rückforderung im Hinblick auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners jede Änderung in diesen Verhältnissen sowohl zu dessen Gunsten wie zu dessen Ungunsten zu berücksichtigen. Da bereits die wirtschaftliche Fähigkeit des Leistungsempfängers, einen noch so geringen monatlichen Schuldabtrag zu leisten, den sonst nur "dem Grunde nach" bestehenden Rückzahlungsanspruch des Versicherungsträgers zum durchsetzbaren Vollanspruch macht (vgl. den erkennenden Senat in SozR Nr. 18 zu § 1301 RVO), kann im Verlauf der Zeit je nach Art und Höhe einer Schwankung in den wirtschaftlichen Verhältnissen des Empfängers der Anspruch des Versicherungsträgers entstehen, wieder - vorübergehend oder auf Dauer - entfallen oder sich nur - auf Zeit oder auf Dauer - in seiner Höhe verändern. Damit charakterisiert sich die wirtschaftliche Vertretbarkeit der Rückforderung im Rahmen des § 628 RVO für eine Vielzahl von Fällen als eine die Höhe des Rückerstattungsanspruches bestimmende veränderliche Größe. Es entspricht daher dringenden praktischen Bedürfnissen, daß der Versicherungsträger den Rückerstattungsanspruch ohne Rücksicht auf die augenblickliche wirtschaftliche Vertretbarkeit "dem Grunde nach" frühzeitig mit der verbindlichen Wirkung des § 77 SGG feststellen kann. Als weiterer praktischer Vorteil einer solchen Verfahrensweise tritt hinzu, daß der Versicherungsträger im unmittelbaren zeitlichen Anschluß bereits an die Feststellung einer Überzahlung verbindlich klären kann, ob ihn im Sinne des § 628 Satz 2 RVO (= § 1301 Satz 2 RVO) an der Überzahlung ein Verschulden trifft und ob der Leistungsempfänger bei Empfang der Leistung wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand.

Nach alledem ist die von der Frage der wirtschaftlichen Vertretbarkeit der Rückforderung ausdrücklich abgegrenzte, bereits unmittelbare Rechtswirkungen erzeugende Feststellung, daß ein Rückforderungsanspruch gemäß § 628 RVO "dem Grunde nach" besteht, rechtskonstruktiv zulässig und von der Interessenlage der Beteiligten her sachlich geboten. Sie ist daher als feststellender Verwaltungsakt anzusehen. Da der angegriffene Bescheid der Beklagten eine solche Feststellung der Rückzahlungsschuld dem Grunde nach enthält, liegt ein die Zulässigkeit der Anfechtungsklage begründender Verwaltungsakt vor.

In der Sache ist die Klage nicht begründet.

Es ist gesicherte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), daß vom Versicherungsträger auf mögliche zukünftige Leistungen zu Unrecht gewährte Vorschüsse zurückzuerstatten sind, sofern dies dem Empfänger wirtschaftlich möglich ist (vgl. z. B. BSGE 18, 148 = SozR Nr. 3 zu § 1299; Entscheidung des erkennenden Senats in BSGE 23, 259 = SozR Nr. 2 zu § 93 des Reichsknappschaftsgesetzes - RKG -). Hieran ist festzuhalten. Zwar hat der erkennende Senat für das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung (aaO) klargestellt, daß ein Leistungsvorschuß grundsätzlich nur im Rahmen und in Anwendung des § 93 Abs. 2 RKG (= § 1301 RVO) zurückgefordert werden kann. Nach Satz 2 dieser Vorschrift, der für den Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung § 628 RVO entspricht, darf der Versicherungsträger eine Leistung u. a. nur dann zurückfordern, wenn ihn für die Überzahlung kein Verschulden trifft und nur soweit der Leistungsempfänger bei Empfang wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand. Indessen gilt für die Anwendung dieser Bestimmung auf zu Unrecht erbrachte Leistungsvorschüsse im Ergebnis nichts anderes als der erkennende Senat für eine andere vorläufige Leistung, nämlich die in Ausführung eines vorläufig vollziehbaren nicht rechtskräftigen, später beseitigten Urteils zu Unrecht geleisteten Beträge (§ 154 Abs. 2 SGG) bereits entschieden hat: Es bleibt von § 1301 Satz 2 RVO (= § 628 Satz 2 RVO) allein anwendbar, daß die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers vertretbar ist (SozR Nr. 18 zu § 1301 RVO). Bereits in der Entscheidung BSGE 23, 259 = SozR Nr. 2 zu § 93 RKG hat der erkennende Senat hervorgehoben, es sei gerade Sinn und Zweck des Vorschusses, daß er gezahlt wird, obwohl noch nicht eindeutig feststeht, daß und in welcher Höhe der Leistungsanspruch besteht; der Senat hat hieraus gefolgert, daß ein Verschulden des Versicherungsträgers an der Überzahlung nicht allein deswegen angenommen werden kann, weil sich später herausstellt, daß die Voraussetzungen für den Rentenanspruch nicht oder nicht in dem vorausgeschätzten Umfang vorliegen. Der auch die Beziehungen zwischen Versicherten und Versicherungsträger beherrschende Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. § 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) verbietet es, daß der Vorschußempfänger dem Versicherungsträger entgegenhält, er hätte von der Gewährung des Vorschusses überhaupt oder eines Vorschusses in dieser Höhe absehen können. Der Unfallversicherungsträger ist, wie § 629 Nr. 2 RVO ergibt, gesetzlich ermächtigt, Vorschüsse auf künftige Leistungen zu gewähren. Wird der Vorschuß gewährt, so ist dies eine den Versicherten begünstigende, in seinem Interesse liegende Maßnahme. Die Begünstigung liegt vor allem darin, daß er eine Leistung bereits erhält, obschon die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür noch nicht endgültig festgestellt sind. Daher wäre es offenkundig treuwidrig, wenn der Vorschußempfänger dem Versicherungsträger das in seinem Interesse zulässigerweise geübte Ermessen als Verschulden anlasten könnte. Etwas anderes kann allenfalls dann gelten, wenn der Versicherungsträger bereits bei Gewährung des Vorschusses hätte erkennen können und erkennen müssen, daß die Leistung dem Versicherten nicht oder nicht in der Höhe des Vorschusses zusteht und daher dem Empfänger Rückzahlungsverpflichtungen erwachsen werden. Ebensowenig paßt die in § 628 Satz 2 RVO weiter normierte Rückforderungsvoraussetzung, nach welcher der Empfänger wußte oder hätte wissen müssen, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, auf den Fall des zulässigen und ermessensfehlerfrei gewährten Leistungsvorschusses. Der Vorschuß ist nicht anders als der in Ausführung eines nur vorläufig vollziehbaren Urteils empfangene Betrag eine Leistung, die ganz offenkundig den Charakter des Vorläufigen trägt und unter dem Vorbehalt ihrer Rechtmäßigkeit steht. Eine solche augenscheinlich die Merkmale des nicht Endgültigen tragende Leistung ist ihrem Wesen nach ungeeignet, bei seinem Empfänger einen guten Glauben dahin zu begründen, daß sie ihm endgültig zustehe.

Stellt sich also heraus, daß dem Versicherten eine Leistung nicht zusteht, so kann der Versicherungsträger den diesem nach pflichtgemäßem Ermessen nicht leichtfertig gewährten Vorschuß in Anwendung des § 628 Satz 2 RVO zurückfordern, soweit dies die wirtschaftlichen Verhältnisse des Empfängers als vertretbar erscheinen lassen. Wenngleich die Beklagte zur Zeit des Erlasses des angefochtenen Bescheides die wirtschaftliche Vertretbarkeit der Rückforderung nicht bejahen konnte, war sie nach dem oben Ausgeführten immerhin berechtigt, den Vorschuß "dem Grunde nach" zurückzuverlangen, d. h. bescheidmäßig festzustellen, daß ihr ein Rückforderungsanspruch "an sich" zustehe und seine Durchsetzbarkeit nur noch von der Frage der wirtschaftlichen Vertretbarkeit abhänge.

Der angefochtene Bescheid und das ihn bestätigende Urteil des SG konnten im Ergebnis mithin nicht beanstandet werden. Daher war auf die Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen die Entscheidung des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1649866

BSGE, 86

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