Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellung der Versicherungs- und Beitragspflicht bei namentlich nicht bekannten Aushilfskräften. Beitragspflicht bei namentlich nicht bekannten Personen

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Entscheidung der Einzugsstelle über die Beitragspflicht des Arbeitgebers setzt grundsätzlich eine Entscheidung der Einzugsstelle über das Bestehen von Versicherungspflicht bestimmter, namentlich bezeichneter Arbeitnehmer voraus.

2. Hat der Arbeitgeber die ihm obliegende Aufzeichnungspflicht verletzt und damit die Prüfung der Versicherungs- und Beitragspflicht unmöglich gemacht, dann ist die Einzugsstelle berechtigt, die Sozialversicherungsbeiträge von der feststellbaren Gesamtlohnsumme der namentlich nicht bekannten Aushilfskräfte zu erheben; eine schuldhafte Verletzung der Aufzeichnungspflicht kann aber dann nicht allein damit begründet werden, daß Aufzeichnungen nicht vorhanden sind, wenn die Einzugsstelle in früheren Jahren die Versicherungspflicht der Aushilfskräfte verneint hat.

 

Orientierungssatz

Verletzt der Arbeitgeber schuldhaft seine Aufzeichnungspflicht, so ist eine an der Lohnsumme orientierte Beitragsforderung gerechtfertigt.

Eine schuldhafte Verletzung der Aufzeichnungspflicht kann nicht allein damit begründet werden, daß Aufzeichnungen nicht vorhanden waren.

 

Normenkette

RVO § 318a Abs. 1 Fassung: 1972-08-10; BÜV § 2 Abs. 1 Fassung: 1963-06-28

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.03.1975; Aktenzeichen L 16 Kr 87/73)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 09.05.1973; Aktenzeichen S 19 (4) Kr 57/71)

 

Tenor

Auf die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen zu 1) wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. März 1975 aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin verpflichtet ist, für namentlich nicht bekannte Kartoffelschälkräfte, die für sie in der Zeit vom 1. März 1969 bis 31. Dezember 1970 tätig waren, Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten.

Die Klägerin betreibt ua einen Kartoffelschälbetrieb. Nach ihren Angaben habe sich bei ihr in der streitigen Zeit ein ständig wechselnder Kreis von Personen, ausschließlich Ausländer, eingefunden, um maschinell vorgeschälte Kartoffeln nachzuputzen. Es habe sich überwiegend um Frauen von Gastarbeitern gehandelt, die regelmäßig der deutschen Sprache nicht mächtig gewesen seien und sich oft geweigert hätten, ihre Namen anzugeben. Die Schälarbeit sei in der Weise erfolgt, daß den Schälkräften, die ihre eigenen Messer mitgebracht hätten, vorgeschälte Kartoffeln zur Verfügung gestellt worden seien. Gearbeitet worden sei meistens in Gruppen unter Einbeziehung von Kindern und sonstigen Familienangehörigen. Die Vergütung sei zentnerweise erfolgt, und zwar an diejenige Person, die die geputzten Kartoffeln abgegeben habe. Eine Verpflichtung der bezeichneten Personen, zur Arbeit zu erscheinen, eine bestimmte Menge an Kartoffeln zu putzen oder hierfür eine bestimmte Zeit einzuhalten, habe nicht bestanden.

Die zunächst für den Kläger zuständige Landkrankenkasse hatte es nicht beanstandet, daß für diese Arbeitskräfte keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt wurden. Auch steuerlich wurden die Kartoffelschälkräfte der Klägerin aufgrund eines Urteils des Finanzgerichts Düsseldorf vom 24. November 1955 (FG I 27-29/54 L) nicht als Arbeitnehmer eingestuft. Nach dem Wechsel der Zuständigkeit führte die Beklagte am 1. September 1970 eine Betriebsprüfung durch und forderte daraufhin für die in ihre Zuständigkeit fallende Zeit vom 1. März 1969 bis 31. Dezember 1970 Beiträge in Höhe von 117.701,41 DM nach. Diese Beitragsforderung war anhand der Gesamtsummen errechnet worden, die den Kartoffelschälkräften gezahlt worden waren (Bescheid vom 12. Januar 1971).

Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 25. März 1971; Urteil des Sozialgerichts - SG - Düsseldorf vom 9. Mai 1973).

Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin unter "Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf" den Bescheid der Beklagten in der Fassung des Widerspruchsbescheides aufgehoben. Es hat die Auffassung vertreten, daß die Erhebung von Beiträgen eine Entscheidung über die Versicherungspflicht namentlich benannter Arbeitnehmer voraussetze. Lasse sich, wie im vorliegenden Fall, nicht ermitteln, wer die Lohnzahlungen erhalten habe, so gehe dies nach den Grundsätzen über die objektive Beweislast zu Lasten der Beklagten. Konkrete Umstände, die die Folgerung rechtfertigen könnten, die Klägerin habe im Laufe des Verwaltungsverfahrens durch ihr Verhalten die Feststellung der Versicherungspflicht ihrer Beschäftigten schuldhaft vereitelt, seien weder dargetan noch ersichtlich.

Mit der Revision machen die Beklagte und die Beigeladene zu 1) geltend, das Gericht habe die Bedeutung der §§ 1227, 1396, 1399 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und die Regeln der objektiven Beweislastverteilung verkannt. Bei der Beitragsentrichtung nach dem wirklichen Arbeitsverdienst im Lohnabzugsverfahren sei von den Krankenkassen im Regelfall überhaupt keine Entscheidung über Versicherungs- und Beitragspflicht zu treffen. Diese Entscheidung werde vielmehr regelmäßig vom Arbeitgeber selbst getroffen. Lediglich wenn Unklarheiten und Zweifel beständen und ein Beteiligter eine Entscheidung beantrage, treffe die Einzugsstelle zu Beginn des Beschäftigungsverhältnisses eine solche Entscheidung. Für diese Fälle sei der Arbeitgeber nach § 1427 RVO zur Beweissicherung hinsichtlich der versicherungsrechtlich erheblichen Tatsachen verpflichtet. Verletze er diese Pflicht, so müsse dies dazu führen, daß nunmehr nicht mehr die Einzugsstelle sondern der Arbeitgeber die Beweislast trage; denn jeder, auch der anonym oder unter falschem Namen arbeitende Arbeitnehmer sei grundsätzlich versicherungspflichtig.

Die Beigeladene und die Beklagte beantragen,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Die beigeladene Bundesanstalt für Arbeit (BA) hat keinen Antrag gestellt.

Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen der Klägerin und Beigeladenen zu 1) sind begründet. Sie führen zur Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

Wie der Senat inzwischen bereits mehrfach entschieden hat, setzt die Nachforderung von Beiträgen regelmäßig eine Entscheidung über die Versicherungspflicht und Beitragspflicht namentlich bekannter Personen voraus. Eine Ausnahme gilt lediglich dann, wenn der Arbeitgeber schuldhaft die ihm obliegende Aufzeichnungspflicht verletzt und damit die Prüfung der Versicherungs- und Beitragspflicht unmöglich gemacht hat. In solchen Fällen ist die Einzugsstelle berechtigt, die Beiträge von der feststellbaren Gesamtlohnsumme zu erheben, wie dies in dem hier zur Entscheidung stehenden Fall geschehen ist (BSGE 37, 114; 41, 297; ferner Urteile vom 29. April 1976 - 12/3 RK 38/75 - USK 7630 und 23. Februar 1977 - 12 RK 34/76 -).

Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, um entscheiden zu können, ob die Klägerin ihre Mitwirkungspflichten, vor allem die Aufzeichnungspflicht, schuldhaft verletzt und so der Beklagten den Beweis der Versicherungspflicht der Kartoffelschälkräfte unmöglich gemacht hat. Die Feststellung in dem angefochtenen Urteil, es seine keine konkreten Umstände erkennbar oder dargetan, die die Folgerungen rechtfertigen könnten, die Klägerin habe im Laufe des Verwaltungsverfahrens durch ihr Verhalten die Feststellung der Versicherungspflicht ihrer Beschäftigten schuldhaft vereitelt, bezieht sich nur auf das durch die Betriebsprüfung eingeleitete Verwaltungsverfahren und nicht auf Verletzungen der Aufzeichnungspflicht.

Eine schuldhafte Verletzung der Aufzeichnungspflicht kann nicht allein damit begründet werden, daß Aufzeichnungen nicht vorhanden waren. Die Klägerin behauptet nämlich, daß ihr durch die zuvor zuständige Landkrankenkasse bedeutet worden sei, daß sie für die Kartoffelschälkräfte keine Beiträge abzuführen brauche. Hinzu kommt, daß durch das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 24. November 1955 - FG I 27-29/54 L - ihre Auffassung bestätigt worden war, daß es sich bei diesen Hilfskräften nicht um Arbeitnehmer handele. Nun mag sich zwar die Gestaltung der Kartoffelschälarbeiten seit 1955 geändert haben. Es bedürfte aber angesichts dieser Entscheidung des Nachweises erheblicher Veränderungen oder sonstiger Hinweise, die der Klägerin aufdrängen mußten, daß es sich hier um versicherungspflichtige Arbeitnehmer handeln könnte und sie veranlassen mußten, eine Klärung herbeizuführen. Auch dies erübrigte sich aber, wenn die Behauptung der Klägerin zutrifft, daß die damals zuständige Landkrankenkasse ebenfalls die Auffassung vertreten hat, daß Versicherungspflicht nicht anzunehmen sei.

Die erforderlichen Feststellungen zum Verschulden der Klägerin muß das LSG noch nachholen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650125

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