Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit. künstliche Beatmung

 

Leitsatz (redaktionell)

Kommt das LSG nach rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu dem Ergebnis, daß die Krankenbehandlung nur mit den besonderen Mitteln eines Krankenhauses möglich ist, so ist das Revisionsgericht an diese Tatsachenfeststellung gebunden.

 

Orientierungssatz

Ist die künstliche Beatmung zur Lebenserhaltung notwendig und wegen der erforderlichen ständigen Rufbereitschaft eines Anästhesisten nur in einem Krankenhaus möglich, so sind die Voraussetzungen für die Verpflichtung der Krankenkasse zur Gewährung von Krankenhausbehandlung erfüllt.

 

Normenkette

RVO § 184 Abs. 1; SGG § 128 Abs. 1, § 163

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 05.04.1984; Aktenzeichen L 16 Kr 24/83)

SG Detmold (Entscheidung vom 17.08.1978; Aktenzeichen S 10 Kr 81/77)

 

Tatbestand

Die klagende Ortskrankenkasse begehrt von dem beklagten Landschaftsverband als Sozialhilfeträger die Erstattung von Krankenhauspflegekosten für die Behandlung des Rüdiger B. (B.) für die Zeit vom 1. November 1976 bis 15. Mai 1977.

B. ist der Sohn des bis zum 15. Mai 1977 bei der Klägerin versichert gewesenen Bruno B. Er erlitt am 16. Oktober 1974 einen Unfall, bei dem er sich eine Querschnittslähmung bei Fraktur des 3. bis 5. Halswirbels zuzog. Seitdem wird er ununterbrochen in der Intensivstation der Städtischen Krankenanstalten in B. stationär behandelt. Die Klägerin kam aufgrund eines Berichtes des Chefarztes dieser Abteilung vom 7. Oktober 1976 zu dem Schluß, die Voraussetzungen für eine Krankenhausbehandlung seien nicht mehr erfüllt, B. sei vielmehr ein Pflegefall. Sie verneinte daher gegenüber den Krankenanstalten ihre weitere Zahlungspflicht mit Ablauf des 31. Oktober 1976, erklärte sich jedoch bereit, die Kosten gemäß § 43 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB I) vorläufig zu tragen. Zugleich meldete sie unter dem 22. Dezember 1976 bei dem Beklagten ihren "Ersatzanspruch aus § 43 SGB I und § 1531 RVO" an.

Nachdem der Beklagte seine Verpflichtung zur Kostentragung verneint hatte, weil die Klägerin weiterhin leistungspflichtig sei, erhob die Klägerin Klage. Mit seinem Urteil vom 17. August 1978 hat das Sozialgericht Detmold (SG) die Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die von der Klägerin gegen das Urteil des SG eingelegte Berufung zunächst wegen fehlenden Rechtswegs zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zurückgewiesen. Nachdem dieses Urteil von dem Bundessozialgericht (BSG) mit dem Urteil vom 14. Dezember 1982 - 8 RK 31/81 - aufgehoben und die Sache an das LSG zurückverwiesen worden war, hat das LSG nach weiterer Beweisaufnahme die Berufung mit seinem Urteil vom 5. April 1984 aus sachlichen Gründen zurückgewiesen. Die Behandlung des B. in der streitigen Zeit sei erforderliche Krankenhauspflege gewesen, worauf der Vater des B. im Rahmen seines Familienkrankenpflegeanspruchs gegen die Klägerin einen Rechtsanspruch gehabt habe, so daß sie keinen Erstattungsanspruch gegen den Beklagten als zuständigen Träger habe. Das LSG ist zu dem Ergebnis, daß die Krankheit des B. die Behandlung mit den Mitteln eines Krankenhauses erfordere, aufgrund fachärztlicher Gutachten und Stellungnahmen gelangt, die im ersten und zweiten Rechtszug eingeholt worden waren.

Mit der von dem LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine unrichtige Anwendung des § 184 der Reichsversicherungsordnung (RVO), die darauf beruhe, daß das LSG die erhobenen Beweise - insbesondere die erstatteten Gutachten und ärztlichen Stellungnahmen - in der entscheidenden Frage, ob eine Behandlung des B. auch außerhalb eines Krankenhauses möglich sei, denkgesetzlich falsch gewertet habe.

Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 5. April 1984 sowie das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 17. August 1978 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die Kosten der stationären Behandlung des Rüdiger B. aus der Zeit vom 1. November 1976 bis 15. Mai 1977 zu erstatten, hilfsweise, den Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend; insbesondere habe das LSG die Grenzen seines Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht überschritten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Das LSG hat ihre gegen das die Klage abweisende Urteil des SG gerichtete Berufung zu Recht zurückgewiesen. Sie hat den streitigen Erstattungsanspruch gegen den Beklagten nicht.

Der erkennende Senat hat in der anhängigen Sache bereits mit seinem Urteil vom 14. Dezember 1982 (aaO) entschieden, daß für den streitigen Anspruch der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist. An diese Entscheidung ist nicht nur das LSG, sondern auch der Senat selbst gebunden.

Der geltend gemachte Anspruch besteht nicht, weil die Klägerin nicht nur vorläufig, sondern nach § 205 iVm § 184 RVO endgültig zur Gewährung der Krankenhauspflege verpflichtet war.

Nach den Feststellungen des LSG war die lebenserhaltende Krankenbehandlung des B. in der streitigen Zeit nur mit den besonderen Mitteln eines Krankenhauses möglich. Das LSG hat seiner Entscheidung die ständige einschlägige Rechtsprechung des BSG zur Frage der Abgrenzung von Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit und sogenanntem Pflegefall zugrunde gelegt (vgl ua SozR 2200 § 184 Nr 11, BSGE 47, 83, 85 mwN). Es ist unter Auswertung der erstatteten medizinischen Gutachten und eingeholten Stellungnahmen in tatsächlicher Hinsicht zu der Überzeugung gelangt, die unstreitig erforderliche ständige Beatmung mit Hilfe eines sogenannten Respirators und dessen regelmäßige Wartung und Überwachung durch entsprechend geschultes Pflegepersonal sei nicht ausreichend, um das Behandlungsziel, nämlich die Erhaltung des Lebens des B., sicherzustellen. Ausreichend sei auch nicht, daß eine ständig bereite technisch geschulte Pflegekraft bei einem Ausfall des Beatmungsgeräts ein zweites einsatzbereites Gerät anschließen könne. Vielmehr müsse ein Facharzt für Anästhesie "ständig rufbereit" sein, um bei einem Ausfall des Beatmungsgerätes festzustellen, ob und ggf welche Schädigungen bei dem Patienten eingetreten sind und entsprechende fach-medizinische Behandlungsmaßnahmen vorzunehmen. Eine solche jederzeitige Einsatzbereitschaft eines Anästhesisten sei aber nur in einem Krankenhaus sichergestellt. Die Möglichkeit, einen "Notarzt" oder einen sonst frei praktizierenden Arzt herbeizurufen, reiche demgegenüber nicht aus, denn die mit einem derartigen Einsatz verbundenen Risiken - mindestens unvermeidliche Verzögerungen - seien so erheblich, daß in hohem Maße mit der Gefahr nicht wiedergutzumachender Schädigungen des Patienten gerechnet werden müsse. An diese Tatsachenfeststellungen ist der erkennende Senat gebunden, denn die von der Klägerin dagegen erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch. Das LSG hat die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung nach § 128 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht verletzt. Es hat nicht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder gegen Denkgesetze verstoßen. Insbesondere hat es sich nicht, wie die Klägerin rügt, mit bestimmten Ausführungen der Sachverständigen in logischen Widerspruch gesetzt.

In den von der Klägerin wiedergegebenen Teilen des Gutachtens von Prof. Dr. G. ist kein Widerspruch zu erkennen, der den Feststellungen des LSG wenigstens insoweit entgegenstünde, als es sich hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Beweise zu erheben. Das gilt insbesondere für den Hinweis auf die sogenannte Heimdialyse. Es handelt sich dabei um eine ganz andere Art der Behandlung mit technischen Geräten. Jedenfalls läßt das Gutachten von Prof. Dr. G. deutlich erkennen, daß er eine risikofreie Behandlung mit Beatmungsgeräten außerhalb eines Krankenhauses in Übereinstimmung mit der Auffassung einschlägiger Fachkreise zur Zeit jedenfalls nicht für möglich hält.

Auch die Stellungnahmen der Dres. B. und M. stehen dem Beweisergebnis des LSG nicht zwingend entgegen. Es mag sein, daß die Ausführungen dieser Ärzte auch anders verstanden werden könnten. Jedenfalls vermag der erkennende Senat aber keine unüberbrückbare Unvereinbarkeit mit der Würdigung des LSG zu erkennen, so daß das LSG sich nicht gedrängt zu fühlen brauchte, die entscheidende Frage eingehender mit den Sachverständigen zu erörtern. Dr. M. hat bestimmte Prämissen aufgestellt, unter denen er eine ständige Anwesenheit eines Anästhesisten bei dem Patienten nicht für erforderlich hält, wohl aber offenbar die eines fachkundigen Pflegers in Verbindung mit einem einsatzbereiten zweiten Beatmungsgerät. Ob er damit die "Rufbereitschaft" eines Anästhesisten, wie sie das LSG aus den von ihm dargelegten Gründen für notwendig hält, als nicht erforderlich ansieht, läßt sich jedenfalls nicht zwingend aus seiner Stellungnahme herleiten. Wenn Dr. M. darauf hinweist, es seien ihm persönlich und aus der Literatur Fälle bekannt, in denen Patienten bei einer sichergestellten pflegerischen Betreuung "rund um die Uhr" auch außerhalb von Krankenhäusern lebten und sogar arbeiteten, steht das nicht zwingend der Annahme der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit des B. entgegen. Der Umstand, daß einzelne in gleicher Weise wie B. Geschädigte außerhalb von Krankenhäusern leben, kann auf eine besonders starke psychische Konstitution zurückzuführen sein, die den Betroffenen Risiken übernehmen läßt, die nicht er, sondern die Krankenversicherung zu tragen hat. Die Klägerin hat insoweit selbst vorgetragen, daß Bemühungen, auch unter Mitwirkung der Eltern, B. außerhalb des Krankenhauses unterzubringen, bisher nicht erfolgreich gewesen sind.

Die Ausführungen von Dr. B. schließlich sind nicht, wie die Klägerin meint, "eindeutig" dahin zu verstehen, daß er der Meinung sei, ein wie B. Geschädigter könne auch außerhalb eines Krankenhauses behandelt und gepflegt werden. Dr. B. sagt am Schluß der von der Klägerin zitierten Stelle in seiner Beurteilung, die Voraussetzungen für ein Leben außerhalb eines Krankenhauses müßten aber erst geschaffen werden, so daß die entsprechenden Überlegungen in dieser Richtung rein theoretischer Natur sein müßten. Wenn das LSG dann aus der Passage ..."bei entsprechender Unterweisung von Angehörigen und Pflegepersonal wäre eine ständige Überwachung durch den Anästhesisten nicht unbedingt erforderlich, da Störfälle bei entsprechender Unterweisung zumindest vorübergehend kompensiert werden könnten bis ein entsprechender Anästhesist zur Verfügung steht, wie dies auch im Klinikalltag der Fall ist", herleitet, die Rufbereitschaft eines Anästhesisten müsse sichergestellt sein, was nur in einem Krankenhaus möglich sei, ist das kein offensichtlicher Fehlschluß. Selbst wenn, wie die Klägerin vorträgt, die Gutachter übereinstimmend der Auffassung wären, daß unter bestimmten Voraussetzungen B. auch außerhalb eines Krankenhauses leben könnte, würde das der Entscheidung des LSG nicht entgegenstehen, denn es hat im einzelnen begründet, daß bei einem Versagen des Beatmungsgerätes die Gefahr irreversibler Schäden oder gar des Todes bestehe, der nur dadurch entgegengewirkt werden könne, daß ein Anästhesist jederzeit kurzfristig eingreifen könne, was nur in einem entsprechend ausgestatteten Krankenhaus möglich sei. Tatsachen, die mit diesem Beweisergebnis unvereinbar sind, hat die Klägerin in den von ihr vorgetragenen Ausführungen der Sachverständigen nicht aufzeigen können.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660641

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