Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsweg bei Erstattungsstreit zwischen Sozialversicherungs- und Sozialhilfeträger

 

Orientierungssatz

1. Bei einem Streit um den Erstattungsanspruch zwischen einem vorleistenden Träger der Sozialversicherung und einem Träger der Sozialhilfe handelt es sich um eine Angelegenheit der Sozialversicherung iS des § 51 Abs 1 SGG.

2. Nach § 43 Abs 1 SGB 1 kann ein Krankenversicherungsträger auch im Verhältnis zu einem Sozialhilfeträger vorleisten; der Erstattungsanspruch der zur Vorleistung verpflichteten Krankenkasse richtet sich entsprechend § 43 Abs 3 SGB 1 nach dem Recht des vorleistenden Leistungsträgers.

3. Die Vorschrift des § 43 SGB 1 ermächtigt den zuerst angegangenen Sozialleistungsträger nicht nur zur Leistung, sondern verpflichtet ihn dazu. Dies gilt auch im Verhältnis eines Sozialversicherungsträgers zum Sozialhilfeträger, wenn dessen Eintrittspflicht bestritten ist.

4. Der Sozialhilfeträger kann sich nur dann auf das Sozialhilferecht, insbesondere auf den Nachrang seiner Leistung berufen, wenn der Sozialversicherungsträger zu Unrecht nach seinem Leistungsrecht geleistet hat und erst nachträglich erkennt, daß nicht er, sondern der Sozialhilfeträger zuständig war. In einem solchen Fall ist der Rechtsweg zu den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit gegeben.

 

Normenkette

SGG § 51 Abs 1 Fassung: 1953-09-03; SGB 1 § 43 Abs 3 Fassung: 1975-12-11; SGB 1 § 43 Abs 1 S 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 22.01.1981; Aktenzeichen L 16 Kr 231/78)

SG Detmold (Entscheidung vom 17.08.1978; Aktenzeichen S 10 Kr 81/77)

 

Tatbestand

Die klagende Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) verlangt von dem beklagten Sozialhilfeträger, ihr die Kosten der Krankenhauspflege zu erstatten, die sie dem familienhilfeberechtigten Kind R. B. des Versicherten B. B. in der Zeit vom 1. November 1976 bis zum 15. Mai 1977 geleistet hat.

R. erlitt im Jahre 1974 im Alter von 16 Jahren im Hallenbad in B. einen Unfall, durch den er sich einen Bruch von Halswirbeln und damit eine Querschnittslähmung zuzog. Er wird seitdem ununterbrochen in der Intensivstation eines Krankenhauses durch Dauerbeatmung und weitere ärztliche und pflegerische Maßnahmen am Leben erhalten.

Die Klägerin lehnte ab 1. November 1976 eine weitere Kostenzusage an das Krankenhaus ab, weil ein Zustand eingetreten sei, der durch Krankenhauspflege nach § 184 Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht mehr gebessert werden könne. Nunmehr sei der Beklagte zur Hilfe im Wege der Eingliederungshilfe nach §§ 39 ff Bundessozialhilfegesetz (BSHG) verpflichtet.

Da sich der Beklagte dieser Meinung nicht anschloß, erklärte sich die Klägerin bereit, nach § 43 Abs 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) vorläufig zu leisten.

Das Sozialgericht (SG) hat die auf § 43 Abs 2 SGB I gestützte Klage auf Erstattung der Kosten (über 22.000,-- DM) als unbegründet abgewiesen, weil die gesetzliche Krankenversicherung auch für Fälle zuständig sei, in denen die Krankheitsbeschwerden nur noch gelindert werden könnten (Urteil des SG Detmold vom 17. August 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage als unzulässig abgewiesen. Klagegegenstand sei nicht die Frage, ob dem Versicherten in der streitigen Zeit ein Krankenversicherungsanspruch für seinen Sohn zugestanden habe. Klagegegenstand sei vielmehr der erhobene Anspruch, der sich auf einen Sozialhilfeanspruch stütze. Dafür seien aber die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nach § 51 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nicht zuständig. Zuständig seien die Gerichte der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit (§§ 40, 188 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO-; Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Januar 1981).

Die Klägerin hat die vom erkennenden Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 51 SGG.

Sie beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein- Westfalen vom 22. Januar 1981 und das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 17. August 1978 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die für R. verauslagten Krankenhauskosten für die Zeit vom 1. November 1976 bis zum 15. Mai 1977 zu er- statten, hilfsweise den Rechtsstreit an das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen, weiter hilfsweise den Rechtsstreit an das zuständige Verwaltungsgericht zu verweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist gegeben.

Die hier zu entscheidende Streitigkeit ist eine Angelegenheit der Sozialversicherung iS des § 51 Abs 1 SGG. Im Streit ist ein Erstattungsanspruch zwischen einem Träger der Sozialversicherung und einem Träger der Sozialhilfe. Nicht im Streit ist ein Sozialversicherungsanspruch, der im Sozialrechtsweg geltend zu machen wäre (§ 51 Abs 1 SGG). Im Streit ist auch nicht ein Sozialhilfeanspruch, der auf dem Rechtsweg zu den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit geltend gemacht werden müßte (§§ 40, 188 VwGO). Im Streit ist vielmehr ein Anspruch, der weder eindeutig zur Sozialgerichtsbarkeit noch eindeutig zur allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit gehört. Gehört ein Anspruch nicht eindeutig zu einer bestimmten Gerichtsbarkeit, so ist die Natur des Rechtsverhältnisses entscheidend, aus dem der Klageanspruch abgeleitet wird (vgl Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz mit Erläuterungen, 2. Aufl § 51 Anm 2 mN).

Die Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem der Klageanspruch abgeleitet wird, wird von der Anspruchsgrundlage bestimmt. Anspruchsgrundlage ist die Rechtsfigur des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs, die in § 43 SGB I vorausgesetzt, allerdings nicht ausdrücklich geregelt ist. Der hier vorausgesetzte Anspruch ist gegeben, wenn der klagende öffentlich-rechtliche Leistungsträger vorgeleistet hat, dh geleistet hat, obwohl er nicht sich, sondern einen anderen Leistungsträger für zuständig hielt. Der Erstattungsanspruch des so vorleistenden Leistungsträgers gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger richtet sich nach den für den vorleistenden Leistungsträger geltenden Rechtsvorschriften. Mit dieser in § 43 Abs 3 SGB I getroffenen Regelung ist die Natur des hier geltend gemachten öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs gekennzeichnet. Der klagende Leistungsträger hat zwar nicht nach den für ihn geltenden besonderen Vorschriften geleistet, weil er deren Voraussetzungen nicht für gegeben hielt, sondern nach der für alle Leistungsträger geltenden Vorschrift des § 43 Abs 1 SGB I. Für den wegen dieser Vorleistung gegebenen Erstattungsanspruch gelten aber die für den vorleistenden Leistungsträger maßgebenden besonderen Vorschriften - hier die des Sozialversicherungsrechts - und nicht die für den angeblich verpflichteten Leistungsträger einschlägigen besonderen Vorschriften - hier die des Sozialhilferechts -.

Die Meinung des Beklagten, ein Sozialhilfeträger könne auch in Erstattungsstreitigkeiten nur nach Sozialhilferecht in Anspruch genommen werden, trifft nicht zu. Der Sozialhilfeträger kann sich allerdings dann auf Sozialhilferecht, insbesondere den Nachrang seiner Leistungen, berufen, wenn der andere Leistungsträger zu Unrecht nach seinem Leistungsrecht geleistet hat und erst nachträglich erkennt, daß nicht er, sondern der Sozialhilfeträger zuständig war (BVerwGE 60, 236, 240). In einem solchen Fall ist der Rechtsweg zu den Gerichten der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit gegeben.

So liegt der Sachverhalt hier aber gerade nicht. Hier hat der klagende Leistungsträger zu Recht geleistet, nämlich auf der Rechtsgrundlage des § 43 Abs 1 SGB I. Er war nicht nur zur Vorleistung ermächtigt (§ 43 Abs 1 Satz 1 SGB I), sondern dazu verpflichtet (§ 43 Abs 1 Satz 2 SGB 1).

Die Klägerin war unstreitig zunächst nach §§ 182 ff, 205 RVO verpflichtet, Krankenpflege für den Sohn des Versicherten zu gewähren. Als sich ihrer Meinung nach der Krankenpflegefall in einen reinen Pflegefall entwickelt hatte, ihre Zuständigkeit entfallen und der Beklagte zuständig geworden war, unterrichtete sie den Beklagten. Dieser verneinte seine Leistungspflicht allein mit der Begründung, die Klägerin sei zuständig geblieben. Damit waren die Voraussetzungen des § 43 Abs 1 SGB I erfüllt: Es war streitig, wer den im übrigen unbestrittenen Leistungsanspruch zu erfüllen hatte. Die Klägerin war jedenfalls nach Satz 1 dieser Vorschrift befugt zu leisten, weil sie zuerst "angegangen" war. Da sich jedoch der Leistungsantrag des Versicherten auf die Abwicklung des ganzen Versicherungsfalles durch die Klägerin bezog (vgl BSGE 42, 20, 22), war die Klägerin darüber hinaus nach Satz 2 dieser Vorschrift zur Weiterleistung verpflichtet.

Da der Sozialhilfeträger zu den Leistungsträgern des SGB I gehört (§ 12 Satz 1 und § 28 SGB I), gilt § 43 SGB I auch für ihn. Seine Erstattungspflicht richtet sich gem § 43 Abs 3 SGB I nach den für den vorleistenden Leistungsträger geltenden Vorschriften. Die Natur des Rechtsverhältnisses ist damit sozialversicherungsrechtlich geprägt. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind zuständig. Diese Rechtswegfolge hat der Gesetzgeber bereits klargestellt, allerdings in einem Gesetz, das erst am 1. Juli 1983 in Kraft tritt (vgl § 114 des Sozialgesetzbuchs - Zusammenarbeit der Leistungsträger und ihre Beziehungen zu Dritten - vom 4. November 1982 und Art II § 25 dieses Gesetzes -BGBl I 1480-).

Da das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig keine tatsächlichen Feststellungen dazu getroffen hat, ob sich der Krankenpflegefall zu einem reinen Pflegefall entwickelt hat, war der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653647

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