Leitsatz (amtlich)

Eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ist iS des RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1 nur dann "unterbrochen", wenn und solange nach den Umständen des Falles, insbesondere nach dem Leistungsvermögen des arbeitsunfähigen Versicherten und seiner Leistungsbereitschaft, die Erwartung begründet ist, daß er in absehbarer Zeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit fortsetzen wird, indem er entweder auf seinen bisherigen Arbeitsplatz zurückkehrt oder eine andere, seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende Arbeit aufnimmt.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, § 182 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1967-12-21

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 06.05.1976; Aktenzeichen L 3 J 134/74)

SG Lübeck (Entscheidung vom 26.05.1974; Aktenzeichen S 5 J 220/73)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Mai 1976 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anrechnung einer weiteren Ausfallzeit wegen Arbeitsunfähigkeit für das Altersruhegeld des Klägers. Dieser ist am 3. Oktober 1907 geboren und war in den letzten 22 Jahren seines Arbeitslebens als Kranführer beschäftigt. Seit Mitte Dezember 1970 ist er arbeitsunfähig krank und bezog Krankengeld bis zur "Aussteuerung" am 11. Dezember 1971 und dann wieder - nach Beginn einer neuen Rahmenfrist - ab 18. Mai 1972. In der Zwischenzeit erhielt er zunächst Sozialhilfe, bis die Beklagte ihm aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs vom April 1972 rückwirkend ab 1. Dezember 1971 Berufsunfähigkeitsrente gewährte; diese wandelte sie - nachdem der Kläger im Oktober 1972 das 65. Lebensjahr vollendet hatte - ab November 1972 in ein Altersruhegeld um (Bescheid vom 12. Dezember 1972). Dabei berücksichtigte sie als Ausfallzeit wegen Arbeitsunfähigkeit (§ 1259 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) nur die Zeit bis Ende 1971, nicht dagegen die anschließende Zeit bis zum Beginn des Altersruhegeldes (1. Januar bis 31. Oktober 1972).

Die Klage, mit der der Kläger auch die Anrechnung der Zeit von Januar bis Oktober 1972 als Ausfallzeit begehrt, blieb in den Vorinstanzen ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 6. Mai 1974 und des Landessozialgerichts - LSG - vom 6. Mai 1976). Das LSG hat den Kläger für die Zeit bis zum Wiederbeginn des Krankengeldes nicht als arbeitsunfähig iS des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO angesehen, weil er nach einem ärztlichen Gutachten vom April 1972 noch vollschichtig leichte einfache Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verrichten könne, die ihm auch zumutbar seien; die weitere Zeit des Krankengeldbezugs sei keine Ausfallzeit, weil sie nicht eine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen habe.

Der Kläger wendet sich mit der zugelassenen Revision gegen die Ansicht des LSG, der Begriff der Arbeitsunfähigkeit habe in § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO einen anderen Inhalt als im Recht der Krankenversicherung. Als "Standardbegriff des gesamten Arbeits- und Sozialrechts" habe er hier wie dort die gleiche Bedeutung, wie sich auch aus § 1227 Abs 8 a RVO ergebe. Wenn man im übrigen einen Arbeitsunfähigen nach der Aussteuerung mit Krankengeld rentenrechtlich so behandele, als ob er eine ihm nach Treu und Glauben zumutbare Tätigkeit ausübe, so verstoße dies gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des LSG vom 6. Mai 1976 und des SG vom 6. Mai 1974 aufzuheben sowie die Beklagte unter Änderung ihres Bescheides vom 12. Dezember 1972 zu verurteilen, die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. Oktober 1972 zusätzlich als Ausfallzeit beim Altersruhegeld zu berücksichtigen.

Die Beklagte hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für richtig und beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat die streitige Zeit im Ergebnis zutreffend nicht als eine Ausfallzeit iS des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO angesehen.

Nach dieser Vorschrift sind Ausfallzeiten "Zeiten, in denen eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit durch eine infolge Krankheit oder Unfall bedingte Arbeitsunfähigkeit ... mindestens einen Kalendermonat unterbrochen worden ist, wenn sie in den Versicherungskarten oder sonstigen Nachweisen bescheinigt sind". Voraussetzung für die Anrechnung einer Ausfallzeit ist hiernach, daß der Versicherte eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat und diese durch eine krankheits- oder unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit unterbrochen worden ist.

Daß der Kläger seit Mitte Dezember 1970, und zwar auch noch während der streitigen Zeit (1. Januar bis 31. Oktober 1972), iS des Rechts der Krankenversicherung (§ 182 Abs 1 Nr 2 RVO) infolge von Krankheit arbeitsunfähig war, hat das LSG unangefochten festgestellt. Ob damit bei ihm auch Arbeitsunfähigkeit iS des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO vorlag, hängt davon ab, ob der Arbeitsunfähigkeitsbegriff hier denselben Inhalt hat wie im Krankenversicherungsrecht, Arbeitsunfähigkeit mithin schon dann zu bejahen ist, wenn der Versicherte seine zuletzt ausgeübte oder eine ähnlich geartete Tätigkeit nach seinem Gesundheitszustand nicht mehr verrichten kann (BSGE 26, 288, 290). Wäre dieser Begriff auch für § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO maßgebend, so wäre der "Verweisungsrahmen" für den Versicherten auch insoweit eng - auf "ähnlich geartete" Tätigkeiten - begrenzt. Eine Ausfallzeit wegen Arbeitsunfähigkeit könnte dann unter Umständen auch Versicherten angerechnet werden, deren allgemeine Erwerbsfähigkeit durch Krankheit kaum gemindert wäre, die insbesondere noch eine iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbare Tätigkeit ausüben könnten, von dieser Möglichkeit jedoch keinen Gebrauch machen, sondern sich dafür eine - von der Versichertengemeinschaft finanzierte - Ausfallzeit anrechnen lassen. Dagegen bestehen solange keine Bedenken, als die Arbeitsunfähigkeit bei ihnen ein kurzfristiger oder wenigstens vorübergehender Zustand bleibt, namentlich nicht in einen Dauerzustand übergeht (vgl hierzu BSG aaO S. 290).

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat deshalb für Zeiten, in denen ein arbeitsunfähiger Versicherter Krankengeld bezieht - innerhalb einer dreijährigen Rahmenfrist höchstens für 78 Wochen (§ 183 Abs 2 Satz 1 RVO) - grundsätzlich auch Arbeitsunfähigkeit iS des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO angenommen, weil der Gesetzgeber insoweit die Ausübung einer Tätigkeit vom Versicherten nicht erwarte (vgl BSGE 29, 77, 80 f; 32, 232, 234). Für diese Auffassung, die in gewissem Umfange die Anrechnung einer Ausfallzeit an den Bezug von Krankengeld koppelt, spricht, daß sie einerseits das Risiko für die Versichertengemeinschaft von vornherein zeitlich begrenzt, andererseits einen arbeitsunfähigen Versicherten nicht zwingt, sich vorzeitig auf eine neue Tätigkeit umzustellen, sondern ihm genügend zeitlichen Spielraum läßt, eine etwaige Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit abzuwarten und danach auf seinen alten Arbeitsplatz zurückzukehren.

Überdauert die Arbeitsunfähigkeit jedoch die Zeit des Krankengeldbezuges oder wird sie sogar zu einem Dauerzustand, dann ist insoweit die Anrechnung einer Ausfallzeit problematisch. Für diese Fälle hat deshalb die Rechtsprechung versucht, den Begriff der Arbeitsunfähigkeit iS des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO anders als im Krankenversicherungsrecht zu bestimmen, insbesondere den "Verweisungsrahmen" für den arbeitsunfähigen Versicherten weiter auszudehnen, und zwar nicht nur auf alle nach § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO zumutbaren Tätigkeiten (so wohl noch BSGE 29, 77 und das LSG im angefochtenen Urteil), sondern darüber hinaus auf alle "leichteren außerberuflichen Tätigkeiten" (BSGE 32, 232, 233 unten), schließlich auf jede "versicherungspflichtige, ihm unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (§ 242 BGB) zuzumutende Tätigkeit" (BSGE 35, 234). Der erkennende Senat ist diesen Versuchen, die Anrechnung von Ausfallzeiten wegen Arbeitsunfähigkeit durch eine Modifizierung des Begriffs der Arbeitsunfähigkeit auf ein vertretbares, dem Sinn des § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO entsprechendes Maß zu begrenzen, bisher mit Zurückhaltung begegnet (vgl zuletzt Urteil vom 22. Mai 1974, SozR 2200 § 1259 Nr 1). Auch der vorliegende Fall bietet keinen Anlaß zu einer grundsätzlichen Überprüfung dieser Auffassung, da eine sachgerechte Entscheidung hier (und möglicherweise auch sonst, soweit nicht schon die neue Vorschrift des § 1227 Abs 1 Nr 8 a RVO eingreift) auf einem anderen Wege zu gewinnen ist.

Nach § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO kann eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit nur dann als Ausfallzeit angerechnet werden, wenn durch sie eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit "unterbrochen" worden ist. Der Begriff der Unterbrechung steht dabei in sprachlichem und sachlichem Gegensatz zu dem der Beendigung der Beschäftigung; von ihr unterscheidet sich eine Unterbrechung dadurch, daß sie ein ihrer Natur nach vorübergehender Zustand ist, der nach den Umständen des Falles, insbesondere nach dem Leistungsvermögen des Versicherten und seiner Leistungsbereitschaft, die Erwartung begründet, daß er in absehbarer Zeit eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit fortsetzen wird, indem er entweder auf seinen bisherigen Arbeitsplatz zurückkehrt oder eine andere, seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende Arbeit aufnimmt. Nur wenn und solange diese Fortsetzungserwartung besteht, dauert auch die Unterbrechung an; sie endet daher, wenn für eine solche Erwartung keine hinreichenden Anhaltspunkte mehr vorliegen (vgl zum Ausscheiden aus dem Erwerbsleben wegen Erwerbsunfähigkeit die Urteile des BSG in SozR 2200 § 1259 Nr 9, 10, 15 und 16). Dabei gilt nach der Rechtsprechung des BSG, wie ausgeführt, eine Beschäftigung oder Tätigkeit nur als "unterbrochen", nicht als beendet, solange dem arbeitsunfähigen Versicherten Krankengeld gezahlt wird. Im übrigen, dh für die Zeit nach Wegfall des Krankengeldes trotz fortdauernder Arbeitsunfähigkeit ("Aussteuerung"), ist dagegen jeweils zu prüfen, ob das Leistungsvermögen des arbeitsunfähigen Versicherten ausreicht, um eine Beschäftigung oder Tätigkeit in absehbarer Zeit fortzusetzen und, wenn dies der Fall ist, ob auch eine entsprechende Leistungsbereitschaft auf seiten des Versicherten bestanden hat. Dabei kann, insbesondere in zweifelhaften Fällen, mitberücksichtigt werden, wie sich das Arbeitsleben des Versicherten in der Folgezeit tatsächlich entwickelt hat (vgl auch SozR 2200 § 1259 Nr 9). Zunächst und in erster Linie ist jedoch - im Sinne einer vorausschauenden Betrachtung - von den Verhältnissen auszugehen, die bei Wegfall des Krankengeldes vorgelegen haben. Danach kann hier nicht zweifelhaft sein, daß der Kläger Ende 1971 aus dem Arbeitsleben ausgeschieden ist.

Als er im Dezember 1971 - im Alter von 64 Jahren - mit dem Bezug von Krankengeld ausgesteuert wurde, für seinen bisherigen Kranführerberuf aber weiterhin arbeitsunfähig blieb, hätte er nach seinem vom LSG festgestellten gesundheitlichen Leistungsvermögen noch andere leichte Tätigkeiten außerhalb seines bisherigen Berufs übernehmen können. Wenn er dies nicht tat, sondern sich mit dem Bezug von Sozialleistungen, zunächst sogar von Sozialhilfe, begnügte, so gab er damit zu erkennen, daß er nicht gewillt war, sich - etwa 10 Monate vor Erreichung der Altersgrenze (Vollendung des 65. Lebensjahres) - noch auf eine andere, seinem eingeschränkten Leistungsvermögen entsprechende Erwerbstätigkeit umzustellen. Seine im Dezember 1970 eingetretene Arbeitsunfähigkeit, die solange als vorübergehend anzusehen war, als er Krankengeld erhielt, wurde deshalb mit dem Wegfall des Krankengeldes zu einem Dauerzustand, der ein Ausscheiden aus dem Erwerbsleben bewirkte. Diese - zunächst aus der Sicht der Verhältnisse von Dezember 1971 gewonnene - Beurteilung hat sich in der Folgezeit bestätigt: Der Kläger ist weder auf seinen früheren Arbeitsplatz zurückgekehrt noch hat er eine andere Erwerbstätigkeit aufgenommen. Da somit die streitige Zeit der Arbeitsunfähigkeit des Jahres 1972 nicht die frühere versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen, sondern beendet hat, kann sie dem Kläger nicht als Ausfallzeit angerechnet werden. Seine Revision gegen das angefochtene Urteil ist im Ergebnis unbegründet.

Über die Kosten hat der Senat nach § 193 Sozialgerichtsgesetz entschieden.

 

Fundstellen

BSGE, 48

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