Entscheidungsstichwort (Thema)

Anrechnung einer Ausfallzeit in der Rentenversicherung

 

Normenkette

RVO § 182 Abs. 1 Nr. 2; RKG § 57 Nr. 1; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 1

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 10. November 1970 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Juli 1970 aufgehoben.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Seit vom 2. November 1962 bis zum 30. April 1969 als Ausfallzeit anzurechnen ist.

Der am 26. April 1904 geborene Ehemann der Klägerin war zuletzt bis zum 4. Mai 1961 außerhalb des Bergbaus als Schlosser tätig. Anschließend war er arbeitsunfähig krank und bezog von der Betriebskrankenkasse der Firma Deutsche Werft AG Hamburg für die Zeit bis zum 1. November 1952 das Krankengeld. Nach dem 4. Kai 1961 war der Ehemann der Klägerin nicht mehr berufstätig. Die Hannoversche Knappschaft gewährte ihm mit Bescheid vom 15. Februar 1963 die Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. September 1961 an. Sie wandelte diese Leistung mit Bescheid vom 23. Juni 1969 für die Zeit vom 1. Mai 1969 an in das Knappschaftsruhegeld nach § 48 Abs. 1 Nr. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (BKG) um. Mit dem Widerspruch begehrte der Ehemann der Klägerin die Anrechnung der Zeit vom 1. Juni 1961 bis zum 30. April 1969 als Ausfallzeit. Die Widerspruchsstelle erkannte die Zeit vom 1. Juni 1961 bis zum 1. November 1962 als Ausfallzeit in der Rentenversicherung der Arbeiter an und wies den darüber hinausgehenden Widerspruch zurück. Entsprechend dem Widerspruchsbescheid stellte die Beklagte das Knappschaftsruhegeld mit Bescheid vom 2. Dezember 1969 neu fest.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 15. Juli 1970 unter Abänderung des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1969 und des Ausführungsbescheides vom 2. Dezember 1969 verurteilt, auch den Zeitraum vom 2. November 1962 bis zum 30. April 1969 als Ausfallzeit rentensteigernd zu berücksichtigen. Das Landessozialgericht (LSG) bat mit Urteil vom 10. November 1970 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Ehemann der Klägerin sei in der streitigen Zeit arbeitsunfähig krank gewesen, denn er sei wegen der bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen nicht in der Lage gewesen, die von ihm zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Schlosser zu verrichten. Der in § 57 Nr. 1 RKG und § 1259 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) enthaltene Begriff der Arbeitsunfähigkeit sei aus § 182 RVO übernommen, so daß die dazu entwickelten Grundsätze auch hier anzuwenden seien. Danach liege Arbeitsunfähigkeit schon dann vor, wenn der Versicherte wegen Krankheit unfähig sei, seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit zu verrichten. Die vorhandene Fähigkeit zur Verrichtung anderer Tätigkeiten schließe das nicht aus. Auch der gleichzeitige oder spätere Eintritt von Berufsunfähigkeit stehe der Annahme von Arbeitsunfähigkeit nicht entgegen. Das LSG, das damit bewußt von den Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Dezember 1968 (BSG 29, 77 = SozR Nr. 21 zu § 1259 RVO) und vom 7. Juli 1970 (12 RJ. 294/66) abgewichen ist, fühlt sich in Übereinstimmung mit der Entscheidung des BSG vom 13. Kai 1966 (BSG 25, 16 = SozR. Nr. 17 zu § 1259 RVO). Das LSG hat weiter ausgeführt, die in der streitigen Zeit bestehende krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit sei auch in Nachweisen bescheinigt, nämlich in den in den Rentenakten enthaltenen ärztlichen Äußerungen. Die mehr als einen Monat dauernde Arbeitsunfähigkeit habe auch die Versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen. Der Ehemann der Klägerin habe trotz der eingetretenen Berufsunfähigkeit sein Arbeitsleben noch nichtbeendet gehabt. Für die in § 57 Nr. 1 RKG und § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO geforderte Unterbrechung des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses genüge die Möglichkeit der Wiederaufnahme einer. Beschäftigung. Dem Ehemann der Klägerin wäre es möglich gewesen, seine Schlossertätigkeit wieder aufzunehmen, wenn sich sein Gesundheitszustand gebessert hätte. Zumindest aber wäre es nicht ausgeschlossen gewesen, daß er im Rahmen der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit versicherungspflichtig tätig geworden wäre, indem er leichtere, ungelernte Arbeiten verrichtete.

Der Ehemann der Klägerin starb nach Zustellung des Berufungsurteils am 15. Januar 1971. Die Beklagte hat danach am 28. Januar 1971 die - vom LSG angelassene - Revision eingelegt. Das LSG hat auf übereinstimmenden Antrag der Beteiligten mit Urteil vom 1. Juni 1971 entschieden, daß das Urteil vom 10. November 1970 für und gegen die Klägerin wirke.

Die Beklagte hat danach ihre Revision wiederholt. Sie ist der Ansicht, der Ehemann der Klägerin sei in der streitigen Zeit nicht arbeitsunfähig krank gewesen, denn er sei noch in der Lage gewesen, leichte bis mittelschwere Arbeiten vollschichtig zu verrichten. "Nach dem der Regelung in § 57 Nr.. 1 RKG und § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO zugrundeliegenden gesetzgeberischen Zweck sei anzunehmen, daß Arbeitsunfähigkeit im Sinne dieser Vorschriften - anders als in § 182 RVO - nicht schon dann vorliege, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen ausserstande sei, die zuletzt von ihm verrichtete Tätigkeit weiterhin auszuüben. Vielmehr sei mit der Rechtsprechung des 5. und. 12. Senats des BSG davon auszugehen, daß die Fähigkeit des berufsunfähigen Versicherten zur Verrichtung einer anderen Versicherungspflichtigen Tätigkeit die Arbeitsunfähigkeit ausschließe.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Berufungsgerichts sowie das Urteil des SG Hamburg vom 15. Juli 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen;

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin halt das angefochtene Urteil im Ergebnis für richtig und die Revision der Beklagten für unbegründet. Sie weist daraufhin, der Ehemann der Klägerin habe möglicherweise während dreier Dreijahreszeiträume einen Anspruch auf Zahlung von Krankengeld gehabt, denn nach der Rechtsprechung des BSG entstehe - bei durchlaufendem Versicherungsfall - nach der sperrenden Blockfrist jedesmal erneut beim Eintritt eines neuen Zeitraums der Anspruch auf Zahlung von Krankengeld für 78 Wochen. Im übrigen rügt die Klägerin, es fehle an einer gezielten Feststellung, ob ihr Ehemann in der streitigen Zeit krank im Sinne der Krankenversicherung gewesen sei. Die vorliegenden Gutachten hätten lediglich zur Frage der Erwerbsfähigkeit Stellung genommen.

II

Die zulässige Revision der Beklagten hat Erfolg. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zu Unrecht zurückgewiesen. Der Ehemann der Klägerin hatte zu seinen Lebzeiten keinen Anspruch auf ein höheres als das festgestellte Knappschaftsruhegeld. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 29, 77 - SozR Nr. 21 zu [xxxxx] 1259 RVO) und des 12. Senats (Urteil vom 7. Juli 1970 - 12 RJ 294/66 -; BSG 32, 232 = SozR Nr. 34 zu § 1259 RVO; Urteil vom 31. Januar 1973 - 12 RJ 312/72 -) kann die strittige Zeit nicht als Ausfallzeit anerkannt werden.

Dem LSG ist zwar darin zuzustimmen, daß die "Arbeitsunfähigkeit" kein dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung eigener Rechtsbegriff ist, sondern dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung entstammt. Die sich aus § 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO ergebenden Grundsätze müssen daher auch für die Anwendung des § 57 Nr. 1 RKG, § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO gelten. Dabei kann es sich allerdings nur um eine den Besonderheiten der Ausfallzeit Rechnung tragende Anwendung handeln; Abweichungen sind erforderlich, soweit es der von § 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO verschiedene Sinn und Zweck des § 57 Nr. 1 RKG. § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO gebieten (vgl. BSG 29, 77, 79; 32, 932, 233). Es ist zwar richtig, daß nach der Rechtsprechung des 3. Senats des BSG zu § 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO ein Versicherter, der wegen seiner Krankheit nicht mehr auf seinen früheren Arbeitsplatz zurückkehren und auch nicht eine ähnlich geartete Erwerbstätigkeit verrichten kann, arbeitsunfähig bleibt, auch wenn sein Zustand nicht mehr besserungsfähig ist (Urteil vom 30. Hai 1967, BSG 26, 288 = SozR Nr. 25 zu § 182 RVO). Doch hat der 3. Senat des BSG in seinem urteil vom 2. Oktober 1970 (BSG 32, 18 - SozR Nr. 40 zu § 182 RVO) diese Rechtsprechung dahin weiterentwickelt, daß ein Versicherter, der aus freien Stücken eine seinem Gesundheit saust and entsprechende Beschäftigung aufgenommen hat, trotz Unfähigkeit zur Verrichtung der früheren Arbeit bzw. einer ähnlichen Arbeit nur dann arbeitsunfähig ist, wenn er auch die neue Arbeit nicht mehr ausüben kann. In dieser Entscheidung ist zudem ausdrücklich offengelassen, wie zu entscheiden wäre, wenn ein langfristig Erkrankter, der seine bisherige Tätigkeit nicht mehr ausüben kann, sich weigern würde, für die Zukunft eine seinem Gesundheitszustand entsprechende Tätigkeit aufzunehmen. Vieles spricht nach Ansicht des erkennenden Senats für die Annahme, daß ein solcher Versicherter nicht mehr als arbeitsunfähig angesehen werden kann. Jedenfalls muß dies für die Anwendung des Arbeitsunfähigkeitsbegriffs in § 57 RKG (= § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO) gelten, weil Sinn und Zweck der Ausfallzeit dies gebieten.

Sinn und Zweck der Ausfallzeit ist es, dem Versicherten einen Ausgleich dafür zu geben, daß er infolge des Ausfalltatbestands nicht in der Lage war, durch Verrichtung einer Versicherungspflichtigen Tätigkeit Pflichtbeitragszeiten zurückzulegen. Dies bedeutet einmal, daß die Zeit, während welcher er zwar nicht in der Lage war, seine bisherige Tätigkeit bzw. eine ähnliche Tätigkeit auszuüben, in der er aber eine andere versicherungspflichtige Tätigkeit ausübt, nicht als Ausfallzeit anerkannt werden kann. Es würde dem Sinn und Zweck der Ausfallzeit widersprechen, wenn eine solche für eine Zeit anerkannt würde, wahrend welcher der Versicherte eine Beitragszeit auf Grund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung zurückgelegt hat. Gleiches muß aber auch für eine Zeit gelten, während welcher ein langfristig erkrankter Versicherter zwar nicht in der Lage war, seine bisherige bzw. eine ähnliche Tätigkeit, wohl aber eine andere, ihm nach Treu und Glauben (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches -BGB -) zumutbare - tatsächlich nicht verrichtete - (Tätigkeit auszuüben: Hier handelt es sich um einen (Tatbestand, für dessen rentenrechtlich nachteilige Folgen nicht nach § 57 Nr. 1 BKG (= § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO) die Solidargemeinschaft der Rentenversicherten, sondern unter dem Gesichtspunkt des billigerweise Zumutbaren der Kläger selbst einzustehen hat.

Entgegen der Auffassung des LSG steht das Urteil des 4. Senats vom 13. Mai 1966 (BSG 25, 16 = SozR Nr. 17 zu § 1259 RVO) dieser Entscheidung nicht entgegen. Denn der Senat weicht ebensowenig wie mit seinen bisherigen Erkenntnissen von dieser Entscheidung des 4. Senats ab. In dieser Entscheidung ist lediglich die spezielle Frage entschieden, ob eine Ausfallzeit auch dann an erkannt werden kann, wenn Arbeitsunfähigkeit und Berufsunfähigkeit gleichzeitig eingetreten sind; zu der hier entschiedenen Rechtsfrage hat dagegen der 4. Senat keine Stellung genommen.

Der während der streitigen Zeit bereits langfristig erkrankte Ehemann der Klägerin ist nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG, die den Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) binden, während dieser Zeit durch die bei ihm bestehenden Gesundheitsstörungen nicht gehindert gewesen, die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit durch Verrichtung einer versicherungspflichtigen leichten, ungelernten Arbeit zu nutzen. Darunter befindet sich auch eine Anzahl von Tätigkeiten, die ihm nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht unzumutbar waren. Bas trifft insbesondere auf die in den medizinischen Gutachten genannten Tätigkeiten (Aufseher am Werkplatz, Tätigkeiten in der Materialausgabe, Pförtnertätigkeit u.ä.) zu. Diese Zeit kann daher nicht als Ausfallzeit anerkannt werden.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Beklagte hat zwar in ihrer Revision auch das urteil des LSG vom 1. Juni 1971 als mit angefochten bezeichnet. Tatsächlich richtet sich die Revision der Beklagten aber nicht gegen dieses Urteil, denn die Beklagte räumt ein, daß die Klägerin nach § 88 Abs. 2 RKG die Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes ist und berechtigt war, das durch den Tod des Ehemannes der Klägerin unterbrochene Verfahren fortzusetzen. Insoweit ist also weder das Urteil des LSG aufzuheben noch die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Klage wird abgewiesen.

 

Unterschriften

Dr. Dapprich

Rauscher

May

 

Fundstellen

BSGE, 234

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