Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisbarkeit bei Bluterkrankheit

 

Orientierungssatz

Zur Frage, ob ein an der Bluterkrankheit leidender Versicherter die für ihn in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten unter betriebsüblichen Bedingungen verrichten und trotz seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen einen Arbeitsplatz von seiner Wohnung aus erreichen kann.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 09.05.1978; Aktenzeichen L 18 J 229/77)

SG Aachen (Entscheidung vom 07.11.1977; Aktenzeichen S 13 (16) J 351/74)

 

Tatbestand

I

Streitig ist ein Anspruch des Klägers auf Bewilligung einer Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU-Rente).

Der im Jahre 1936 geborene Kläger erlernte keinen Beruf und war als ungelernter Arbeiter beschäftigt. Bis zum 10. April 1974 war er Hilfsarbeiter in einer Maschinenfabrik und Bohrgerätefabrik. Der Arbeitgeber kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Begründung, der Kläger habe seit seiner Einstellung insgesamt 348 Tage wegen Krankheit gefehlt und sei seit dem 1. Februar 1974 erneut arbeitsunfähig krank.

Unter vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, wonach er an einer Bluterkrankheit mit stets wiederkehrenden Gelenkblutungen und Weichteilblutungen leide, beantragte der Kläger im April 1974 die Gewährung von EU-Rente. Nach Erhebung eines ärztlichen Gutachtens lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 20. September 1974 ab, weil der Kläger trotz der bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen noch vollschichtig arbeiten könne und keine erheblichen Einsatzbeschränkungen aufweise.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Aachen nach weiterer Sachaufklärung ua durch Einholung ärztlicher Gutachten die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides zur Gewährung von EU-Rente ab 1. Mai 1974 verurteilt (Urteil vom 7. November 1977). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Kläger können noch leichte körperliche Arbeiten im Sitzen in geschlossenen Räumen mit der Möglichkeit des kurzzeitigen Aufstehens und Umhergehens vollschichtig verrichten, soweit hierbei traumatische Einwirkungen auf den Körper sowie die Beanspruchung der vollen Kraft des linken Arms und der vollen Funktion der ganzen rechten Hand vermieden werden könnten.

Gleichwohl sei der Kläger als erwerbsunfähig anzusehen. Die Anzahl der unter Berücksichtigung der erheblichen Einschränkungen seiner Leistungsfähigkeit für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplätze sei bedeutungslos und ihm damit der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Mai 1978). Es hat zur Begründung dargelegt:

Die Gesundheitsstörungen des Klägers schlössen die vollschichtige Verrichtung leichter körperlicher Tätigkeiten in vorwiegend sitzender Arbeitshaltung, die nicht ihrer Natur nach mit einer Verletzungsgefahr oder mit ständigem Stehen oder Gehen verbunden seien und nicht die volle Gebrauchsfähigkeit der rechten Hand erforderten, nicht aus. Mit dem ihm verbliebenen gesundheitlichen Leistungsvermögen könne der Kläger noch eine größere Anzahl von Tätigkeiten wie zB diejenigen des Fahrstuhlführers, Pförtners, Listenführers oder Karteiführers oder der Hilfskraft in einer Postannahmestelle verrichten. Diese oder ähnliche Tätigkeiten überforderten den Kläger gesundheitlich nicht, entsprächen seinem Leistungsvermögen, seien leicht, würden in geschlossenen Räumen vorwiegend im Sitzen ausgeführt und ließen einen gelegentlichen Wechsel der Arbeitshaltung zu. Sie seien dem Kläger als ungelernten Arbeiter zumutbar und nicht mit Anforderungen verbunden, die seine beruflichen Kenntnisse und Fertigkeiten überstiegen. Er könne mit ihnen mehr als die Hälfte des durchschnittlichen Tariflohnes eines gesunden Hilfsarbeiters verdienen. Für sie gäbe es auch ein hinreichendes Arbeitsfeld. Der Kläger sei damit weder erwerbsunfähig noch auch nur berufsunfähig.

Mit der durch Beschluß des Senats zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Zur Begründung bezieht er sich auf seinen Beschwerdebegründungsschriftsatz vom 22.Januar 1979 und den ergänzenden Schriftsatz vom 19. März 1979. Im Schriftsatz vom 22. Januar 1979 hat er vorgetragen:

Das LSG habe in Abweichung von den Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Mai 1977 (BSGE 44, 39 = SozR 2200 § 1246 Nr 19) und vom 21. September 1977 (BSG SozR 2200 § 1246 Nr 22) keine besonderen Feststellungen dazu getroffen, ob es für die nach seiner Meinung in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten einen offenen Arbeitsmarkt gebe und insbesondere ob er - Kläger - in der Lage sei, derartige Verweisungstätigkeiten unter den im Arbeitsleben - also in den in Betracht kommenden Betrieben - üblichen Bedingungen auszuüben oder zu erreichen. Bei Berücksichtigung der genannten Urteile des BSG hätte das LSG seiner (Klägers) Darstellung über seine Beeinträchtigung insbesondere durch Hämophilie nachgehen und prüfen müssen, ob er mit diesen Beeinträchtigungen noch einen Arbeitsplatz zu den im Arbeitsleben üblichen Bedingungen ausfüllen oder erreichen könne. Hierzu hätte um so mehr Veranlassung bestanden, als das Arbeitsamt Aachen praktisch seine (Klägers) leidensbedingte Unvermittelbarkeit bestätigt und er (Kläger) nach ärztlichen Angaben und einer Auskunft seines letzten Arbeitgebers ganz außerordentlich viele Krankheitstage aufzuweisen habe. Hätte das LSG die Rechtsprechung des BSG berücksichtigt, so hätte es zu dem Ergebnis kommen müssen, daß er trotz möglicher Zumutbarkeit einer vollschichtigen Tätigkeit leidensbedingt nicht in der Lage sei, diese auch unter den auf dem Arbeitsmarkt üblichen Bedingungen auszuüben. Es hätte sodann die im Beschluß des Großen Senats des BSG vom 10. Dezember 1976 (BSGE 43, 75 = SozR 2200 § 1246 Nr 13) für Teilzeitarbeitskräfte entwickelten Grundsätze auch auf ihn (Kläger) anwenden und ihn damit als erwerbsunfähig ansehen müssen. - Im Schriftsatz vom 19. März 1979 hat sich der Kläger zur Beschwerdeerwiderung der Beklagten geäußert und insbesondere seine Auffassung bekräftigt, daß das Urteil des LSG von der Rechtsprechung des BSG abweiche.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 1978 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 7. November 1977 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf ihre Ausführungen in der Beschwerdeerwiderung vom 27. Februar 1979.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist zulässig. Sie ist insbesondere formgerecht begründet worden (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Zwar hat der Kläger zur Begründung lediglich die nach seiner Ansicht verletzten Rechtsnormen bezeichnet und sich im übrigen auf seine Beschwerdebegründungsschrift vom 22. Januar 1979 und den ergänzenden Schriftsatz vom 19. März 1979 bezogen. Ob eine Bezugnahme allein auf diesen, nach Ablauf der Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 160a Abs 2 Satz 1 SGG) eingereichten und damit im Beschwerdeverfahren nicht berücksichtigungsfähigen Schriftsatz den Formerfordernissen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG entsprechen würde, kann auf sich beruhen. Der Kläger hat sich auch und vor allem auf die fristgerecht eingereichte Beschwerdebegründung vom 22. Januar 1979 bezogen. Dies ist zur formgerechten Begründung der Revision jedenfalls dann ausreichend, wenn mit ihr die Verletzung sachlichen Rechts gerügt wird (vgl BSG SozR 1500 § 164 Nrn 3 und 4). Eine solche Verletzung rügt der Kläger.

Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist.

Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Diese Rente erhält der Versicherte, der erwerbsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist (§ 1247 Abs 1 RVO). Erwerbsunfähig ist der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (§ 1247 Abs 2 RVO). Das LSG hat diese Voraussetzungen verneint, weil der Kläger noch nicht einmal berufsunfähig sei. Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsunfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfanges seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (§ 1246 Abs 2 Sätze 1 und 2 RVO).

Ob der Kläger erwerbsunfähig oder wenigstens berufsunfähig ist, läßt sich allein aufgrund der vom LSG bisher festgestellten Tatsachen nicht abschließend entscheiden.

Der Kläger kann nach seinem gesundheitlichen Leistungsvermögen die bis April 1974 ausgeübte Tätigkeit nicht mehr verrichten. Das hat das LSG zwar nicht ausdrücklich festgestellt, Jedoch ergibt sich dies aus seinen Ausführungen zu der Frage, welche Tätigkeiten der Kläger mit dem ihm verbliebenen gesundheitlichen Leistungsvermögen noch verrichten kann.

Das Unvermögen zur Ausübung der bisherigen Tätigkeit begründet für sich allein Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit noch nicht. Vielmehr muß sich der Kläger bei Anwendung des § 1247 Abs 2 RVO unabhängig von seinem beruflichen Werdegang grundsätzlich auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisen lassen (BSGE 30, 192, 206 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO; BSG SozR 2200 § 1247 Nr 3 S 4). Dasselbe muß für ihn im Rahmen des § 1246 Abs 2 RVO gelten. Nach den nicht angefochtenen und damit (§ 163 SGG) für den Senat bindenden Feststellungen des LSG ist er ungelernter Arbeiter. Unter Anwendung des von der Rechtsprechung des BSG entwickelten Mehrstufenschemas (vgl zB die Urteile des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1246 Nr 29 S 86 und Nr 41 S 124 f mit eingehenden weiteren Nachweisen) ist er damit der Gruppe von Arbeiterberufen mit dem "Leitberuf" des Ungelernten zuzuordnen. Als solcher kann er auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden, soweit er sie nach seinen gesundheitlichen Kräften und beruflichen Fähigkeiten noch verrichten kann.

Das LSG hat auf der Grundlage der vom SG erhobenen ärztlichen Gutachten bezüglich des dem Kläger verbliebenen gesundheitlichen Leistungsvermögens festgestellt, er könne in geschlossenen Räumen leichte körperliche Arbeiten im Sitzen unter Vermeidung von Zwangshaltung und Verletzungsgefahr vollschichtig verrichten. Mit diesem gesundheitlichen Leistungsvermögen könne er noch eine größere Anzahl von Tätigkeiten wie zB diejenige eines Fahrstuhlführers, Pförtners, Listenführers und Karteiführers oder einer Hilfskraft in einer Postannahmestelle sowie ähnliche Tätigkeiten ausüben, ohne dadurch gesundheitlich überfordert zu werden. Der Senat hat gegen die Prozeßordnungsmäßigkeit dieser sowie der weiteren Feststellungen, die genannten Arbeiten seien leicht, würden in geschlossenen Räumen vorwiegend im Sitzen ausgeführt und ließen einen gelegentlichen Wechsel der Arbeitshaltung zu, Bedenken. Insbesondere ist nicht ersichtlich, aus welchen Quellen das LSG seine Kenntnisse über die Anforderungen an die von ihm aufgeführten Verweisungstätigkeiten gewonnen und ob es vor der Verwertung dieser Tatsachen den Beteiligten Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Indes kann der Senat diesen Bedenken nicht nachgehen. Die Revision hat insoweit keine Rügen gegen die Feststellungen des LSG erhoben. Sie binden daher den Senat (§ 163 SGG).

Die Revision beanstandet zu Recht, daß das LSG ohne weitere Feststellungen zu dem Ergebnis gelangt ist, für die Tätigkeiten, auf die der Kläger verwiesen werden könne, gebe es ein hinreichendes Arbeitsfeld, so daß es unerheblich sei, daß er einen solchen Arbeitsplatz tatsächlich nicht innehabe. Zu diesem Ergebnis hätte das LSG erst nach weiterer Aufklärung des Sachverhaltes gelangen dürfen. Dem ist es insbesondere nicht dadurch enthoben, daß der Kläger die ihm gesundheitlich möglichen Verweisungstätigkeiten in Vollschicht ausüben kann. Zwar ist die Frage, ob für die in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten Arbeitsplätze vorhanden sind, die der Versicherte mit seinen Kräften und Fähigkeiten noch ausfüllen kann, primär für die Beurteilung maßgebend, ob derjenige Versicherte berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist, der aufgrund seines Gesundheitszustandes nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann (vgl die Beschlüsse des Großen Senats des BSG in BSGE 30, 167, 171 ff = SozR Nr 79 zu § 1246 RVO; BSGE 30, 192, 195 ff = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO; BSGE 43, 75, 79 = SozR 2200 § 1246 Nr 13). Auf Versicherte, die noch vollschichtig tätig sein können, ist diese Rechtsprechung grundsätzlich nicht anzuwenden. Vielmehr ist bei ihnen davon auszugehen, daß es für jede Tätigkeit in hinreichender Zahl Arbeitsplätze jedenfalls dann gibt, wenn sie von Tarifverträgen erfaßt sind. Das Risiko, einen offenen Arbeitsplatz zu finden, trägt in diesen Fällen die Arbeitslosenversicherung und nicht die Rentenversicherung. Ausnahmen können aber dann in Betracht kommen, wenn der Versicherte nach seinem Gesundheitszustand zwar an sich noch Vollzeittätigkeiten verrichten kann, aber nicht in der Lage ist, diese unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten, oder wenn ein Versicherter zwar Vollzeittätigkeiten unter solchen Bedingungen noch verrichten kann, er aber aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, Arbeitsplätze dieser Art von seiner Wohnung aus aufzusuchen. Unter diesen Voraussetzungen kommt es auch bei denjenigen Versicherten, die an sich noch vollschichtig tätig sein können, für die Frage, ob sie erwerbsunfähig oder berufsunfähig sind, darauf an, ob für sie nach den im Beschluß des Großen Senats des BSG vom 10. Dezember 1976 (BSGE 43, 75, 80 ff = SozR 2200 § 1246 Nr 13 S 37 ff) entwickelten Kriterien der Arbeitsmarkt offen oder praktisch verschlossen ist (vgl BSGE 44, 39 = SozR 2200 § 1246 Nr 19; BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 22, 30, 32, 33).

Es kann auf sich beruhen, ob die Tatsacheninstanz aufgrund der ihr obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) in jeder Streitsache eines an sich noch vollschichtig einsatzfähigen Versicherten zu prüfen hat, ob ihm gleichwohl der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist. Jedenfalls ist eine solche Prüfung als zwingende Voraussetzung für die Entscheidung über das Vorliegen von Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit dann geboten, wenn gewichtige Anhaltspunkte dafür bestehen, daß der Versicherte eine Vollschichttätigkeit nicht unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen verrichten oder aus gesundheitlichen Gründen einen Arbeitsplatz von seiner Wohnung aus nicht erreichen kann.

Im vorliegenden Fall bestehen derartige Anhaltspunkte. Der Kläger hat in den mündlichen Verhandlungen vor dem SG am 7. November 1977 und vor dem LSG am 9. Mai 1978 ausführliche Erklärungen über den Verlauf und die Konsequenzen seiner Bluterkrankheit ua des Inhalts abgegeben, er sei wegen des ständigen Auftretens von Blutungen gezwungen, stets einen Koffer mit Spritzen bei sich zu führen und sich beim Auftreten einer akuten Blutung bis zu 6 Spritzen nacheinander zu verabfolgen. Anschließend sei er etwa eine Stunde lang so geschwächt, daß er sich hinlegen müsse. Überdies sei er nicht in der Lage, lange Strecken zu gehen.

Dieses Vorbringen - seine Richtigkeit unterstellt - deutet darauf hin, daß der Kläger trotz seiner nach ärztlicher Ansicht vollschichtigen Einsatzfähigkeit die in Betracht kommenden Tätigkeiten etwa wegen des Erfordernisses längerer Arbeitsunterbrechungen und Ruhepausen nicht unter betriebsüblichen Bedingungen ausführen oder wegen seines Unvermögens zur Zurücklegung längerer Wegstrecken einen Arbeitsplatz von seiner - ersichtlich in einer kleineren Gemeinde gelegenen - Wohnung aus nicht erreichen kann. Das LSG hätte daher dieses Vorbringen aufgreifen und ihm - etwa durch Einholung eines ergänzenden ärztlichen Gutachtens zu der Frage, ob die Schilderung des Klägers den objektiven medizinischen Befunden entspricht - nachgehen müssen. Dazu hätte um so mehr Veranlassung bestanden, als der Kläger seine Erklärungen nach Erstattung der vom SG eingeholten ärztlichen Gutachten abgegeben hat und damit die Sachverständigen diese Erklärungen nicht haben berücksichtigen können. Je nach dem Ergebnis dieser Sachaufklärung hätte das LSG gegebenenfalls weiter feststellen müssen, ob es den besonderen Verhältnissen des Klägers entsprechende Arbeitsplätze gibt. Diese bisher unterbliebenen Feststellungen liegen auf tatsächlichem Gebiet. Der Senat kann sie nicht treffen. Das Berufungsgericht wird sie nachzuholen haben. Zu diesem Zweck ist der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Die Ausführungen des LSG auf Seite 10 des angefochtenen Urteils geben dem Senat Anlaß zu dem Hinweis auf den Beschluß des Großen Senats des BSG vom 10. Dezember 1976 (BSGE 43, 75, 85 = SozR 2200 § 1246 Nr 13 S 43), wonach es anders als nach den Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167, 186 f = SozR Nr 79 zu § 1246 RVO; BSGE 30, 192, 205 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO) für die Verweisbarkeit des Versicherten nicht mehr auf den Arbeitsmarkt der gesamten Bundesrepublik Deutschland, sondern nur noch auf den regionalen Arbeitsmarkt ankommt.

Das Berufungsgericht wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens und des Revisionsverfahrens entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655991

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