Leitsatz (amtlich)

Bei der Prüfung eines besonderen beruflichen Betroffenseins oder eines Berufsschadensausgleichs ist nicht der Nachweis eines "Lebensberufs" zu fordern. Die Frage, ob ein Berufsunteroffizier der früheren Wehrmacht ohne die Schädigungsfolgen in der Bundeswehr wiederverwendet worden wäre, ist nach den Verhältnissen des Einzelfalls zu beurteilen.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2 Fassung: 1960-06-27, Abs. 3 Fassung: 1960-06-27, Abs. 4 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Auf die Sprungrevision des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 24. April 1964 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der 1923 geborene Kläger erhält Versorgungsbezüge nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H. Nach Besuch der Volksschule war er bis zu seiner Einberufung 1941 landwirtschaftlicher Gehilfe, zuletzt Gespannführer. Seit Juni 1943 war er aktiver Soldat. Eine berufliche Tätigkeit übt er seit August 1950 nicht mehr aus. Im Dezember 1960 begehrte er Berufsschadensausgleich gemäß § 30 Abs. 3 und 4 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) mit der Begründung, daß der von ihm angestrebte Beruf der eines landwirtschaftlichen Beamten gewesen sei und er seine Lehre als Landwirt wegen der Einberufung zum Wehrdienst nicht habe beenden können. Im übrigen sei er während des Krieges Berufssoldat gewesen und würde heute im gleichen Beruf eine höhere Besoldung erhalten. Mit Bescheid vom 20. Juni 1963 stellte das Versorgungsamt ab 1. Juni 1960 den Berufsschadensausgleich vorläufig fest, wobei es das Einkommen eines männlichen Spezialarbeiters in einem landwirtschaftlichen Betrieb zugrunde legte. Im Widerspruchsvorfahren, das erfolglos blieb, begehrte der Kläger, daß von dem Einkommen eines Berufssoldaten (Hauptwachtmeisters) ausgegangen werden müsse, da er im Januar 1941 freiwillig in die Wehrmacht eingetreten sei und sich ab 1. Juni 1943 für eine 12-jährige Dienstzeit verpflichtet habe. Nach Ableistung dieser Dienstzeit habe er in ein Beamtenverhältnis eintreten wollen. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage mit Urteil vom 24. April 1964 ab und ließ die Berufung zu. Bei Berufsunteroffizieren der früheren Wehrmacht komme, wie in der Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) Hamburg vom 14. Dezember 1955 und im Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 30. November 1961 überzeugend dargelegt sei, eine berufliche Beeinträchtigung durch Schädigungsfolgen nicht in Betracht, weil diese keine Berufssoldaten auf Lebenszeit gewesen seien. Mit der Behauptung des Klägers, daß er heute als Beamter tätig wäre, sei nur eine Möglichkeit angedeutet, die jedoch zur Berücksichtigung dieses Berufes nicht ausreiche.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit Einwilligung des Beklagten Sprungrevision eingelegt. Er rügt Verletzung des § 30 Abs. 3 und 4 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes (1. NOG) vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453). Die Auffassung, daß beim Kläger der Beruf eines Soldaten schon deshalb nicht berücksichtigt werden könne, weil es sich bei der Verpflichtung des Berufsunteroffiziers auf 12 Jahre nicht um einen Beruf auf Lebenszeit gehandelt habe, sei irrig. Zu den Berufssoldaten im Sinne des Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetzes hätten nur die Soldaten gezählt, die für eine mindestens 12-jährige Dienstzeit verpflichtet waren, und zwar vom dritten Dienstjahr ab. Insoweit müsse beim Kläger von einem Berufswechsel nach Eintritt in den militärischen Dienst seit dem 1. Juni 1943, also noch vor Eintritt der Schädigung, gesprochen werden. Auch wenn dies bezweifelt werde, könne sich dies nicht nachteilig bei der Beurteilung der Berufsbetroffenheit auswirken. Denn § 30 Abs. 2 BVG gestehe auch dann die Höherbewertung der MdE zu, wenn infolge der Schädigung der nachweislich angestrebte Beruf nicht ausgeübt werden könne. Der Kläger habe, da er Berufssoldat war, diesen Beruf nicht nur angestrebt, sondern - allerdings unter kriegsmäßigen Bedingungen -auch ausgeübt. Mit der Abgabe der Verpflichtung zum Berufssoldaten hätte er sich von seinem bisherigen Beruf abgewandt. Der Kläger wäre jetzt wieder Berufssoldat der Bundeswehr, wenn nicht die zur Erwerbsunfähigkeit im allgemeinen Erwerbsleben und zur Dienstunfähigkeit bei der Bundeswehr führenden Schädigungsfolgen vorlägen. Unabhängig von der Frage eines beruflichen Aufstiegs in der Bundeswehr würde sich schon bei einem Dienstgrad als Feldwebel - Besoldungsgruppe A 6 - ein recht wesentlicher Einkommensunterschied ergeben.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des Urteils des SG nach dem Klageantrag zu erkennen, hilfsweise, die Sache an das SG zurückzuverweisen. Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Beim Dienst eines Berufsunteroffiziers handele es sich nicht um einen Lebensberuf, dies gelte nur für den Berufsoffizier. Die Berufsunteroffiziere ergriffen nach 12-jähriger Dienstleistung einen neuen Zivilberuf oder kehrten in den früher ausgeübten Beruf zurück. Im übrigen müsse berücksichtigt werden, daß bei diesen eine berufliche Beeinträchtigung als Berufssoldat regelmäßig deshalb nicht in Betracht komme, weil das Ausscheiden aus der früheren Wehrmacht durch deren Auflösung und nicht durch Schädigungsfolgen bedingt gewesen sei, es sei denn, der Betroffene führe den Nachweis, daß er ausschließlich oder überwiegend wegen seiner Schädigungsfolgen nicht wieder in die neue Bundeswehr übernommen worden sei. Letzteres habe der Kläger nicht dargetan. Man könne keinesfalls ohne weiteres unterstellen, der Unteroffizier habe anschließend an seine Dienstzeit in den öffentlichen Dienst treten und Beamter werden wollen. Was er außerhalb des öffentlichen Dienstes im allgemeinen Wirtschaftsleben ohne die Schädigungsfolgen erstrebt und erreicht hätte, sei völlig ungewiß; bei Unteroffizieren auf Zeit spreche auch dies dafür, ihren Soldatenberuf nicht als Beruf im Sinne des § 30 Abs. 2 BVG anzusehen.

Der Beklagte hat während des Revisionsverfahrens den Bescheid vom 23. April 1965 erlassen, mit dem die mit Bescheid vom 20. Juni 1963 vorläufig festgesetzten Bezüge nach § 60 a Abs. 1 BVG endgültig festgestellt wurden; ferner den weiteren Bescheid vom 26. April 1965, der die Bezüge nach dem Zweiten Neuordnungsgesetz (2. NOG) vom 21. Februar 1964 (BGBl I 85) endgültig neu feststellte. Er hat die Auffassung vertreten, daß diese Bescheide nicht im Sinne des § 171 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als mit der Klage beim SG angefochten gelten, da sie den Streitstoff nicht beeinflußten.

Die nach § 161 SGG statthafte Sprungrevision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§§ 164, 166 SGG); sie ist auch im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreites begründet.

Das SG war der Auffassung, daß sein Urteil gemäß § 148 SGG mit der Berufung nicht angefochten werden könne, es hat die Berufung wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Wie der erkennende Senat mit Urteil vom 13. Januar 1966 - 9 RV 790/65 - entschieden hat, ist die Berufung bei Streit über die Höhe des Berufsschadensausgleichs nicht nach § 148 Nr. 3 und Nr. 4 SGG ausgeschlossen, da der durch das 1. NOG neu eingeführte Berufsschadensausgleich eine selbständige Versorgungsleistung darstellt. Die Sprungrevision ist jedoch auch bei einer solchen rechtsirrtümlichen Zulassung der Berufung statthaft (vgl. BSG in SozR Nr. 2 zu § 161 SGG; ferner Nr. 8; vgl. aber auch andererseits Nr. 11, 15 und 16 aaO).

Die im Laufe des Revisionsverfahrens ergangenen beiden Bescheide gelten nach § 171 Abs. 2 SGG, da durch sie der angefochtene Bescheid - teils sachlich, teils nur in zeitlicher Hinsicht - ersetzt worden ist, als mit der Klage beim SG angefochten, weil der Kläger dadurch nicht klaglos gestellt wurde und dem Klagebegehren durch die Entscheidung des Senats zum angefochtenen Bescheid nicht in vollem Umfange genügt wird. Das SG hat nach Zurückverweisung der Sache die Möglichkeit, die gleichgelagerten Verfahren miteinander zu verbinden (§ 113 Abs. 1 SGG).

Zutreffend rügt die Revision, daß das SG den Anspruch nicht mit der Begründung hätte ablehnen dürfen, Berufsunteroffiziere seien keine Berufssoldaten auf Lebenszeit. Zwar handelt es sich bei einer 12-jährigen Verpflichtung zum Unteroffizier nicht um eine solche auf Lebenszeit. Aus den Bestimmungen des § 30 Abs. 2, 3 und 4 BVG in der Fassung des 1. NOG ergibt sich jedoch nicht, daß es sich bei dem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen, derzeitigen oder nachweislich angestrebten Beruf (Abs. 2 und 3) bzw. dem Beruf, den der Beschädigte ohne die Schädigung nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen, Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen voraussichtlich ausüben würde (Abs. 4), immer um einen "Lebensberuf", d. h. eine Tätigkeit, die auf Lebenszeit ausgeübt wird, handeln müßte. Eine solche im Gesetzeswortlaut nicht zum Ausdruck kommende Auslegung des Begriffs des nachweislich angestrebten oder voraussichtlich ausgeübten Berufes würde dem durch das BVG geschützten Berufsstatus sowie den im allgemeinen Erwerbsleben bestehenden Verhältnissen nicht gerecht und deshalb den dem Beschädigten gesetzlich zugebilligten Anspruch in unzulässiger Weise einschränken. Im Gegensatz zu den Entscheidungen des SG Düsseldorf vom 4. Mai 1955 (Der Versorgungsbeamte 1955, 121) und des LSG Nordrhein-Westfalen vom 30. November 1961 (Der Versorgungsbeamte 1962, 86) ist daher bei der Prüfung eines besonderen beruflichen Betroffenseins bzw. eines Berufsschadensausgleichs nicht der Nachweis eines "Lebensberufes" bzw. eines Berufes "auf Lebenszeit" zu fordern (vgl. auch Entscheidung des LSG Hamburg vom 14. Dezember 1955, Breith. 1956, 645). Es ist nur zu prüfen, ob der Beschädigte den angegebenen Beruf nachweisbar angestrebt hat bzw. ob er ihn ohne die Schädigung fortgesetzt hätte. Etwas anderes kann auch nicht für Berufsunteroffiziere der früheren Wehrmacht gelten, die sich für 12 Jahre verpflichtet haben. Der Einwand des Beklagten, eine berufliche Beeinträchtigung komme hier regelmäßig deshalb nicht in Betracht, weil der Berufssoldat durch die Auflösung der Wehrmacht und nicht wegen der Schädigungsfolgen aus seinem Dienst habe ausscheiden müssen, genügt nicht, um in jedem Fall ohne nähere Prüfung ein besonderes berufliches Betroffensein zu verneinen. Zwar wird es bei älteren Jahrgängen an dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen Schädigung und Nichtausübung des Soldatenberufs fehlen, wenn mit einer Einstellung in die Bundeswehr wegen zu hohen Alters nicht zu rechnen war. In diesen Fällen sind Alter und Auflösung der Wehrmacht im Jahre 1945 kausal für die Unmöglichkeit, den Beruf des Soldaten fortzusetzen, nicht aber die Schädigungsfolgen. Etwas anderes gilt jedoch für Berufsunteroffiziere, bei denen dieser Gesichtspunkt nicht von wesentlicher Bedeutung ist. Hier ist zu berücksichtigen, daß bei der nach dem Zusammenbruch neu aufgebauten Bundeswehr, wie gerichtsbekannt ist, nicht nur in den Anfangsjahren, sondern auch später ein großer Mangel an Ausbildungspersonal herrschte und deshalb eine Wiederverwendung von ehemaligen Berufsunteroffizieren in der Bundeswehr, sofern sie dienstfähig waren, durchaus in Betracht kam. Dies gilt insbesondere für technisch vorgebildete, aber auch allgemein für jüngere Unteroffiziere und somit an sich auch für den Kläger, der beim Zusammenbruch im Mai 1945 als Unteroffizier erst knapp 22 Jahre alt war. Wenn der Beklagte unter Hinweis auf Wilke den "Nachweis" verlangt, daß der Betroffene ausschließlich oder überwiegend wegen seiner Schädigungsfolgen nicht wieder in die neue Bundeswehr übernommen worden ist, so wird dabei verkannt, daß für Schwerbeschädigte, wie etwa den Kläger, der sogar Schwerstbeschädigtenzulage bezieht, eine Bewerbung um Wiederverwendung bei der Bundeswehr von vornherein nicht in Betracht kommt. Auch Wilke (Komm. zum BVG, 2. Aufl. S. 213) läßt dies unberücksichtigt, wenn er eine berufliche Betroffenheit bei Berufssoldaten der alten Wehrmacht nur dann für möglich hält, wenn ihr Antrag auf Übernahme in die Bundeswehr abgelehnt worden ist und sie einen solchen Nachweis führen. Der Hinweis des Beklagten, der Kläger habe diesen Nachweis nicht geführt, geht somit fehl, weil einem solchen Beschädigten nicht entgegengehalten werden kann, er habe sich bei der Bundeswehr nicht um eine Wiederverwendung beworben. Sonach kann es bei der Prüfung einer besonderen beruflichen Betroffenheit nur darauf ankommen, ob der Unteroffiziersberuf - ohne die Schädigung - hätte fortgesetzt werden können und sollen. Ob dies der Fall ist, muß den Verhältnissen des Einzelfalles entnommen werden. Im vorliegenden Fall hat der Kläger gegenüber dem Versorgungsamt zwar angegeben, daß er in seinem Beruf als Landwirt durch die Schädigungen besonders betroffen sei. Aus dieser Äußerung allein läßt sich aber noch nicht schlüssig folgern, daß er ohne die Beschädigung nicht seinen Soldatenberuf bei sich bietender Gelegenheit fortgesetzt hätte. Möglicherweise ist seine Erklärung von der - an sich vertretbaren - Auffassung beeinflußt gewesen, daß er wegen der Nichtwiederaufstellung der früheren Wehrmacht auch ohne seine Schädigung nicht mehr bei der Bundeswehr angenommen worden wäre und deshalb oder weil er sich nicht alsbald nach Errichtung der Bundeswehr - wenn auch ohne Aussicht, aber um der Form zu genügen - dort beworben habe, sein Anspruch nicht auf seinen Beruf als Soldat gestützt werden könne. Im Februar 1945 hat er im Militär-Lazarett F jedenfalls als bürgerliche Berufe noch die eines Landwirtschaftsgehilfen und eines aktiven Soldaten angegeben. Es ist andererseits denkbar, daß er nach 1945 auch ohne die Beschädigung nicht wieder Soldat werden wollte, weil ihn der militärische Dienst nicht befriedigte oder weil er sich im Kriege nur deshalb zur 12-jährigen Dienstzeit verpflichtet hatte, um als Ausbilder oder dergl. die Gefahren des Krieges besser überstehen zu können. In diesem Falle müßte von dem früheren Beruf als Landwirt ausgegangen werden.

Da in dieser Hinsicht vom SG keine Feststellungen getroffen worden sind und der Senat die fehlenden Feststellungen nicht nachholen kann, war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG, das die Rechtsauffassung des Senats zu beachten haben wird, zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 78

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