Leitsatz (amtlich)

1. § 113 Abs 2 S 2 AFG ist nicht anzuwenden, wenn die Eheleute zur Jahreswende auf den neuen Lohnsteuerkarten andere Steuerklassen eintragen lassen.

2. Zur Beratungspflicht der Bundesanstalt für Arbeit.

 

Orientierungssatz

Zum Zweck des § 113 Abs 2 AFG.

 

Normenkette

AFG § 113 Abs 1; AFG § 113 Abs 2 S 2; SGB 1 § 14; EStG § 39 Abs 5 S 4

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 07.04.1988; Aktenzeichen L 3 Ar 66/87)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 20.05.1987; Aktenzeichen S 5 Ar 66/86)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes (Alg), das dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1986 zusteht, eine höhere als die am Jahresbeginn eingetragene Steuerklasse zu berücksichtigen ist.

Der Kläger war bis 31. Dezember 1985 als technischer Angestellter bei monatlichem Arbeitsentgelt von durchschnittlich 7.887,-- DM beschäftigt. Seine Ehefrau erhielt als Beamtin durchschnittlich 5.677,-- DM monatlich. Auf den Lohnsteuerkarten für das Jahr 1985 war für den Kläger die Steuerklasse 3 und für seine Ehefrau die Steuerklasse 5 eingetragen. Im Hinblick auf die bevorstehende Arbeitslosigkeit des Klägers ließen die Eheleute für das Jahr 1986 auf der Lohnsteuerkarte des Klägers die Steuerklasse 5 und auf der Lohnsteuerkarte seiner Ehefrau die Lohnsteuerklasse 3 eintragen. Die Beklagte bewilligte dem Kläger Alg unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe D, die der für den Kläger zum Jahresbeginn in der Steuerklasse aufgeführten Leistungsgruppe V entsprach (Bescheid vom 20. Januar 1986; Widerspruchsbescheid vom 17. März 1986).

Das Sozialgericht (SG) hat diese Bescheide abgeändert und die Beklagte verurteilt, Alg unter Zugrundelegung der Leistungsgruppe A zu zahlen, die der Steuerklasse IV entspricht (Urteil des SG Itzehoe vom 20. Mai 1987). Die Berufung der Beklagten blieb erfolglos (Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts -LSG- vom 7. April 1988). SG und LSG haben die Auffassung vertreten, daß auch dann, wenn Ehegatten zum Jahreswechsel die Steuerklassenkombination ändern, § 113 Abs 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) anzuwenden sei. Da die gewählte Steuerklassenkombination den Einkommensverhältnissen der Ehegatten iS von § 113 Abs 2 AFG offensichtlich widerspreche, sei für die Berechnung des Alg von der diesen Verhältnissen angemessenen Steuerklassenkombination IV/IV auszugehen.

Mit der Revision verweist die Beklagte auf die entgegenstehende Rechtsprechung des 7. Senats des Bundessozialgerichts (BSG), insbesondere auf das Urteil vom 25. August 1987 - 7 RAr 70/86 - (SozR 4100 § 113 Nr 6).

Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) entschieden wird.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie hat zu Recht das Alg des Klägers unter Berücksichtigung der Leistungsgruppe D berechnet, die der am Jahresbeginn eingetragenen Lohnsteuerklasse V entsprach. Die Urteile des LSG und des SG sind deshalb aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Gemäß § 113 Abs 1 AFG ist für die Berechnung des Alg die Lohnsteuerklasse maßgeblich, die zu Beginn des Kalenderjahres eingetragen war, in dem der Anspruch entstanden ist. Der Anspruch des Klägers ist am 1. Januar 1986 entstanden. Deshalb ist auch die an diesem Tage eingetragene Lohnsteuerklasse V für die Berechnung zugrunde zu legen. Daraus folgt, daß dem Kläger nach § 111 Abs 2 Satz 2 Buchst d AFG Alg nach der Leistungsgruppe D zu zahlen ist.

Allerdings sieht § 113 Abs 2 eine abweichende Regelung vor, wenn die Ehegatten die Steuerklassen gewechselt haben und die neue Steuerklassenkombination an dem Tage, an dem sie wirksam wird, offensichtlich nicht dem Verhältnis der monatlichen Arbeitslöhne beider Ehegatten entspricht. Diese Regelung gilt jedoch nur für einen Wechsel der Steuerklasse nach Ausstellung der Lohnsteuerkarte, der gemäß § 39 Abs 5 Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) bei Eheleuten einmal im Jahr zulässig ist. Im vorliegenden Fall handelt es sich jedoch nicht um einen solchen Wechsel, sondern um die Ausstellung der Lohnsteuerkarte für ein neues Kalenderjahr mit anderer Steuerklasse.

Dies wird auch von den Vorinstanzen nicht verkannt. Diese meinen jedoch, daß § 113 Abs 2 AFG analog anzuwenden sei, wenn Ehegatten zum Jahresbeginn in die neuen Lohnsteuerkarten andere Lohnsteuerklassen eintragen lassen als bisher, da in gleicher Weise wie beim Lohnsteuerklassenwechsel eine Manipulationsmöglichkeit gegeben sei oder die Möglichkeit einer nicht sachgerechten, den Berechtigten schädigenden unbedachten Lohnsteuerklassenwahl. Es müsse davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber diese Möglichkeit übersehen habe, so daß die Lücke im Wege der Rechtsprechung entsprechend § 113 Abs 2 AFG zu füllen sei.

Dem kann jedoch, wie der 7. Senat des BSG bereits mehrfach entschieden hat, nicht gefolgt werden (BSG SozR 4100 § 113 Nr 6 mwN). Dort ist bereits auf die auch im vorliegenden Fall auftretenden Ungereimtheiten hingewiesen und anhand der geschichtlichen Entwicklung aufgezeigt worden, daß § 113 Abs 2 AFG nur den Steuerklassenwechsel im Laufe des Jahres erfaßt. Darauf kann im wesentlichen verwiesen werden. In den Materialien zum Steuerentlastungsgesetz 1981, auf das die heutige Fassung des § 113 Abs 2 AFG zurückgeht, wird erläutert, nunmehr werde sichergestellt, daß der Steuerklassenwechsel immer berücksichtigt werde, wenn dies objektiv geboten sei (BT-Drucks 8/3901 S 77). Diese Bemerkung bezieht sich auf den Wortlaut des § 113 Abs 2 AFG idF des 5. AFG-ÄndG, nach dem ein Steuerklassenwechsel nur auf Antrag berücksichtigt wurde. Daraus wird deutlich, daß die hier maßgebliche Regelung nur den im Laufe eines Jahres vorgenommenen Wechsel meint.

Diese Regelung dient der Verwaltungsvereinfachung. Durch § 113 Abs 1 AFG wird es der Bundesanstalt ermöglicht, grundsätzlich von der in der Steuerkarte eingetragenen Lohnsteuerklasse auszugehen, ohne weitere Prüfungen vornehmen zu müssen. Die vom Kläger angestrebte Regelung würde dagegen bedeuten, daß die Beklagte sich bei Verheirateten stets auch die vorhergehende Steuerkarte vorlegen lassen müßte und bei Änderungen stets zu prüfen hätte, ob die eingetragenen Steuerklassen dem Verhältnis der Einkünfte beider Ehegatten iS von § 113 Abs 2 AFG entsprechen. Schwierigkeiten ergeben sich dabei vor allem, wenn der Ehegatte nicht erreichbar ist, nicht bereit ist, seine Steuerkarte vorzulegen oder mehrfachbeschäftigt ist. Der Gesetzgeber hat sich dafür entschieden, zur Vermeidung dieses Verwaltungsaufwands die Gefahr einer Manipulation bei Ausstellung der Steuerkarten hinzunehmen. Dies lag im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit. Ein Verstoß gegen das Grundgesetz (GG), insbesondere Art 3 Abs 1 GG, ist bei dieser Sachlage nicht erkennbar.

Gleiches gilt, soweit die Ehegatten nicht zu ihren Gunsten die Höhe des Alg durch die Steuerklassenwahl manipulieren, sondern durch eine ungünstige Steuerklassenwahl den an sich in Betracht kommenden Alg-Anspruch mindern. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Steuerklassenwechsel und der Ausstellung der neuen Lohnsteuerkarte für das folgende Jahr. Der Steuerklassenwechsel ist gemäß § 39 Abs 5 Satz 4 EStG nur einmal im Jahr möglich und deshalb regelmäßig für den Rest des Jahres nicht mehr korrigierbar. Die Eheleute können dementsprechend die nachteiligen Folgen einer ungünstigen Steuerklassenkombination erst ab Beginn des nächsten Jahres abwenden. Demgegenüber sind die bei Eintragung einer ungünstigen Steuerklassenkombination in die neuen Lohnsteuerkarten entstehenden Nachteile für die betroffenen Arbeitslosen gering, weil die Ehegatten durch § 39 Abs 5 Satz 4 EStG in die Lage versetzt sind, die ungünstige Wahl der Steuerklasse bei Ausstellung der Steuerkarten durch einen Steuerklassenwechsel zu korrigieren, sobald sie dies erkennen, was meist schon aufgrund des Bescheides des Arbeitsamtes oder entsprechender Beratung der Fall sein wird. Der Steuerklassenwechsel wird allerdings gemäß § 39 Abs 5 Satz 5 EStG erst mit dem auf die Antragstellung folgenden Monat wirksam, so daß dem Arbeitslosen regelmäßig für die zurückliegende Zeit ein Nachteil verbleibt. Eine schwerwiegendere Härte kann darin aber nicht gesehen werden. Den regelmäßig schwerwiegenderen Nachteilen, die aus einem Steuerklassenwechsel entstehen können, wollte der Gesetzgeber schon frühzeitig in § 113 Abs 2 AFG Rechnung tragen (s Fassung nach dem 5. AFG-ÄndG, dazu BT-Drucks 8/2624 S 10 und 28 zu Nr 33 Buchst a). Auch in der heutigen Fassung werden solche Nachteile durch die Orientierung am Verhältnis der Einkommen vermieden. Ein Rückschluß, daß dies auch für die geringen Nachteile bei einer Änderung der Steuerklasse zum Jahresbeginn gelten müsse, läßt sich daraus aber nicht ableiten, zumal damit ein erheblich größerer Verwaltungsaufwand verbunden wäre. Auch insoweit überschreitet der Gesetzgeber nicht seine Gestaltungsfreiheit, wenn er dem Arbeitslosen im Interesse der Verwaltungsvereinfachung diese relativ geringfügigen, überdies von ihm selbst verursachten Nachteile zumutet.

Im vorliegenden Fall hätte bei unverzüglichem Antrag auf Wechsel der Steuerklassen das Alg bereits ab Februar 1986 nach der Leistungsgruppe A gezahlt werden können.

Darüber muß das Arbeitsamt den Arbeitslosen gemäß § 14 des Ersten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 1) unverzüglich beraten, sobald es bei Bearbeitung seines Antrags erkennt, daß die Eheleute zu ihrem Nachteil gehandelt haben. Ob dies im vorliegenden Fall rechtzeitig geschehen ist und welche Konsequenzen aus unzureichender oder verspäteter Beratung zu ziehen wären, kann hier dahinstehen. Jedenfalls wäre ein solcher Beratungsfehler für die Aufrechterhaltung der Steuerklasse nicht kausal gewesen. Der Kläger hat nämlich auch nach Erhalt des Widerspruchsbescheids vom 17. März 1986 die Steuerklasse nicht gewechselt, obwohl er darin über die Möglichkeit des Steuerklassenwechsels und die Folgen für das Alg durch einen unterstrichenen Hinweis informiert worden ist. Dies zeigt, daß er auch bei rechtzeitiger Beratung nicht anders reagiert hätte (s zur Kausalität zB BSG SozR 5070 § 10 Nr 31 S 74 mwN). Offenbar überwog weiterhin das Interesse an der Eintragung der günstigeren Steuerklasse auf der Steuerkarte der Ehefrau.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665947

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