Leitsatz (amtlich)

Ist die Hilflosigkeit durch das Zusammenwirken mehrerer Bedingungen verursacht, so besteht ein Anspruch auf Pflege, wenn die Folgen des Arbeitsunfalls eine rechtlich-wesentliche Mitursache für den Eintritt der Hilflosigkeit sind; es ist nicht erforderlich, daß sie als zeitlich letzte Ursache die Hilflosigkeit herbeigeführt haben (Anschluß an BSG 1960-08-25 11 RV 1368/59 = BSGE 13, 40).

 

Normenkette

RVO § 558c Abs. 1 Fassung: 1925-07-25, § 558 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird der erste Satz des Urteilsausspruchs des Urteils des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. November 1963, wie folgt, geändert:

Der Urteilsausspruch Nr. 2 des Urteils des Sozialgerichts Speyer vom 3. April 1962 wird dahin geändert, daß die Beklagte verurteilt wird, dem Kläger vom 26. September 1961 an Pflege zu gewähren; im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Im übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1902 geborene Kläger erlitt am 6. September 1957 einen Arbeitsunfall. Mit Bescheid vom 27. Mai 1960 stellte die Beklagte als Unfallfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 % fest: "Verlust des rechten Beines im Bereich des Oberschenkels; Bewegungseinschränkung im rechten Hüftgelenk".

Wegen Durchblutungsstörungen wurde dem Kläger später auch das linke Bein im Oberschenkel amputiert.

Im September 1961 beantragte der Kläger, ihm eine Pflegezulage zu gewähren.

Mit Schreiben vom 19. Oktober 1961 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab, weil der Kläger nicht infolge des Unfalls, sondern durch ein unfallunabhängiges Leiden hilflos sei.

Das Sozialgericht (SG) Speyer hat durch Urteil vom 3. April 1962 die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 26. September 1961 ein Pflegegeld von monatlich 150,- DM zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 15. November 1963 (Breith. 1965, 378) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Kläger sei infolge des Arbeitsunfalls hilflos. Der Zustand sei zwar durch den Verlust des linken Beines ausgelöst worden; deshalb sei aber nicht allein der Verlust dieses Beines als Ursache der Hilflosigkeit anzusehen. Vielmehr bilde auch die unfallbedingte Amputation des rechten Beines eine wesentliche Mitursache der Hilflosigkeit. Allerdings habe ein Hilfloser auch nach §§ 68, 69 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) einen Anspruch auf Pflege und Pflegegeld; der Anspruch auf Pflegegeld sei aber nach § 69 Abs. 3 Satz 3 BSHG nicht gegeben, wenn der Pflegebedürftige gleichartige Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften erhalte.

Gegen das ihr am 24. Februar 1964 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 6. März 1964 Revision eingelegt und das Rechtsmittel am 19. März 1964 begründet.

Sie führt aus: Die hier maßgebende Vorschrift sei § 558 c Abs. 2 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung idF bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes vom 30. April 1963 (BGBl I 241 - UVNG) - RVO aF - und nicht § 558 Abs. 3 RVO, so daß die Leistung von Pflegegeld im vorliegenden Falle noch nicht in ihr Ermessen gestellt sei. Das LSG hätte aber davon ausgehen müssen, daß der Verlust des linken Beines nicht Folge des Arbeitsunfalls sei. Der Kläger wäre allein durch den Verlust des rechten Beines nicht hilflos. Die vom LSG angeführte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 35 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) könne für den vorliegenden Fall nicht gelten. Es sei vielmehr auf die Rechtsprechung zu verweisen zur Frage der wesentlichen Ursächlichkeit bei Unfällen, die den Tod eines bereits erkrankten Verletzten bewirken. Da kein Anspruch auf Pflegegeld nach den Vorschriften der RVO bestehe, habe der Beigeladene auch nicht von einer Leistungspflicht nach dem BSHG befreit werden können.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des Sozialgerichts Speyer vom 3. April 1962 die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanzen zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene hat sich zur Sache nicht geäußert.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet und somit zulässig. Sie ist jedoch nur zum Teil begründet.

Die Klage ist ohne Vorverfahren zulässig (§§ 78, 79 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Im Streit steht nicht nur die Gewährung von Pflegegeld als besondere Form der Pflege. Die Beklagte hat vielmehr einen Rechtsanspruch auf Pflege schlechthin verneint; sie ist der Ansicht, daß der Kläger nicht infolge des Unfalls, sondern durch ein unfallunabhängiges Leiden hilflos sei.

Die Gewährung von Pflege, auf die ein Rechtsanspruch besteht (§ 558 c Abs. 1 RVO aF; § 558 Abs. 1 RVO; vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl. S. 560 e), setzt voraus, daß der Kläger "infolge des Arbeitsunfalls" hilflos ist.

Nach den tatsächlichen, von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Kläger hilflos (vgl. auch Asanger, Medizinische Klinik 1963, 782). Das LSG ist auch zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger infolge des Arbeitsunfalls vom 6. September 1957 hilflos ist. Der Ursachenbegriff des § 558 c RVO aF und des § 558 Abs. 1 RVO entspricht, wie auch die Revision nicht verkennt, der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsnorm (Brackmann aaO S. 560 d). Die Revision meint deshalb zu Unrecht, das LSG habe übersehen, daß der Kläger allein durch die Unfallfolgen nicht hilflos wäre. Es ist nach der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung herrschenden Kausallehre (vgl. z. B. BSG 12, 242, 245; 13, 175, 176) nicht erforderlich, daß die Folgen des Arbeitsunfalls die alleinige Ursache der Hilflosigkeit bilden (Brackmann aaO); es reicht für die Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall vom 6. September 1957 und der Hilflosigkeit des Klägers aus, daß dieser Arbeitsunfall die Hilflosigkeit wesentlich mitverursacht hat. Das ist hier der Fall; denn ebenso wie der Kläger - worauf die Revision wiederholt hinweist - allein durch die Unfallfolgen nicht hilflos wäre, so wäre er es auch nicht allein durch die Amputation des linken Beines. Der Verlust beider Beine bedingt nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG die Hilflosigkeit des Klägers, so daß der Verlust jedes Beines für sich eine wesentliche Mitursache bildet. Es ist hierbei rechtlich unerheblich, daß nicht die festgestellten Folgen des Arbeitsunfalls die zeitlich letzte, die Hilflosigkeit "auslösende" Ursache gebildet haben; entscheidend ist vielmehr, daß sie die eingetretene Hilflosigkeit mitverursacht haben. Der erkennende Senat schließt sich insoweit der Rechtsauffassung des 11. Senats des BSG zu § 35 BVG an (vgl. BSG 13, 40; 17, 114; ebenso Brackmann aaO; Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., § 558 Anm. 6).

Die von der Revision angeführten Urteile des erkennenden Senats und des 5. Senats (BSG 12, 247; 13, 175; BSG SozR RVO Nr. 10 zu § 542 aF) führen zu keiner anderen Entscheidung. Wenn ein Verletzter infolge der Auswirkungen von Unfallfolgen mindestens ein Jahr früher stirbt, als das sonst der Fall gewesen wäre, so werden die Folgen des Unfalls deshalb als wesentliche Mitursache angesehen, weil aus diesem zeitlich erheblich früheren Eintritt des Todes darauf geschlossen werden kann, daß die Unfallfolgen auch für den Tod erheblich gewesen sind. Ergibt sich jedoch schon aus anderen Gründen, daß die Folgen des Arbeitsunfalls den Tod rechtlich wesentlich mitverursacht haben, so kommt es nicht darauf an, ob der Tod dadurch ein Jahr früher eingetreten ist. Beim Kläger bildet jedoch die unfallbedingte Amputation des rechten Beines im Bereich des Oberschenkels eine nach den tatsächlichen Gegebenheiten offensichtlich wesentliche Mitursache für seine durch den Verlust beider Beine bedingte Hilflosigkeit, die ohne das Mitwirken dieser Teilursache überhaupt nicht eingetreten wäre.

Die Beklagte hat dem Kläger somit Pflege zu gewähren. Wie auch die Revision nicht verkennt, wird dieser Anspruch des Klägers durch die Vorschriften des BSHG nicht ausgeschlossen.

Auf die Revision der Beklagten war das Urteil des SG jedoch zu ändern. Die Beklagte war nur zur Gewährung von Pflege, nicht aber bereits zur Gewährung von Pflegegeld in bestimmter Höhe zu verurteilen.

Der Kläger hat einen Rechtsanspruch auf Pflege; er hat aber keinen Rechtsanspruch auf eine bestimmte Leistung (§ 54 Abs. 4 SGG). Welche Art der Pflege die Beklagte und gegebenenfalls in welcher Höhe sie dem Kläger Pflegegeld gewährt, steht vielmehr in ihrem Ermessen. Dieses Ermessen ist ihr nicht erst durch § 558 Abs. 3 RVO eingeräumt worden, sondern war schon nach § 558 c Abs. 2 RVO aF gegeben (Brackmann aaO S. 560 e; ebenso Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., § 558 c Anm. 7, 10), da auch nach dieser Vorschrift die Pflege in der Gestellung der erforderlichen Hilfe und Wartung durch Krankenpfleger, Krankenschwestern oder auf andere geeignete Weise (Hauspflege) oder in der Zahlung eines Pflegegeldes innerhalb des gesetzlichen Rahmens (vgl. hierzu Brackmann aaO) oder in der Gewährung von Anstaltspflege (§ 558 d RVO aF) bestand. Es bedarf somit entgegen der Ansicht der Revision in diesem Zusammenhang keiner Entscheidung, ob für die Gewährung von Pflegegeld an den Kläger nur § 558 c Abs. 2 RVO aF oder - vom 1. Juli 1963 an - auch § 558 Abs. 3 RVO Anwendung findet (siehe Krasney, BG 1965, 407; vgl. auch z. B. §§ 6 und 10 des Gesetzes vom 29. Dezember 1960, BGBl I 1085), weil die Hilflosigkeit des Klägers als Folge des Arbeitsunfalls vom 6. September 1957 in den zeitlichen Geltungsbereich des UVNG hineinwirkt (vgl. BSG 23, 139, 142). Ihr Ermessen, welche Art von Pflege und gegebenenfalls in welcher Höhe sie Pflegegeld gewähren wird, hat die Beklagte noch nicht ausgeübt, weil sie irrtümlich einen Anspruch des Klägers auf Pflege schon dem Grunde nach verneint hat. Das Gericht darf jedoch keine Entscheidung erlassen, in der das eigene Ermessen an die Stelle des Ermessens des Versicherungsträgers gesetzt wird (vgl. Brackmann aaO S. 240 c, 240 h I mit weiteren Hinweisen auf Rechtsprechung und Schrifttum). Die Beklagte war daher nur zur Leistung von Pflege zu verurteilen (vgl. auch BSG 17, 114, 115 zu § 35 BVG). Ein entsprechender Antrag ist in dem weitergehenden Klagebegehren des Klägers enthalten. Der Beklagten obliegt es nunmehr, einen Bescheid darüber zu erlassen, in welcher Form sie die Pflege und gegebenenfalls in welcher Höhe sie Pflegegeld gewähren wird.

Bei der Kostenentscheidung (§ 193 SGG) hat der Senat berücksichtigt, daß die Beklagte hinsichtlich des Anspruchs des Klägers auf Pflege und damit nach der Gestaltung des vorliegenden Falles im wesentlichen unterlegen ist.

 

Fundstellen

BSGE, 49

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