Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisung eines selbständigen Ingenieurs

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Verweisung eines freiberuflich tätigen Sachverständigen für Maschinen- und Starkstromanlagen auf Tätigkeiten in abhängiger Stellung innerhalb seiner Berufsgruppe steht nicht der Umstand entgegen, daß er zuletzt eine selbständige Tätigkeit als beratender Ingenieur ausgeübt hat. Ein Versicherter der Angestelltenversicherung muß sich auch auf abhängige Tätigkeiten verweisen lassen, sofern es sich um Berufe handelt, die eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzen und in denen er mindestens die Hälfte des Verdienstes eines vergleichbaren Versicherten erzielen kann. Er kann aber nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, die er auch wirklich beherrscht.

 

Normenkette

AVG § 27 Fassung: 1934-05-17

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 14. Februar 1957 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger - von Beruf Diplom-Ingenieur - beantragte am 2. September 1952 die Gewährung des Ruhegeldes aus der Angestelltenversicherung, weil er wegen der bei ihm auftretenden Schwindelanfälle seinen derzeitigen (freien) Beruf als beratender Ingenieur nicht mehr ausüben könne. Auf Grund eines vertrauensärztlichen Gutachtens das die beim Kläger bestehende Minderung der Arbeitsfähigkeit mit 40 v.H. einschätzte, verneinte die Beklagte das Vorliegen von Berufsunfähigkeit und lehnte den Ruhegeldanspruch ab (Bescheid vom 6. Juli 1953).

Das Sozialgericht Wiesbaden wies die Klage ab: Nach dem im Klageverfahren eingeholten klinischen Gutachten könne der Kläger zwar seine Spezialtätigkeit als Sachverständiger für Maschinen- und Starkstromanlagen nicht mehr ausüben, er sei aber in der Lage, in abhängiger Stellung als Ingenieur, insbesondere durch Arbeit im Büro, noch mindestens die Hälfte des Verdienstes eines vergleichbaren Versicherten zu erzielen (Urteil vom 20.6.1956).

Die Berufung des Klägers wies das Hessische Landessozialgericht zurück: Zwar sei der Kläger wegen der bei ihm festgestellten Leiden nicht mehr imstande, Arbeiten in größerer Höhe, wie er sie nach seinen Angaben bei seiner derzeitigen Spezialtätigkeit ausführen müsse, ohne Gefährdung seines Lebens zu verrichten, unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufs könne er aber auf gefahrlose andere Tätigkeiten verwiesen werden, die seinen Kenntnissen und Fähigkeiten entsprächen. Es könne ihm zugemutet werden, etwa als leitender Angestellter in einem Elektrizitätswerk oder in einer Elektromaschinenfabrik zu arbeiten. Der Kläger sei deshalb nicht berufsunfähig (Urteil vom 14.2.1957).

Gegen das ihm am 19. März 1957 zugestellte Urteil legte der Kläger am 6. April 1957 Revision ein mit dem Antrage, das angefochtene Urteil aufzuheben und dem Klageantrag gemäß zu entscheiden. Er begründete das Rechtsmittel am 20. April 1957: Das Landessozialgericht habe den Sachverhalt in einem entscheidenden Punkte nicht aufgeklärt. Es habe nicht ausreichend geprüft, welche Berufstätigkeiten, die in die Berufsgruppe des Klägers fallen, ihm zugemutet werden können. Die Ingenieurberufe seien in verschiedene "Berufsgruppen" aufgeteilt. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen seien so groß, daß man jeden einzelnen Beruf gegenüber dem anderen als ein "aliud" bezeichnen müsse. Der Kläger gehöre in die Gruppe der selbständigen Ingenieure. Zu Unrecht habe ihn das angefochtene Urteil auf die Gruppe der angestellten Ingenieure verwiesen. Mit keinem der zu dieser Gruppe gehörigen Berufe habe er, was die Tätigkeit anbelange, etwas gemeinsam. Der Hinweis im angefochtenen Urteil, er könne leitender Angestellter in einem Elektrizitätswerk oder in einer Elektromaschinenfabrik sein, treffe nicht zu, weil er für diese Tätigkeiten nicht die Mindestvoraussetzungen mitbringe. Der Übergang von einer Ingenieur-Berufsgruppe zur anderen sei ein echter Berufswechsel, der ihm nicht zuzumuten sei. Für die gegenteilige Auffassung fehle in der angefochtenen Entscheidung jede Begründung.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen: Der vom Kläger gerügte Verfahrensmangel sei nicht schlüssig und nicht unter Angabe der in Betracht kommenden Tatsachen und Beweismittel geltend gemacht.

In dem angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts ist die Revision nicht zugelassen. Sie ist daher nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt ist und auch tatsächlich vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, BSGE. 1 S. 150). Bei der Prüfung dieser Frage kommt es auf die sachlich-rechtliche Beurteilung des Streitfalles durch das Landessozialgericht an. Fach dessen Auffassung war nur zu prüfen, ob der Kläger unter Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufs auf andere Tätigkeiten verwiesen werden kann. Bei der Beurteilung dieser Frage hat das Landessozialgericht noch nach den bis zum 31. Dezember 1956 gültigen Vorschriften des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) entschieden. Hiervon ist bei der Prüfung, ob ein Verfahrensmangel vorliegt, auszugehen (BSGE. vom 28.5.1957 - 3 RJ 219/56 - abgedruckt im SozR. Da 25 Nr. 79 zu § 162 SGG). Es kann daher nicht berücksichtigt werden, daß das AVG vom 1. Januar 1957 an durch das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 88) eine neue Fassung erhalten hat, wobei auch der Begriff der Berufsunfähigkeit neu abgegrenzt wurde (vgl. Jantz-Zweng Anm. II zu § 1246 RVO S. 74). Der vom Kläger gerügte wesentliche Verfahrensmangel liegt vor, das angefochtene Urteil ist nicht ordnungsgemäß begründet.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts kann der Kläger seine bisherige freiberufliche Tätigkeit als Sachverständiger für Maschinen- und Starkstromanlagen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verrichten. Die Frage, ob er auf andere Tätigkeiten seiner Berufsgruppe verwiesen werden kann und welche Tätigkeiten hierfür in Betracht kommen, ist sonach für die Entscheidung über den Rentenanspruch des Klägers von wesentlicher Bedeutung. Sie ist im Verfahren vor dem Landessozialgericht zwischen den Beteiligten streitig gewesen. Der Kläger hat wiederholt geltend gemacht, daß er eine andere als die bisherige Berufstätigkeit in Ermangelung der für solche Ingenieurberufe erforderlichen Spezialkenntnisse nicht ausüben könne. Das Landessozialgericht ist auf dieses Vorbringen in den Gründen des angefochtenen Urteils nicht eingegangen.

Zwar steht der Verweisung des Klägers auf Tätigkeiten in abhängiger Stellung innerhalb seiner Berufsgruppe nicht der Umstand entgegen, daß er zuletzt eine selbständige Tätigkeit als beratender Ingenieur ausgeübt hat. Hierauf kann sich der Kläger nicht berufen. Als Versicherter der Angestelltenversicherung muß er sich vielmehr auch auf abhängige Tätigkeiten verweisen lassen, sofern es sich um Berufe handelt, die eine ähnliche Ausbildung und gleichwertige Kenntnisse und Fähigkeiten voraussetzen und in denen er mindestens die Hälfte des Verdienstes eines vergleichbaren Versicherten erzielen kann (vgl. Entsch. des RVA. Nr. 4948, AN. 1936 S. IV 45 u. EuM. Bd. 50 S. 433/435). Fraglich ist aber, ob diese Voraussetzungen bei den vom Landessozialgericht genannten Berufen gegeben sind. Denn der Kläger kann nur auf solche Tätigkeiten verwiesen werden, die er auch wirklich beherrscht. Insoweit enthält aber, wie der Kläger mit Recht rügt, die angefochtene Entscheidung keine Gründe. Sie läßt alle näheren Angaben darüber vermissen, welche beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Kläger besitzt und welche Anforderungen insoweit an die Tätigkeiten gestellt werden, auf die der Kläger verwiesen werden soll. Infolgedessen geben die Urteilsgründe auch keinen Aufschluß darüber, ob die beruflichen Fähigkeiten des Klägers ausreichen, um solche Tätigkeiten auszuüben, und ob der Kläger nach dem ihm verbliebenen Maß an Arbeitsfähigkeit noch in der Lage ist, in einer dieser Tätigkeiten einen ausreichenden Arbeitsverdienst zu erzielen. Über diese für die Entscheidung des Streitfalles wesentlichen Punkte hat sich das Landessozialgericht in der angefochtenen Entscheidung nicht ausgesprochen. Es hat sich darauf beschränkt, den Kläger auf die oben genannten Berufstätigkeiten - als für ihn zumutbar - zu verweisen, ohne im Urteil die Gründe anzugeben, die insoweit für seine richterliche Überzeugung leitend gewesen sind (§ 128 Abs. 1 Satz 2 SGG). Seine Entscheidung ist daher in einem wesentlichen Punkte nicht begründet.

Damit ist dem Revisionsgericht die rechtliche Nachprüfung des angefochtenen Urteils unmöglich gemacht; es kann die Erwägungen nicht erkennen, die zu der im Urteil enthaltenen Stellungnahme geführt haben. Der Senat kann auch nicht beurteilen, worauf die mangelhafte Begründung des angefochtenen Urteils beruht. Ob dies darauf zurückzuführen ist, daß das Landessozialgericht das Beweisergebnis unter Überschreitung seines Rechts, nach freier Überzeugung zu entscheiden, unzutreffend gewürdigt hat (Verstoß gegen § 128 SGG) oder darauf, daß die tatsächlichen Ermittlungen, wie der Kläger annimmt, nicht ausreichten (Verstoß gegen § 103 SGG), ist aus dem angefochtenen Urteil nicht zu entnehmen. Für die Annahme eines wesentlichen Verfahrensmangels im Sinne von § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG genügt aber schon einer der beiden hier möglicherweise vorliegenden Gründe. Er macht die Revision des Klägers statthaft.

Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf dem vorliegenden wesentlichen Verfahrensmangel (§ 162 Abs. 2 SGG). Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Landessozialgericht nach weiteren sachdienlichen Ermittlungen oder nach sachentsprechender Würdigung der gesamten Umstände des Falles eine für den Kläger günstigere Entscheidung getroffen hätte. Diese Möglichkeit genügt für die Annahme des nach § 162 Abs. 2 SGG erforderlichen ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Verletzung des Verfahrensrechts und der getroffenen Entscheidung (BSGE. 2 S. 197/201). Das Urteil des Landessozialgerichts ist daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben. Gleichzeitig ist der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Eine Entscheidung in der Sache durch das Bundessozialgericht ist nicht möglich, da die im angefochtenen Urteil enthaltenen tatsächlichen Feststellungen für eine Sachentscheidung nicht ausreichen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des Landessozialgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2340724

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