Entscheidungsstichwort (Thema)

Notwendigkeit eines Beobachtungsgutachtens

 

Leitsatz (amtlich)

Bei Prüfung der Frage, ob ein wesentlicher Mangel des Verfahrens im Sinne des SGG § 162 Abs 1 Nr 2 vorliegt, ist von der sachlich rechtlichen Beurteilung des Berufungsgerichts auch dann auszugehen, wenn sich das materielle Recht, das auf das streitige Rechtsverhältnis anzuwenden ist, nach der Entscheidung des Berufungsgerichts geändert hat.

 

Leitsatz (redaktionell)

Ärztliche Gutachten kann das Gericht nach seiner freien Überzeugung würdigen. Es muß sich jedoch bei Würdigung des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme mit in ärztlichen Zeugnissen angeführten, für die Entscheidung wesentlichen Umständen auseinandersetzen; uU - bei gewissen Leiden - ist eine weitere Klärung durch Einholung eines Beobachtungsgutachtens notwendig.

 

Normenkette

SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; ArVNG Art. 2 § 44 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 25. Juni 1956 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Die im Jahre 1907 geborene Klägerin beantragte im Juli 1953 die Gewährung der Invalidenrente unter Beifügung einer kurzen Bescheinigung ihres behandelnden Arztes Dr. med. B vom 8. Juni 1953, der die Klägerin wegen Myocardschadens, inaktiver Lungentuberkulose, Labyrinthstörungen und Unterleibserkrankung (Meno-Metrorrhagie) als invalide ansah. Bei der von der Landesversicherungsanstalt (LVA.) veranlaßten Untersuchung durch Medizinalrat Dr. B gab die Klägerin an, daß sie in den Monaten Januar und Februar 1952 und vom 8. Juni bis 20. Juni 1952 wegen starker Blutungen im Krankenhaus S stationär behandelt worden sei, daß sie sich ferner vom 20. Juni bis 6. Juli 1953 im Landeskrankenhaus Braunschweig befunden und dort Röntgen-Tiefenbestrahlungen erhalten habe. Sie klagte dem Gutachter über Schmerzen im Unterleib und erklärte, daß sie seit 1946 nicht mehr arbeite. Als Krankheiten der Klägerin stellte Dr. B inaktive Lungentuberkulose und Metrorrhagien fest. Er war der Ansicht, daß der Klägerin noch "leichte" Arbeiten zuzumuten seien und daß ihre Erwerbsfähigkeit um 40 v. H. beschränkt sei.

Die Beklagte lehnte auf Grund dieses Gutachtens die Gewährung einer Rente ab, weil die Klägerin noch "leichte und mittelschwere Arbeiten" verrichten könne.

Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid am 28. September 1953 beim Oberversicherungsamt (OVA.) B Berufung ein und trug vor, daß sie nicht mehr in der Lage sei, ihre eigenen häuslichen Arbeiten selbst zu versehen; sie müsse die Hausreinigung und die Wäsche mit Hilfe fremder Leute besorgen. Das Sozialgericht (SG.) Braunschweig, auf das die Sache am 1. Januar 1954 als Klage übergegangen ist, erhielt auf Anfrage von Dr. B am 14. Oktober 1954 die Auskunft, daß die Klägerin seit 1946 in ständiger ärztlicher Behandlung wegen Zustandes nach Pleuritis, schwerer klimakterischer Blutungen und häufig auftretender schwerster stenocardischer Anfälle stehe. Das SG. beauftragte nunmehr Dr. med. habil. L leitenden Arzt des Städtischen Krankenhauses S - Innere Abteilung - mit der Erstattung eines Gutachtens über die Erwerbsfähigkeit der Klägerin und gab anheim, bei Bedarf ein Zusatzgutachten einzuholen. Das dementsprechend erhobene gynäkologische Zusatzgutachten wurde von Dr. R leitendem Arzt der Gynäkologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses S, am 29. Oktober 1954 erstattet. Bei der Untersuchung klagte die Klägerin über "Hitzewallungen, Absterben der Hände, Schweißausbrüche, Kopfschmerzen und Schwindelanfälle sowie Blutungen mit Schmerzen." Die Beurteilung ergab:

"An den Geschlechtsorganen ist ein wesentlich krankhafter Befund nicht zu erheben. Das Fehlen der Anämie und die relative Kleinheit der Gebärmutter sprechen gegen stärkere und als ernstlich zu beurteilende Blutungen. Eine Erwerbsminderung durch den lokalen Untersuchungsbefund dürfte seitens der Genitalorgane somit nicht gegeben sein. Dagegen werden die hormonalen Ausfallserscheinungen eindringlich geschildert. Diese klimakterischen Beschwerden beeinträchtigen einzelne Frauen doch recht erheblich, so daß ich nicht anstehe, bei Frau M. eine Minderung der Erwerbsfähigkeit hierdurch anzunehmen. Ich schätze diese Erwerbsminderung für die nächsten etwa 5 Jahre auf 20%, danach wäre eine Nachuntersuchung angezeigt."

Außer dem gynäkologischen Befund hatte Dr. R noch festgestellt:

"Frau M. hat frisch rote Lippen und gut durchblutete Wangen, sie sieht nicht ausgeblutet aus".

Das zusammenfassende Gutachten von Dr. L, das von dem Oberarzt des Krankenhauses Dr. M mitgezeichnet ist, wurde am 2. November 1954 erstattet. Bei der Herzfunktionsprüfung traten nach 15 Kniebeugen anfangs vermehrt Extrasystolen und ein unregelmäßiger Pulsschlag auf, nach 10 Minuten wurde die Rückkehr zu den Ausgangswerten festgestellt. Das EKG ergab folgenden Befund:

"Außer der leichtgradigen Sinustachycardie keine sicheren pathologischen Veränderungen der Stromkurve".

Zum Zustand des Herzens ist bei der Wiedergabe des Durchleuchtungsbefundes noch angegeben:

"Das Herz ist nicht verbreitert, der linke Rand gestreckt. Der Pulmonalisbogen ist etwas verstärkt. Die Taille ist plump, der HK nur wenig eingeengt".

Nach der Gesamtbeurteilung von Dr. L/M lagen vorwiegend klimakterische Ausfallserscheinungen, nach der im Jahre 1953 durchgeführten Röntgenbehandlung geringgradige pleuritische Residuen links und einige Nebenbefunde vor; insoweit befaßte sich das Gutachten insbesondere mit der Frage von Dystonien der Gallenwege. Die klimakterischen Ausfallserscheinungen wurden als der im Vordergrund stehende Befund bezeichnet; die von ihm ausgehenden Beschwerden seien die Folge der nicht mehr funktionstüchtigen Eierstöcke; damit stünden Hitzewallungen, Absterben der Hände (ohne daß objektiv Durchblutungsstörungen der Extremitäten nachweisbar sind), Schweißausbrüche und Schwindelanfälle in Zusammenhang; auch die cardialen Beschwerden ordneten sich zwanglos in dieses Bild ein; Dekompensationszeichen von Seiten des Herzkreislaufsystems lägen nicht vor (keine Leberstauung, keine peripheren Oedeme ); das Herz sei nicht dilatiert, röntgenologisch finde sich eine angedeutet mitralkonfigurierte Silhouette, ohne daß klinisch Hinweise für einen Klappenfehler vorlägen; es bestehe auch keine sekundäre Anämie sowie kein Anhalt für latente Tetanie. Die Sachverständigen bewerteten die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 40 v. H., wobei neben den durch hormonelle Ausfallserscheinungen bedingten Beschwerden die Herabsetzung der Leistungsbreite des Herzkreislaufsystems berücksichtigt sei. Sie verneinten die Invalidität und vertraten die Auffassung, daß mit dem Abklingen der klimakterischen Regulationsstörungen mit einer Besserung gerechnet werden dürfe; Frau M. müßten alle Frauenarbeiten im Sitzen noch zugemutet werden, weiterhin die Arbeiten, bei denen häufiges Bücken nicht erforderlich sei und Ausruhmöglichkeit bestehe; der jetzige Erwerbsminderungsgrad bestehe seit etwa einem Jahr.

Das SG. wies die Klage mit Urteil vom 8. Februar 1955 ab:

Die Klägerin könne die Arbeiten einer Hausfrau im Haushalt in einem nicht unwesentlichen Umfange im Sitzen ausüben; sie könne auch sehr wohl noch die Arbeiten verrichten, die im Stehen verrichtet werden müssen, da bei einer Hausfrau jederzeit hinreichende Ausruhmöglichkeit bestehe. Andere Arbeiten seien von der Klägerin seit etwa 10 Jahren nicht verrichtet worden. Sie habe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt die Möglichkeit, bei einer Erwerbstätigkeit mit entsprechender oder ähnlicher Beschäftigung noch mindestens die Hälfte dessen zu verdienen, was eine gesunde Frau bei einer gleichen Tätigkeit im Haushalt verdienen könnte.

Die Klägerin legte gegen dieses Urteil beim Landessozialgericht (LSG.) Celle Berufung ein. Dieses hörte zunächst - entsprechend dem auf § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gestützten Antrag der Klägerin - den behandelnden Arzt Dr. B gutachtlich. In seinem am 1. Februar 1956 erstellten Gutachten führte Dr. B folgendes aus:

"Frau M M kenne und behandele ich seit 1946.

Im Laufe dieser 9 Jahre glaube ich Frau M. kennen gelernt zu haben und festgestellt zu haben, daß sie keine Simulantin ist, daß die von ihr angegebenen Beschwerden stimmen und nicht übertrieben sind. 2 - 3 Besuche sind bei Frau M. wöchentlich notwendig. Bei Frau M. finden sich nach Belastung Extrasystolen bei einem Pulsus inaequalis. Im Schellong'schen Versuch ist eine Verzögerung zur Rückkehr zum Ruhepulswert festzustellen (Krankenhaus S). Nach Gehen und vor allem abends sind die Unterschenkel geschwollen. Man muß hier also doch eine organische Herzschädigung annehmen, wenn auch das EKG (Krankenhaus S) keinen Anhalt dafür bietet. Beweisend für eine Organschädigung ist doch hier vor allem die Tatsache, daß die Extrasystolen bei Belastung auftreten.

Die von Frau M. geklagten Schwindelanfälle mit Schwarzwerden vor Augen haben häufig zu Unfällen geführt. Einmal wurde ich gerufen, als Frau M. beim Feuermachen schwindelig wurde und mit dem Oberkörper in den glücklicherweise noch kalten Waschkessel gefallen war. Auch im Krankenhaus Sa-D. konnten bei der Untersuchung noch die Blutergüsse am linken Oberarm festgestellt werden, die von einem ähnlichen Unfall herrührten. Da die zu Unfällen führenden Schwindelanfälle fast ausnahmslos oft schon nach ganz leichten körperlichen Arbeiten auftreten, habe ich Frau M. auch leichte Arbeiten verboten. An manchem Tage ist Frau M. nicht in der Lage, für ihre Familie zu kochen.

Dann plagt sich Frau M. seit 1952 mit sehr starken gynäkologischen Blutungen. Trotz stationärer Behandlung, trotz Röntgenbestrahlung ist bisher keine Besserung eingetreten. Die Blutungen sind nach wie vor lange und stark. Nach den Röntgenbestrahlungen kamen dann noch zusätzlich andere Beschwerden, die Frau M. sehr viel zu schaffen machen. Am 8. August 1955 ließ sich Frau M. noch einmal von Herrn Dr. H untersuchen. Der Befund lautet:

"Fluor vaginalis. Colpitis maculosa vetularum . Portio i. ganzen glatt. Kleiner polypartiger Tumor d. vorderen Mu-Lippe. Kolposkopisch: Ovulum Nabothi mit regulärer Kapillarschlingenzeichnung an der Oberfläche. Keinerlei atypischer Epithelnachweis. Uterus: jetzt hochgradig atrophisch mit nur daumengliedgroßem Corpus. Rechts und hinter dem Uterus Adhaesionen , sonst Adnexgegend bds. ohne Tastbefund. Diagnose: Status post Rö. Bestrahlung 1953, die bisher nicht zur völligen Ruhigstellung führte. Bei der bereits eingetretenen Atrophie des Uterus ist mit gänzlichem Aufhören der Blutungen zu rechnen".

Dr. B fährt fort:

"Leider ist das vorausgesagte und erwartete Aufhören der Blutung bisher noch nicht eingetreten. Theoretisch müßte die Blutung gering sein bzw. aufhören, da ja die Gebärmutter nur noch daumengliedgroß ist. Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus. Nur wenige Tage im Monat ist Frau M. ohne Blutung. Das Blutbild zeigt zwar keine sekundäre Anämie, aber das ist nichts außergewöhnliches ... .

Bei Frau M. liegen neben anderen Leiden (Hepatopathie, Gastritis) ein organischer Herzschaden und eine schwere, bisher durch nichts, auch nicht durch stationäre Behandlung, zu bessernde Störung des Endokriniums und des vegetativen Nervensystems vor. Die Störungen des Endokriniums und des vegetativen Nervensystems gehen weit über das normale Ausmaß. Auch bei Anlegen eines strengen Maßstabes muß man im Falle M wenigstens eine vorübergehende Invalidität, solange die endokrinen Regulationsstörungen bestehen, anerkennen. Ob nach Aufhören der klimakterischen Regulationsstörungen eine Besserung zu erwarten ist, möchte ich bezweifeln.

Die Invalidität besteht bei Frau M seit 1953."

Das LSG. holte hiernach ein Aktengutachten des Dr. W S ein. Dieser Sachverständige beurteilte auf Grund der ihm vorliegenden Unterlagen den Gesundheitszustand der Klägerin wie folgt:

"Im Vordergrund stehen die klimakterischen Ausfallserscheinungen und Störungen des vegetativen Nervensystems. Dennoch aber muß die jetzt 49 Jahre alte Klägerin noch für in der Lage erachtet werden, leichte bis mittelschwere Arbeiten vorwiegend im Sitzen zu verrichten, die infolge einer Schwerhörigkeit und Alterssichtigkeit keine besonderen Ansprüche an das Seh- und Hörvermögen stellen dürfen.

Von Herrn Dr. B wird eine Invalidität ab 1953 angenommen. Diese Annahme ist aber unter Berücksichtigung der Gutachten von Herrn Dr. B und der Gutachten des Krankenhauses D nicht vertretbar, da weder bei der Klägerin ein organischer Herzschaden noch eine Hepatopathie (Leberleiden) nachgewiesen werden konnten und sich auch für eine Gastritis kein Anhalt fand. Auch wenn die Gastritis vorliegen sollte, für die Herr Dr. B keine Befunde angibt, würde diese im Zusammenhang mit der Subacidität des Magensaftes behandlungsfähig sein. Gegen das Vorliegen erheblicher und ins Gewicht fallender Unterleibsblutungen spricht das wiederholt normale rote Blutbild. Stärkere Unterleibsblutungen müßten auf die Dauer doch eine sekundäre Anämie zur Folge haben. Eine labyrinthare Störung liegt m. E. nicht vor, vielmehr stehen die Schwindelanfälle mit den klimakterischen Ausfallserscheinungen im Zusammenhang.

Da aus den in dem jetzigen Berufungsverfahren eingereichten Schriftsätzen eine Verschlimmerung seit der Begutachtung 1953 und 1954 nicht ersichtlich ist, erscheint eine nochmalige Begutachtung nicht erforderlich. Das Gutachten von dem Krankenhaus D. kann durch die Begutachtung durch Herrn Dr. B nicht entkräftet werden, dessen Annahme einer Invalidität ab 1953 nicht vertretbar ist."

Dem LSG. lag in der mündlichen Verhandlung vom 25. Juni 1956 ferner folgende Stellungnahme des Dr. B vom 18. Juni 1956 vor:

"Zu den Aktengutachten des Herrn Dr. med. Rolf W-S, C, möchte ich nur einmal kurz über das II. Quartal 1956 berichten.

Alle anderen Jahre und Quartale waren genau so. Im Sommer 1950 habe ich sogar täglich Frau M besucht.

3.4.56 5 00 Uhr Telefonanruf: Frau M. sei vor wenigen Minuten kurz nach dem Aufstehen zusammengebrochen, ich solle sofort kommen, die Angehörigen glaubten, Frau M. stürbe.

Bei meiner Ankunft gegen 5,15 Uhr war Frau M. bewußtlos, auch auf Cardiaca kam Frau M. nicht zu sich. Puls klein, stark beschleunigt. Gegen Mittag war Frau M. dann erst wieder bei Bewußtsein. Die Tochter wurde aus dem Ruhrgebiet, wo sie in Stellung ist, nach Hause geholt, damit sie den Haushalt versorgen konnte. 4 Wochen, so lange mußte Frau M. strenge Bettruhe einhalten.

16.4.56. Erneuter Schwindelanfall, Dauer der Ohnmacht nur kurze Zeit.

Nach 4 Wochen strengster Bettruhe durfte Frau M. wieder etwas aufstehen. Praktisch liegt sie ja ständig, sie kocht nur und macht kleinere Einkäufe. Alles andere wird von der Tochter bzw. von dem Ehemann gemacht.

In der Woche erhält Frau M. nun schon seit Jahren wenigstens 3 Calciuminjektionen. Ich habe schon versucht, mit anderen Mitteln bzw. überhaupt ohne Medikamente auszukommen, aber leider verschlechterte sich dann der Zustand so, daß sie überhaupt nicht Auf sein kann.

Seit dem 4.6.56 tritt neben den Schwindelanfällen, Herzdruck, Kopfschmerzen, krampfartigen Schmerzen im Oberbauch, 3-5maliges Erbrechen, das unabhängig von den Mahlzeiten ist, auf.

Die Blutungen treten alle 8-14 Tage auf und dauern mehrere Tage. Blutverlust sehr stark.

Frau M. blutete

vom: 2.4.56 - 10.4.56

vom 19.4.56 - 29.4.56

vom 15.5.56 - 27.5.56

vom 6.6.56 - dauern noch an.

Die Frau leidet seelisch sehr unter diesen Zuständen, was ja nur verständlich ist. Sie ist krank und elend, kann wirklich keine Arbeiten verrichten. Sie trägt sich mit Suizidgedanken, weil sie ihrer Familie nicht mehr zur Last fallen will und obendrein von den Vertrauensärzten noch als Simulantin hingestellt wird. In den langen Jahren, in denen ich Frau M. behandele, glaube ich festgestellt zu haben, daß sie keine Simulantin ist. Ihr und der ganzen Familie wäre es tausendmal lieber, wenn sie geheilt werden könne und könne dann wieder arbeiten. ...

Daß das Blutbild nicht verändert ist, hat auch mich beschäftigt. Aber bei wiederholten Kontrollen ist es bis jetzt noch ohne Besonderheiten. Ich habe es auch bei anderen Patientinnen, die auch dauernd bluten, festgestellt, daß das Blutbild unverändert ist. Wie mir, ist das auch Fachärzten aufgefallen. Eine Erklärung konnte bisher aber noch nicht gegeben werden.

Fest steht, daß die Störungen des Endokrineums so erheblicher Art sind, daß Frau M. völlig invalide ist. Es ist ja zur Genüge bekannt, daß endokrine Störungen, auch erheblichen Ausmaßes, häufig durch Labormethoden nicht erfaßt werden können."

Das LSG. hat die Berufung durch Urteil vom 25. Juni 1956 zurückgewiesen: Nach dem frauenärztlichen Befund von Dr. R der im wesentlichen mit demjenigen von Dr. H vom 8. August 1955 übereinstimme, verursache der frauenärztliche Befund keine wesentlichen Beschwerden. Auch sei hiernach anzunehmen, daß sich die Klägerin in einem guten Allgemein- und Ernährungszustand befinde. Ihr wiederholt angefertigtes rotes Blutbild sei normal; auch habe sie rote Lippen und gut durchblutete Wangen. Sie sei nicht ausgeblutet; sonst müßte eine sekundäre Blutarmut bestehen. Die von der Klägerin vorgebrachten Beschwerden - Hitzewallungen, Absterben der Hände ohne nachweisbare Durchblutungsstörungen, Schweißausbrüche, Schwindelanfälle, Neigung zu Herzjagen, gelegentlich Extrasystolen, Klagen über Stenocardien - seien als Folgeerscheinungen der Wechseljahre anzusehen, jedoch habe sich am Herzen kein organischer Schaden und kein pathologischer Befund ermitteln lassen. Die von Dr. B auskultierten systolischen Geräusche über der Spitze des Herzens seien nicht organischer, sondern akzidenteller Natur; zwar liege nach dem Gutachten des Städtischen Krankenhauses D röntgenologisch ein angedeutetes mitralkonfiguriertes Herz vor, jedoch sei ein Hinweis auf einen Herzklappenfehler nicht vorhanden. Damit müßte eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Herzens verbunden sein, die sich aber nicht habe nachweisen lassen; insbesondere fehlten Dekompensationserscheinungen. Die Extrasystolen und das nicht befriedigende Ergebnis der Kreislauffunktionsprüfung - die Ruhepulswerte kämen erst nach 10 Minuten auf ihren Ausgangspunkt zurück und der Blutdruck nicht völlig - beruhten nach der überzeugenden Darlegung der Sachverständigen Dr. L und Dr. W-S auf der nervösen Übererregbarkeit innerhalb der klimakterischen Ausfallserscheinungen. Da auch das EKG keinen Anhalt für einen Herzmuskelschaden oder eine coronare Durchblutungsstörung ergeben habe, müßten die Herzbeschwerden der Klägerin funktioneller Natur sein. Die Klägerin sei demnach - entgegen dem Gutachten von Dr. B - mangels eines organischen Herzschadens auch nicht bis zum Abklingen der Wechseljahrbeschwerden invalide. Die übrigen Gesundheitsstörungen - mangelhafte Funktion der Gallenblase, Leberschaden, Magenschleimhautentzündung, Magensenkung, Veränderungen an der Lunge, Zwerchfell-Rippenfellverwachsung, Krampfaderbildung, Alterssichtigkeit, Gehörbeeinträchtigung links, lückenhaftes Gebiß - lägen dem Befunde nach nicht vor (so der Leberschaden) oder sie fielen für die Annahme einer Erwerbsminderung kaum ins Gewicht. Die Klägerin sei hiernach ohne zeitliche Einschränkung fähig, alle leichten bis mittelschweren Arbeiten, die keine besonderen Ansprüche an ihr Seh- und Hörvermögen stellten, vorwiegend im Sitzen zu verrichten. Solche Arbeiten, die ihr im Hinblick auf ihre frühere Tätigkeit als Landarbeiterin zuzumuten seien, fänden sich in ihrem Wohnort wie in verkehrsgünstig gelegenen anderen Orten, und zwar als ungelernte Arbeiterin in gewerblichen Betrieben wie als Küchenhilfe in Gaststätten und größeren Haushaltungen. Die Klägerin könne somit mehr als die gesetzliche Lohnhälfte im Sinne von § 1254 Reichsversicherungsordnung (RVO) verdienen, sie sei daher nicht invalide.

Die Klägerin hat am 11. August 1956 gegen das am 11. Juli 1956 zugestellte Urteil Revision eingelegt.

Sie beantragt,

die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin hat ihre - nicht zugelassene - Revision im wesentlichen darauf gestützt, daß sie - wie von Dr. B dargetan - an dauernden (täglichen) und starken Blutungen leide, die nur durch eine stationäre Krankenhausbeobachtung festgestellt und in ihrem Einfluß auf die Erwerbsfähigkeit der Klägerin beurteilt werden könnten. Im einzelnen rügt die Revision: Das Vordergericht habe übersehen, daß das gynäkologische Gutachten des Krankenhauses D vom 29. Oktober 1954 und dessen weiteres Gutachten vom 2. November 1954 nur auf Grund ambulanter Behandlung erstattet seien. Um den Umfang und das Ausmaß der Blutungen festzustellen, hätte eine mehrtägige stationäre Begutachtung durchgeführt werden müssen. Für den Leberschaden fehle es nicht an Befunden. Auch zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Herzens sei eine längere klinische Untersuchung nötig gewesen, zumal Dr. B auf die ständigen Schwindelanfälle der Patientin hingewiesen habe. Der tatsächliche Gesundheitszustand stehe der Annahme entgegen, daß die Klägerin Arbeit aufnehmen könne. Die Verlegung des Wohnsitzes - 7 km nach S - komme nicht in Frage, weil dies heutzutage infolge der Wohnungsnot nicht verlangt werden könne.

Die Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II.

Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und innerhalb der nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG verlängerten Frist begründet worden (§ 164 SGG).

Die Klägerin hat die Revision gemäß § 161 Abs. 1 Nr. 2 SGG auf die Verletzung formellen Rechts gestützt (§ 153 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 103 sowie § 128 SGG). Ob das Verfahren des LSG. an einem wesentlichen Mangel leidet, ist vom sachlich-rechtlichen Standpunkte des LSG. aus zu beurteilen (BSG. in SozR. SGG § 103 Bl. Da 2 Nr. 7). Das Vordergericht hat seiner Entscheidung den Begriff der Invalidität nach § 1254 RVO. a. F. zugrunde gelegt. Zwar hat das Revisionsgericht grundsätzlich von dem im Zeitpunkt seiner Entscheidung geltenden Recht auszugehen und Rechtsänderungen, die vorher wirksam geworden sind, zu berücksichtigen, sofern das streitige Rechtsverhältnis von ihnen erfaßt wird (vgl. BSG 2 S. 188 (192)). Die Statthaftigkeit der Revision hängt im vorliegenden Falle aber davon ab, ob das Verfahren des Berufungsgerichts an einem wesentlichen Mangel leidet. Da die Frage, ob ein solcher Mangel vorliegt, nur vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des Berufungsgerichts aus geprüft werden kann, scheidet im Rahmen dieser Prüfung die Anwendung der neuen Vorschriften über die Voraussetzung der Versichertenrente (§§ 1246 ff. RVO. i. d. F. des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter vom 23.2.1957 - ArVNG -) aus. Dem entspricht auch die Regelung des Art. 2 § 44 ArVNG, wonach die §§ 8 u. 17 bis 19 dieses Artikels bei Versicherungsfällen, für die sie gelten, zwar auch in schwebenden Verfahren anzuwenden sind, ihre Nichtanwendung durch das LSG. oder SG. aber nur, soweit die Revision zulässig ist, einen Revisionsgrund darstellt (§ 44 Satz 1 a. a. O.). Das geänderte materielle Recht kann daher nur im Rahmen einer zulässigen Revision berücksichtigt werden, die deren Statthaftigkeit voraussetzt.

Die Revision ist statthaft und begründet. Die Klägerin rügt mit Recht, daß sie nicht stationär beobachtet und untersucht worden ist. Zwar lagen dem LSG. zur Beurteilung der Invalidität der Klägerin mehrere ärztliche Gutachten vor. Es konnte diese Gutachten auch nach seiner freien Überzeugung würdigen (§ 128 Abs. 1 SGG); es hätte sich jedoch bei Würdigung des Gesamtergebnisses der Beweisaufnahme näher damit auseinandersetzen müssen, daß Dr. B, der die Klägerin seit dem Jahre 1946 behandelt, in seinem Gutachten vom 1. Februar 1956 und seiner gutachtlichen Äußerung vom 18. Juni 1956 Umstände angeführt hat, die geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin in erheblichem Maße zu beeinträchtigen. Dr. B hatte vor allem auf häufig zu Unfällen führende Schwindelanfälle und seit dem Jahre 1952 bestehende erhebliche Blutungen hingewiesen, die nach wie vor lange und stark anhielten. Auf die Dauer und Häufigkeit der Schwindelanfälle und der Blutungen gehen aber weder das im Oktober 1954 erstattete gynäkologische Gutachten des Dr. R noch das am 2. November 1954 erstattete Gutachten der Ärzte der inneren Abteilung des Städtischen Krankenhauses S in dem nach der Sachlage gebotenen Maße ein, obgleich dies im Hinblick auf die eindringliche Schilderung des Dr. B zur Klärung des medizinischen Sachverhalts erforderlich gewesen wäre. Auch Dr. W-S setzt sich in seinem nach Aktenlage erstatteten Gutachten vom 25. Mai 1956 mit der Frage, welchen Einfluß die von Dr. B geschilderten häufigen Schwindelanfälle und ständigen Blutungen auf die Erwerbsfähigkeit der Klägerin haben, nicht auseinander, sondern führt, ohne zu den Angaben des Dr. B insoweit im einzelnen Stellung zu nehmen, nur aus, daß seit den ambulanten Begutachtungen in den Jahren 1953 und 1954 eine Verschlimmerung nicht ersichtlich sei. Die in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht abgegebene gutachtliche Äußerung des Dr. W-S läßt ebenfalls eine Auseinandersetzung mit den in der Bescheinigung des Dr. B vom 18. Juni 1956 enthaltenen Angaben über die Häufigkeit der Schwindelanfälle und die Dauer der Blutungen vermissen. Da Dr. B in seinem Gutachten vom 1. Februar 1956 ausgeführt hatte, daß die zu Unfällen führenden Schwindelanfälle fast ausnahmslos schon nach ganz leichten körperlichen Arbeiten auftreten, wäre aber eine weitere Klärung dieser für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin wesentlichen Umstände erforderlich gewesen, die bei der Art der von Dr. B angegebenen Leiden nur auf Grund eines Beobachtungsgutachtens hätte vorgenommen werden können. Falls das Vordergericht glaubte, die für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit der Klägerin erheblichen Angaben des Dr. B in Zweifel ziehen zu müssen, wäre zur Klärung des Sachverhalts zumindest erforderlich gewesen, diesen Arzt als sachverständigen Zeugen zu hören. - Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dabei wird für die Beurteilung des Rechtsanspruchs nunmehr auch die Vorschrift des Art. 2 § 6 ArVNG zu beachten sein.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1803709

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge