Leitsatz (amtlich)

Die Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen einer Schädigungsfolge is nicht höher zu bewerten, wenn nach der Schädigung ein - schädigungsunabhängiges - neues Leiden (Nachschaden) hinzukommt und die Schädigung sich deshalb stärker auswirkt als zur Zeit des Eintritts der Schädigung; anders ist es dann, wenn das neue Leiden auf einem krankhaften Geschehen beruht, das schon vor der Schädigung vorgelegen hat (Vorschaden); Fortführung BSG 1962-05-29 7/9 RV 634/60 = BSGE 17, 99, Fortführung BSG 1962-06-19 11 RV 1188/60 BSGE 17, 114.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die im Laufe der Jahre nach der Verwundung - schädigungsunabhängig entstandene außergewöhnliche Fettleibigkeit ist nicht zu berücksichtigen, wenn diese Erkrankung nicht auf einem "Vorschaden", dh auf einem krankhaften physischen oder psychischen Geschehen beruht hat, das bereits vor dem Eintritt des schädigenden Ereignisses vorgelegen hat.

Für die Bewertung des Ausmaßes des wehrdienstbedingten Schadens kann es nicht auf die Verhältnisse in dem Zeitpunkt, in dem über den Rentenantrag entschieden wird, ankommen, sondern auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Eintritts der Schädigung; nur so ist auch eine gleiche Behandlung aller Beschädigten gewährleistet.

Wenn es so ist, daß die Fettsucht im wesentlichen auf Überernährung - bei einer gewissen konstitutionellen Bereitschaft zur Korpulenz - beruht, so kann der dadurch bedingte "Nachschaden" bei der Bewertung des Ausmaßes der wehrdienstbedingten Schädigung nicht berücksichtigt werden.

Anders ist es dann, wenn ein "Vorschaden" vorliegt; das ist dann der Fall, wenn die Fettsucht auf krankhaften Veränderungen beruht, die - konstitutionsbedingt oder aus anderen Ursachen (Erkrankung) - schon vor dem Eintritt des schädigenden Ereignisses vorhanden gewesen sind (zB Stoffwechselstörungen oder andere innersektorische Störungen). Ein "Vorschaden" in diesem Sinne ist aber noch nicht anzunehmen, wenn - ohne daß vor dem Eintritt der Schädigung ein krankhaftes Geschehen vorgelegen hat - sich nach dem Eintritt der Schädigung gezeigt hat, daß der Kläger auch eine "konstitutionelle Neigung" zur Übergewichtigkeit hat.

 

Normenkette

BVG § 30 Fassung: 1956-06-06

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 5. April 1962 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger, geb. am 4. Juni 1925, von Beruf kaufmännischer Angestellter, leistete Wehrdienst von 1943 bis 1945; 1944 erlitt er eine Kopfverwundung und einen Unterschenkelschußbruch; im Februar 1958 - nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik - beantragte er Versorgung. Der Facharzt für Chirurgie Dr. B schätzte die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers wegen der Schädigungsfolgen auf 20 v. H. Das Versorgungsamt (VersorgA) Bremen lehnte darauf mit Bescheid vom 2. Oktober 1958 die Bewilligung einer Rente ab, fügte jedoch hinzu, dem Kläger stehe für die Schädigungsfolgen "Ausgedehnte Narbenbildung am linken Unterschenkel mit Verformung beider Unterschenkelknochen und Verkürzung sowie Weichteilsplitter, Bewegungseinschränkung des linken Fußgelenks, Muskelminderung am linken Oberschenkel, unbedeutende Narben am Kopf" ein Anspruch auf Heilbehandlung zu. Auf den Widerspruch des Klägers holte das Landesversorgungsamt (LVersorgA) Bremen das Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. H ein; Dr. H wies - wie es schon Dr. B getan hatte darauf hin, daß durch die erhebliche Übergewichtigkeit, an der der Kläger jetzt leide, seine Beinbeschwerden verstärkt würden, er schätzte die MdE ebenfalls auf 20 v. H. Das LVersorgA wies den Widerspruch am 2. März 1959 zurück.

Mit der Klage begehrte der Kläger, ihm eine Rente nach einer MdE von 25 v. H. zuzusprechen, er überreichte ein Gutachten des Chirurgen Dr. L Dr. L schätzte die MdE des Klägers wegen der Schädigungsfolgen auf 25 v. H. Das Sozialgericht (SG) holte ein Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. U ein; Dr. U führte aus, unabhängig von dem Kriegsschaden bestehe bei dem Kläger eine erhebliche Übergewichtigkeit, dadurch werde das geschädigte Bein stärker belastet, die MdE betrage deshalb 25 v. H.

Das SG Bremen sprach dem Kläger mit Urteil vom 16. März 1961 eine Rente nach einer MdE von 25 v. H. zu.

Der Beklagte legte Berufung an das Landessozialgericht (LSG) Bremen ein. Das LSG holte ein Gutachten des Facharztes für Chirurgie Prof. Dr. R ein. Prof. Dr. kam zu dem Ergebnis, die Verletzungsfolgen des Klägers seien verhältnismäßig harmlos, sie seien nur mit einer MdE von 20 v. H. zu bewerten; die ungewöhnliche Fettleibigkeit des Klägers sei nicht als "verstärkender Faktor" zu berücksichtigen, sie hänge nicht mit dem Verletzungsfolgen zusammen, ihre wesentliche Ursache sei das "Mißverhältnis zwischen Nahrungszufuhr und Energiebedarf", die "Dissoziation zwischen Hunger und Appetit" als Zivilisationsschaden, "von dem bevorzugt sozial gehobene Schichten mit geringer körperlicher Belastung betroffen werden"; auch die X-Beinstellung, die Senk-Spreizfüße, die Krampfadern des Klägers, die auf einer anlagebedingten Bindegewebsschwäche beruhten und der pathologische Blutdruck, der in engstem Zusammenhang mit dem starken Übergewicht stehe, seien nicht bei der MdE besonders zu berücksichtigen, weil diese Krankheiten keine Schädigungsfolgen seien.

Das LSG wies die Berufung mit Urteil vom 5. April 1962 zurück. Es führte aus, die Verwundungsfolgen des Klägers seien zwar nicht besonders schwer, die durch sie bedingten Beinbeschwerden würden jedoch durch die Übergewichtigkeit des Klägers wesentlich verstärkt; die Übergewichtigkeit, an der der Kläger jetzt leide, sei zwar keine Schädigungsfolge; bei der Bewertung der MdE sei sie jedoch zu berücksichtigen; wesentlich müsse sein, in welchem Maße der Kläger, so wie er beschaffen sei, durch die Schädigungsfolgen in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt werde.

Das LSG ließ die Revision zu.

Das Urteil des LSG wurde der Beklagten am 12. Juni 1962 zugestellt. Die Beklagte legte am 5. Juli 1962 Revision ein, sie beantragte,

das Urteil des LSG Bremen vom 5. April 1962 und das Urteil des SG Bremen vom 16. März 1961 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Beklagte begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 8. September 1962. Sie machte geltend, das LSG habe zu Unrecht die Übergewichtigkeit des Klägers bei der Festsetzung der MdE wegen der Schädigungsfolgen berücksichtigt, es habe insbesondere § 30 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) verletzt.

Der Kläger beantragte,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft, die Beklagte hat sie frist- und formgerecht eingelegt, sie ist daher zulässig; sie ist auch begründet.

Das LSG hat angenommen, der Kläger sei durch die Schädigungsfolgen - im wesentlichen Narbenbildung und Einschränkung der Beweglichkeit im linken Fußgelenk - um 25 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert, die Schädigungsfolgen seien zwar "nicht besonders schwer", sie verursachten "normalerweise" keine MdE von 25 v. H., bei dem Kläger jedoch, der jetzt an einer erheblichen Übergewichtigkeit leide, wirke sich die Beinschädigung wesentlich stärker aus; dies sei bei der Feststellung der Versorgungsbezüge zu berücksichtigen, obgleich die Übergewichtigkeit des Klägers keine Schädigungsfolge sei.

Die Beklagte rügt zu Recht, das LSG habe die Sach- und Rechtslage nicht zutreffend beurteilt.

Das LSG hat zwar zutreffend ausgeführt, die MdE sei "individuell" zu werten, es sei dabei "in Bezug auf die Integrität und in Bezug auf die Entwicklung im allgemeinen Erwerbsleben eine Gesamtschau der Persönlichkeit in ihrem leiblich-seelischen Gefüge zugrunde zu legen" (vgl. auch BAM Rundschreiben vom 20. Februar 1957 - BVBl 1957 S. 34); es hat jedoch verkannt, daß für die Feststellung des "Schadens" - der gesundheitlichen Folgen des schädigenden Ereignisses - stets nur die Verhältnisse maßgebend sind, die bei Eintritt des schädigenden Ereignisses bestanden haben; durch sie allein wird der Schaden, der auf den militärischen Dienst zurückzuführen ist, bestimmt und begrenzt. Die Beurteilung der MdE ist die Bewertung des Ausmaßes der Schädigung, deren Eintritt das schädigende Ereignis alsbald ausgelöst hat, die MdE ist nicht eine weitere Folge des "Erfolgs" - der Gesundheitsstörung -; sie ist vielmehr die Bewertung des "Erfolgs"; es handelt sich bei der Feststellung der MdE nicht darum, einen "Geschehensablauf" zwischen Gesundheitsstörung und MdE zu beurteilen, die MdE kann sich deshalb nicht auf Einbußen der Erwerbsfähigkeit erstrecken, die durch Ereignisse außerhalb der versorgungsrechtlich erheblichen Ursachenkette ausgelöst worden sind. Es entspricht dem Ziel und Zweck des Versorgungsrechts, die "durch" ein versorgungsrechtlich erhebliches Ereignis ausgelösten Schädigungen auszugleichen, nicht aber etwa alle Nachteile auszugleichen, die einem Versorgungsberechtigten nach seiner Schädigung ohne ursächlichen Zusammenhang mit der Schädigung erwachsen (BSG 17, 114 mit weiteren Hinweisen; BSG 17, 99). Außerhalb des versorgungsrechtlich erheblichen Bereichs liegen somit Schäden, die zeitlich nach dem Ereignis eingetreten sind und nicht mit der Schädigung im Zusammenhang stehen, insbesondere alters- und konstitutionsbedingte Veränderungen des körperlichen Zustands des Betroffenen oder Veränderungen durch andere nicht wehrdienstbedingte Ereignisse, wie etwa durch Erkrankungen oder Unfälle ("Nachschäden"). Dagegen sind für das Ausmaß der Schädigung und damit für die Bewertung der MdE gegebenenfalls auch nicht wehrdienstbedingte gesundheitliche Schäden, die vor Eintritt des schädigenden Ereignisses bestanden haben, also "Vorschäden", zu berücksichtigen; insofern trifft es zu, daß es darauf ankommt, in welchem Maße sich die Schädigung auf den Beschädigten, "so wie er beschaffen ist", und auf seine Erwerbsfähigkeit ausgewirkt hat.

Die Beklagte, die im Jahre 1958 - erstmals - das Ausmaß des Schadens, der durch das schädigende Ereignis - die Verwundung vom Jahre 1944 - eingetreten ist, bewertet hat, hat daher die im Laufe der Jahre nach der Verwundung - schädigungsunabhängig - entstandene außergewöhnliche Fettleibigkeit des Klägers nicht berücksichtigen dürfen, wenn diese Erkrankung nicht auf einem "Vorschaden", d. h. auf einem krankhaften physischen oder psychischen Geschehen beruht hat, das bereits vor dem Eintritt des schädigenden Ereignisses vorgelegen hat. Die Entscheidung über den Antrag auf Rente kann nicht um so günstiger ausfallen, je später der Rentenantrag gestellt und beschieden wird; das wäre aber der Fall, wenn bei der Bewertung der MdE auch "Nachschäden" berücksichtigt werden müßten. Hätte der Kläger den Rentenantrag nicht erst im Jahre 1958, sondern - wie die meisten Beschädigten - in früheren Jahren gestellt, als er noch nicht an der erheblichen Übergewichtigkeit gelitten hat, so wäre seine MdE wegen der Schädigungsfolgen - auch nach Auffassung des LSG - sicher nicht mit 25 v. H. bewertet worden, weil sich die Schädigungsfolgen damals noch in "normalen" Grenzen gehalten, im vorliegenden Fall also nicht wesentlich ausgewirkt haben; dabei wäre es aber trotz der später - schädigungsunabhängig - entstandenen Fettleibigkeit auch geblieben, weil sich die Schädigungsfolgen nicht geändert und somit die Voraussetzungen einer Neufeststellung der Versorgungsbezüge nach § 62 Abs. 1 BVG nicht vorgelegen hätten (vgl. auch BSG 17, 99). Auch diese Erwägung macht deutlich, daß es für die Bewertung des Ausmaßes des wehrdienstbedingten Schadens nicht auf die Verhältnisse in dem Zeitpunkt, in dem über den Rentenantrag entschieden wird, ankommen kann, sondern auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Eintritts der Schädigung; nur so ist auch eine gleiche Behandlung aller Beschädigten gewährleistet.

Bei dieser Sach- und Rechtslage hat das LSG, bevor es hat darüber entscheiden können, ob die außergewöhnliche Fettsucht des Klägers bei der Bewertung der MdE zu berücksichtigen ist oder nicht, Art und Ursache dieser Krankheit klären müssen. Der Gutachter, Facharzt für Chirurgie Prof. Dr. R hat sich zwar hierzu geäußert, das LSG hat jedoch sein Gutachten insoweit nicht ausgewertet. Wenn es so ist, wie Prof. Dr. ... angenommen hat, daß die Fettsucht des Klägers auf einem Mißverhältnis zwischen Nahrungszufuhr und Energiebedarf", auf einer "Übernahme familiärer und umgebungsbedingter Eß- und Lebensgewohnheiten, auf einer Dissoziation zwischen Hunger und Appetit als Zivilisationsschaden", im wesentlichen also auf Überernährung - bei einer gewissen konstitutionellen Bereitschaft zur Korpulenz - beruht, so kann der dadurch bedingte "Nachschaden" bei der Bewertung des Ausmaßes der wehrdienstbedingten Schädigung nicht berücksichtigt werden. Anders ist es dann, wenn ein "Vorschaden" vorliegt; das ist dann der Fall, wenn die Fettsucht auf krankhaften Veränderungen beruht, die konstitutionsbedingt oder aus anderen Ursachen (Erkrankung) - schon vor dem Eintritt des schädigenden Ereignisses vorhanden gewesen sind (z. B. Stoffwechselstörungen oder andere innersektorische Störungen). Ein "Vorschaden" in diesem Sinne ist aber noch nicht anzunehmen, wenn - ohne daß vor dem Eintritt der Schädigung ein krankhaftes Geschehen vorgelegen hat (vgl. auch Urt. des BSG vom 9.12.1959 - 10 RV 591/56 - und Wilke, in "Die KOV", 1960 S. 81) - sich nach dem Eintritt der Schädigung gezeigt hat, daß der Kläger auch eine "konstitutionelle Neigung" zur Übergewichtigkeit hat. Für die Frage, ob ein "Vorschaden" bei der Festsetzung der MdE zu berücksichtigen ist, kommt es nicht darauf an, ob dieser "Vorschaden" wehrdienstbedingt ist oder nicht; deshalb sind - entgegen der Auffassung des Prof. Dr. R - auch die auf einer anlagebedingten Bindegewebsschwäche beruhenden Krankheitserscheinungen zu berücksichtigen (X-Beinstellung, Senk- und Spreizfüße, Krampfadern), wenn sie bei Eintritt der Schädigung bereits vorgelegen haben und sich die Beinschädigung dadurch für den Kläger schwerer ausgewirkt hat. Das LSG hat dies zwar auch angenommen, es hat jedoch nicht dargelegt, welche Schlußfolgerung hieraus zu ziehen ist.

Das LSG ist, wenn es zu dem Ergebnis gekommen ist, die MdE des Klägers sei schon deshalb mit 25 v. H. zu bewerten, weil der Kläger jetzt auch an einer erheblichen Übergewichtigkeit leide, jedenfalls teilweise von unzutreffenden rechtlichen Erwägungen ausgegangen; es hat auch nicht alle für die Bewertung der MdE bedeutsamen Umstände geklärt und gewürdigt (§§ 103, 128 SGG).

Die Revision der Beklagten ist daher begründet. Das Urteil den LSG ist aufzuheben. Das BSG kann, da die tatsächlichen Feststellungen des LSG unvollständig sind, nicht in der Sache selbst entscheiden; die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

BSGE, 201

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