Leitsatz (amtlich)

1. In dem Antrag eines Versicherten auf Altersruhegeld liegt in der Regel auch der Hilfsantrag auf Gewährung von Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.

2. An Stelle des nach geltendem Recht gewährten Altersruhegeldes eines Versicherten, der in der Zeit vom 1957-01-01 bis zum 1961-12-31 berufs- oder erwerbsunfähig geworden ist, ist eine nach bisherigem Recht zu berechnende Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit gemäß ArVNG Art 2 § 42 zu gewähren, falls nach der Vergleichsberechnung die letztgenannte Rente für den Rentenberechtigten günstiger ist als das Altersruhegeld und die sonstigen Voraussetzungen des ArVNG Art 2 § 42 gegeben sind (Fortbildung BSG 1956-10-25 4 RJ 126/55 = BSGE 4, 36).

 

Normenkette

ArVNG Art. 2 § 42 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. November 1960 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die am 16. September 1892 geborene Klägerin war seit 1908 mit mehrfachen Unterbrechungen versicherungspflichtig beschäftigt. Außerdem entrichtete sie freiwillige Beiträge zur Invalidenversicherung. Nach den vorhandenen Quittungskarten sind für die Zeit

vom 10.10.1908 bis 31.10.1949

für 885 Wochen,

im Kalenderjahr 1950

für 17 Wochen,

vom 1.1.1951 bis 31.12.1956

für 72 Monate

und vom 1.1.1957 bis 31.5.1957

für 4 Monate,

zusammen also für 1230 Wochen

Beiträge geleistet. Die letzten Beiträge waren sämtlich Pflichtbeiträge. Die Klägerin hat noch bis zum 31. Mai 1957 gearbeitet. Ab 1. Juni 1957 war sie erkrankt, weshalb ihr Arbeitgeber zum 30. Juni 1957 das Arbeitsverhältnis löste.

Mit Bescheid vom 8. Juli 1957 gewährte ihr die Beklagte vorgezogenes Altersruhegeld von monatlich 62,20 DM ab 1. Juli 1957 nach § 1248 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Das Sozialgericht (SG) Mannheim verurteilte die Beklagte am 12. Dezember 1958, unter Abänderung des Bescheides vom 8. Juli 1957, das Altersruhegeld auf Grund der Vorschrift des Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) nach dem bis 1. Januar 1957 geltenden Recht zu berechnen. Es war der Ansicht, zwar sei die Anwartschaft nur aus den seit 7. September 1950 entrichteten Beiträgen erhalten. Die Anwartschaft müsse jedoch nicht aus allen vor 1957 entrichteten Beiträgen erhalten sein. Es genüge, daß die Klägerin aus den zuletzt (seit 1950) entrichteten Beiträgen die Anwartschaft erhalten habe. Für das Kalenderjahr 1957 seien keine 9 Monatsbeiträge erforderlich, da der Versicherungsfall in diesem Jahr eingetreten sei. Die Klägerin habe somit Anspruch auf Berechnung ihrer Rente nach Art. 2 § 42 ArVNG.

Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. Auf der am 17. Juli 1950 ausgestellten Versicherungskarte Nr. 19 sei für das Jahr 1950 nur eine Beschäftigung gegen Entgelt vom 7. bis 30. September und vom 18. Oktober bis 31. Dezember 1950 eingetragen. Weitere Versicherungszeiten seien für dieses Jahr nicht glaubhaft gemacht. Nach Art. 2 § 42 Satz 1 und 2 ArVNG sei die für die Klägerin günstigere Berechnung ihrer Rente nach altem Recht nur vorzunehmen, wenn die gesetzliche Wartezeit von 180 Monaten mit solchen vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträgen erfüllt sei, aus denen die Anwartschaft zu diesem Zeitpunkt nach den bis dahin geltenden Vorschriften erhalten war. Die Anwartschaft sei aber nur aus den nach dem 31. Dezember 1949 erstmals wieder ab 7. September 1950 entrichteten Beiträgen erhalten. Aus den bis zum 31. Dezember 1949 entrichteten Beiträgen sei sie nach § 1264 Abs. 1 RVO aF erloschen, weil für die Klägerin nur 17 (statt 26) Wochenbeiträge für das Kalenderjahr 1950 entrichtet seien. Die Anwartschaft sei auch nicht zum 1. Januar 1957 durch Halbdeckung erhalten. Damit sei Art. 2 § 42 ArVNG nicht anwendbar.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die vom LSG zugelassene Revision mit dem Antrag eingelegt,

die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Mannheim vom 12. Dezember 1958 zurückzuweisen.

Die Revision rügt Verletzung des Art. 2 § 42 ArVNG, weil die Wartezeit von 180 Beitragsmonaten nach § 1249 RVO nF erfüllt sei. Art. 2 § 42 ArVNG setze die vom LSG geforderte besondere Wartezeit nicht voraus. Aus dem Schweigen des Gesetzes sei zu schließen, daß die Erfüllung der Wartezeit nur nach neuem Recht zu prüfen sei.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Art. 2 § 42 ArVNG diene der Besitzstandswahrung. Die Klägerin hätte ohne das ArVNG überhaupt keinen Rentenanspruch, weil sie erst infolge des Wegfalls aller Anwartschaftserhaltungsvorschriften die Wartezeit erfüllt habe. Die ohnehin durch das ArVNG bessergestellte Klägerin würde durch eine Vergleichsrente über Recht und Billigkeit hinaus begünstigt werden.

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch zum Teil begründet.

Nach Art. 2 § 42 ArVNG ist bei Versicherungsfällen, die in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum 31. Dezember 1961 eintreten, die Rente nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften über die Zusammensetzung und die Berechnung der Rente einschließlich des Sonderzuschusses des § 36 Abs. 1 aus den bis zum 31. Dezember 1956 zurückgelegten Versicherungszeiten zu berechnen, wenn dies für den Berechtigten gegenüber der Berechnung der Rente nach den ab 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften günstiger ist. Das gilt jedoch nur, wenn aus den vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträgen die Anwartschaft zu diesem Zeitpunkt nach den bis dahin geltenden Vorschriften erhalten war.

Wie durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nunmehr geklärt ist, setzt die günstigere Berechnung nach altem Recht gemäß Art. 2 § 42 ArVNG voraus, daß bei Eintritt des Versicherungsfalles die Wartezeit erfüllt ist mit Beiträgen, die für die Zeit nach dem 31. Dezember 1956 entrichtet sind, und solchen Beiträgen, die vor dem 1. Januar 1957 entrichtet sind und aus denen die Anwartschaft zu diesem Zeitpunkt erhalten war (BSG 15, 271; 4 RJ 329/61 vom 22. November 1962). Damit kann die Klägerin, wie das Berufungsgericht zu Recht entschieden hat, die Berechnung ihres Altersruhegeldes nach bisherigem Recht nicht verlangen, weil die Anwartschaft aus den vor 1950 entrichteten Beiträgen erloschen war und mit den seit 1950 zurückgelegten 77 Beitragsmonaten die Wartezeit von 180 Beitragsmonaten nicht erfüllt ist.

Das LSG hat indes nicht geprüft, ob die Klägerin auf Grund eines in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis 31. Dezember 1961 eingetretenen Versicherungsfalles der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit die Berechnung ihrer Rente nach dem für sie günstigeren alten Recht auf Grund des Art. 2 § 42 ArVNG beanspruchen kann. Mit den seit 1950 entrichteten und in ihrer Anwartschaft erhaltenen Beiträgen war die für eine Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 RVO nF) oder wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 RVO nF) erforderliche Wartezeit von 60 Beitragsmonaten erfüllt. Die Klägerin hätte daher möglicherweise eine nach altem Recht zu berechnende und um den Sonderzuschuß des Art. 2 § 36 ArVNG zu erhöhende Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrente beanspruchen können, die höher ist als das gewährte Altersruhegeld. Der Antrag der Klägerin im Verwaltungs- und sozialgerichtlichen Verfahren war zwar ausdrücklich nur auf das vorgezogene Altersruhegeld gerichtet, aber wie der erkennende Senat am 4. November 1960 unter 4 RJ 305/59 bereits ausgesprochen hat, liegt in dem Antrag auf Altersruhegeld (§ 1248 RVO) in der Regel auch der Hilfsantrag zur Zahlung von Rente wegen Berufsunfähigkeit (§ 1246 RVO) oder wegen Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 RVO). Eine solche weitgehende Auslegung des Rentenantrags dahin, daß der mutmaßliche Wille des Versicherten stets darauf gerichtet ist, die für ihn günstigste Rente zu erhalten, entspricht der überwiegenden Rechtsprechung und Praxis (vgl. u. a. AN 1936, 331; BSG 7, 118; Söchting, SozVers 1961, 131, 136 zu 4); Niemann, SozVers 1961, 350). Das Berufungsgericht hat mithin verkannt, daß in dem Antrag auf Gewährung von Altersrente stillschweigend der Hilfsantrag auf Gewährung von Rente minderer Leistung, nämlich wegen Berufs- oder wegen Erwerbsunfähigkeit liegen konnte, falls eine dieser Renten günstiger ist als das in erster Linie beantragte Altersruhegeld. Denn der Wille eines Versicherten, der einen Rentenantrag stellt, geht ganz allgemein dahin, eine Rente aus der Arbeiterrentenversicherung, und zwar die für ihn günstigste Rente aus dem Versicherungsverhältnis zu erhalten, soweit dies im Einzelfall nicht mit sonstigen Nachteilen für ihn verbunden ist. Das LSG hätte also, um dem materiell-rechtlichen Anspruch der Klägerin auf die ihr günstigste Rente zu genügen, Feststellungen dahin treffen müssen, ob nicht etwa der Versicherungsfall der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit (§§ 1246, 1247 RVO nF) seit dem 1. Juni 1957 innerhalb der bis 31. Dezember 1961 laufenden Übergangszeit eingetreten ist (Art. 2 § 42 ArVNG), um danach unter Zugrundelegung einer Wartezeit von 60 Beitragsmonaten die günstigere Rente nach dem vor dem 1. Januar 1957 geltenden Recht zu errechnen und ggf. zuzusprechen.

Hiergegen läßt sich nicht einwenden, daß die Erreichung des Lebensalters von 65 Jahren andere Versicherungsfälle ausschließt. Denn es würde nicht einleuchten, daß der über 65 Jahre alte Versicherte, der zugleich berufs- oder erwerbsunfähig ist, trotz höherer Beitragsleistung nur eine geringere Rente soll beanspruchen können als der, welcher mit weniger Beiträgen nur eine Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit erhält. Der Bezug des Altersruhegeldes schließt mithin nicht aus, statt dieser Rente eine solche wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit zu gewähren und die Rente nach dem bis zum 31. Dezember 1956 geltenden günstigeren Recht zu berechnen (GE Nr. 4935, AN 1936, 19; BSG 4, 36, 41). Gegen den erweiterten Rentenvergleich läßt sich ferner kaum einwenden, daß die Klägerin möglicherweise die nach Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG für jedes Kalenderjahr vor dem des Versicherungsfalls geforderten 9 Monatsbeiträge nicht entrichtet hat, weil der Empfänger des Altersruhegeldes versicherungsfrei ist (§ 1229 Abs. 1 Nr. 1 und § 1233 Abs. 1 Satz 2 RVO; BSG 11, 254). Mithin hätte die Klägerin Anspruch auf Durchführung der Vergleichsberechnung, falls der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit vor dem 31. Dezember 1961 eingetreten ist. Die von der Revision angefochtene Entscheidung ist daher insoweit unter sachlich-rechtlichen Gesichtspunkten zu beanstanden; sie verletzt Art. 2 § 42 ArVNG.

Die Revision ist damit teilweise begründet. Denn es ist möglich, daß die vom LSG unterlassene Vergleichsberechnung unter dem Gesichtspunkt eines Versicherungsfalles der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit der Klägerin eine günstigere Rente als das Altersruhegeld nach dem ab 1. Januar 1957 in Kraft getretenen Recht verschafft hätte. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Da tatsächliche Feststellungen über den Eintritt des Versicherungsfalls der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit fehlen, konnte der Senat nicht in der Sache selbst entscheiden. Die Sache war daher an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG). Ergeben die ergänzenden Feststellungen des LSG, daß die Klägerin in der Zeit vom 1. Juni 1957 bis 31. Dezember 1961 berufsunfähig oder erwerbsunfähig geworden ist, so wird das LSG über den Anspruch auf die Vergleichsberechnung unter dem Gesichtspunkt einer Erwerbs- bzw. Berufsunfähigkeitsrente zu entscheiden haben.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379857

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