Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff der einmaligen Leistung iS von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG

 

Leitsatz (amtlich)

Begehrt der Kläger Kostenerstattung für im Rahmen einer längeren Krankenbehandlung mehrfach verordnete Arznei- oder verbrauchbare Hilfsmittel (hier: Vlieswindeln und Krankenunterlagen), so betrifft die Berufung einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen iS von § 144 Abs 1 Nr 2 SGG (Anschluß an BSG 31.7.1963 3 RK 92/59 = BSGE 19, 270 = SozR Nr 2 zu § 368d RVO).

 

Orientierungssatz

Eine einmalige Leistung iS von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG liegt nur vor, wenn es sich um ein Geschehen handelt, das sich seiner Natur nach in einem bestimmten, verhältnismäßig kurzen Zeitraum abspielt und sich im wesentlichen in einer einzigen Handlung (Gewährung) erschöpft (vgl BSG 27.1.1977 7 RAr 17/76 = BSGE 43, 134, 135).

 

Normenkette

SGG § 144 Abs 1 Nr 1; SGG § 144 Abs 1 Nr 2; RVO § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c, § 182b

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 23.11.1984; Aktenzeichen L 4 Kr 847/82)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 26.08.1981; Aktenzeichen S 4 Kr 850/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten nur noch darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger die Aufwendungen zu erstatten, die durch Beschaffung von Krankenunterlagen und Vlieswindeln für seine an Multipler Sklerose (MS) erkrankte, im November 1976 verstorbene Ehefrau Anita B. entstanden sind.

Die Ehefrau des Klägers war von 1935 bis zu ihrem Tode - zuletzt als Rentnerin - Pflichtmitglied der Beklagten. Am 18. August 1976 wandte sich der Kläger in Vertretung seiner Ehefrau an die Beklagte und bat um Erstattung der Aufwendungen für eine Hauspflegerin und für Krankenunterlagen und Vlieswindeln. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 4. November 1976 und Widerspruchsbescheid vom 14. März 1977 ab.

Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen, soweit mit ihr die Erstattung der Aufwendungen für Krankenunterlagen und Vlieswindeln begehrt wird. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen wird ua ausgeführt: Soweit die Berufung die Erstattung der Aufwendungen für die selbstbeschafften Krankenunterlagen und Vlieswindeln betreffe, stehe dem Rechtsmittel der Berufungsausschlußgrund des § 144 Abs 1 Nr 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entgegen. Bei der Versorgung mit Hilfsmitteln handele es sich um einmalige Leistungen. Zwar seien der verstorbenen Ehefrau des Klägers nicht nur einmal, sondern aufgrund ärztlicher Verordnung in Abständen von mehreren Monaten wiederholt die erforderlichen Krankenunterlagen und Vlieswindeln beschafft worden. Das ändere aber nichts daran, daß die verordneten Leistungen einmalige Leistungen iS von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG darstellten. Die Gewährung eines Hilfsmittels sei ein Geschehen, das sich seiner Natur nach in einer bestimmten, verhältnismäßig kurzen Zeitspanne abspiele und sich im wesentlichen in einer einzigen Gewährung erschöpfe. Werde - wie hier - die Ausstattung mit einem Hilfsmittel in Abständen wiederholt, so sei jeder Vorgang für sich zu betrachten. Entscheidend komme es nämlich auf den Vorgang der Gewährung des Hilfsmittels an. Das Bundessozialgericht (BSG) habe allerdings entschieden, daß die Versorgung mit Arzneimitteln dann als wiederkehrende Leistung anzusehen sei, wenn diese im Rahmen einer sich von vornherein auf längere Zeit erstreckenden ärztlichen Behandlung erfolge. Diese Auffassung möge wegen des besonders engen Zusammenhangs der Versorgung mit Arzneimitteln und der ärztlichen Behandlung gerechtfertigt sein. Sie könne aber nicht auf die andersgeartete Versorgung mit Hilfsmitteln übertragen werden, auch wenn diese ebenfalls eine Leistung der Krankenpflege iS des § 182 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei. Hilfsmittel dienten im Gegensatz zu Arzneimitteln, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der ärztlichen Behandlung angewendet würden, nicht der therapeutischen Einflußnahme, sondern seien dazu bestimmt, körperliche Behinderungen auszugleichen.

Mit der Revision macht der Kläger geltend, das Urteil des LSG weiche von der Entscheidung des BSG in BSGE 19, 270, 271 ab, soweit es die Berufung als unzulässig verworfen habe. Wenn in dem genannten Urteil die Versorgung mit Arzneimitteln als wiederkehrende Leistung angesehen werde, so müsse dies im vorliegenden Falle auch für die Gewährung von Hilfsmitteln gelten. Da beide Leistungen unmittelbar mit der ärztlichen Behandlung angewendet würden und gleichermaßen ihrem Zweck dienten, vermöge die unterschiedliche Anwendung der Berufungsausschlußgründe bei Hilfsmitteln und Arzneimitteln nicht zu überzeugen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. November 1984, das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 26. August 1981 sowie die Bescheide der Beklagten vom 8. September 1976, 9. Dezember 1976 und 14. März 1977 aufzuheben, soweit sie die Erstattung der Kosten für Vlieswindeln und Krankenunterlagen (Hilfsmittel) betreffen, und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Kosten dieser Hilfsmittel zu erstatten.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 1 SGG).

Die Revision des Klägers führt zur teilweisen Aufhebung des angefochtenen Urteils und insoweit zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG, weil die Tatsachenfeststellungen zur Entscheidung über den Anspruch auf Kostenerstattung für die Beschaffung von Krankenunterlagen und Vlieswindeln nicht ausreichen.

Das LSG hat die Berufung, soweit sie den genannten Anspruch auf Kostenerstattung betrifft, zu Unrecht als unzulässig verworfen. Entgegen der im angefochtenen Urteil vertretenen Ansicht betrifft die Berufung nicht einen Anspruch auf einmalige Leistungen iS von § 144 Abs 1 Nr 1 SGG, sondern auf wiederkehrende Leistungen iS von § 144 Abs 1 Nr 2 SGG. Eine einmalige Leistung liegt nur vor, wenn es sich um ein Geschehen handelt, das sich seiner Natur nach in einem bestimmten, verhältnismäßig kurzen Zeitraum abspielt und sich im wesentlichen in einer einzigen Handlung (Gewährung) erschöpft (BSGE 2, 135, 136; 43, 134, 135). Diese Voraussetzung ist nicht gegeben. Der Ehefrau des Klägers sind über mehrere Jahre ärztlich Vlieswindeln und Krankenunterlagen verordnet worden. Das Geschehen, auf das sich der geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung bezieht, hat sich daher weder in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum abgespielt, noch hat er sich im wesentlichen in einer einzigen Handlung erschöpft. Für die mehrfache Verordnung von Arzneimitteln im Rahmen einer länger dauernden Krankenbehandlung hat der 3. Senat des BSG mit dem von den Beteiligten zitierten Urteil vom 31. Juli 1963 - 3 RK 92/59 - (BSGE 19, 270, 271 f) angenommen, daß es sich nicht um jeweils einmalige Leistungen handele, sondern um unselbständige Teilleistungen, die auf dem ihre Gestaltung im einzelnen bestimmenden Gesamtzweck der Behandlung ausgerichtet seien und in ihrer Zusammenfassung ein geschlossenes Ganzes bildeten. Werde die Behandlung - wie es in der zitierten Entscheidung weiter heißt - durch die regelmäßige Wiederkehr im wesentlichen gleichförmiger Leistungen gekennzeichnet, so sei es nach dem Gesetzeszweck gerechtfertigt, eine auf eine einheitliche, längere Behandlung gerichtete Krankenpflege in Gestalt sowohl der ärztlichen Behandlung als auch der Versorgung mit Arznei als wiederkehrende Leistungen iS des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG anzusehen. Der erkennende Senat schließt sich dieser Auffassung an. Dabei kann dahinstehen, ob Vlieswindeln und Krankenunterlagen als Hilfsmittel iS von § 182 Abs 1 Nr 1 Buchst c und § 182 b RVO anzusehen sind (vgl hierzu Krauskopf/Schroeder-Printzen, Soziale Krankenversicherung, 2. Aufl, § 182 Anm 3.2.5 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 13. Mai 1982 - 8 RK 8/81 -). Selbst wenn das der Fall sein sollte, stünde § 144 Abs 1 Nr 1 SGG der Berufung nicht entgegen. Die §§ 144 ff SGG sollen die Landessozialgerichte von weniger bedeutsamen Streitsachen entlasten (Meyer-Ladewig, SGG, Komm, 2. Aufl, § 144 Anm 1). Daher ist für die Berufungsausschließungsgründe in erster Linie der sachliche Gehalt des streitigen Anspruchs maßgebend (BSG, Urteil vom 26. Juli 1978 - 3 RK 24/78 - SozR 1500 § 144 Nr 10). Es würde dem Sinn und Zweck der §§ 144 ff SGG widersprechen, wenn man die im Rahmen einer längeren Krankenbehandlung erfolgende mehrfache Verordnung von Arznei- oder verbrauchbaren Hilfsmitteln jeweils isoliert betrachten und als einmalige Leistungen ansehen wollte. Die Versorgung mit Heil- und Hilfsmitteln in kürzeren, nicht notwendig regelmäßigen zeitlichen Abständen erhält dadurch den Charakter wiederkehrender Leistungen, daß sie Teil einer längeren Krankenbehandlung ist (vgl dazu auch BSG, Urteile vom 29. Januar 1981 - 11 RK 7/80 - und vom 27. Juni 1985 - 8 RK 44/84 - SozR 2200 § 182a Nr 4 und § 182f Nr 1). Die Berufung ist auch nicht durch § 144 Abs 1 Nr 2 SGG ausgeschlossen. Denn der Rechtsstreit betrifft wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von mehr als 13 Wochen.

Für die Frage der Zulässigkeit ist es ohne Bedeutung, daß der Kläger nicht die Versorgung mit Vlieswindeln und Krankenunterlagen verlangt, sondern lediglich Kostenerstattung begehrt (vgl dazu BSGE 19, 270, 272; BSG, Urteil vom 26. Juli 1978, aa0). Zwar ist die Erstattung der Kosten als solche keine wiederkehrende Leistung. Hat die Krankenkasse aber abgelehnt, bestimmte Arznei- oder Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, und erhebt der Kläger, nachdem er diese Mittel sich selbst beschafft hat, Klage auf Übernahme der Kosten, so muß dieser Anspruch hinsichtlich der Statthaftigkeit der Berufung ebenso behandelt werden wie der ihm zugrunde liegende Sachleistungsanspruch. Anderenfalls hinge die Zulässigkeit eines Rechtsmittels von dem mehr zufälligen Umstand ab, ob die Leistung, um die der Streit der Sache nach geht, bereits erbracht ist oder noch aussteht (BSGE 4, 206, 208 f).

Der Senat ist gehindert, in der Sache selbst zu entscheiden. Der Kläger kann nur dann Erfolg haben, wenn die beklagte Ersatzkasse die Leistung zu Unrecht verweigert hat (BSGE 35, 10, 14; 42, 117, 119; BSG, Urteile vom 9. September 1981- 3 RK 58/79 - und vom 14. Dezember 1982 - 8 RK 23/81 - SozR 2200 § 182 Nrn 74 und 86), obwohl bei der Ehefrau des Klägers eine behandlungsbedürftige Krankheit vorgelegen hat und die selbstbeschafften Vlieswindeln und Krankenunterlagen im Rahmen der Krankenpflege notwendig gewesen sind (§ 507 Abs 1 iVm § 179 und § 182 Abs 1 Nr 1 und Abs 2 RVO). Die insoweit notwendigen Feststellungen wird das LSG nachholen müssen. Dabei wird es gegebenenfalls auch festzustellen haben, ob die Ehefrau des Klägers schon vor 1976 erfolglos bei der Beklagten Anträge auf die Versorgung mit Vlieswindeln und Krankenunterlagen gestellt hat und wann dies geschehen ist, sowie ob, wann und wie die Beklagte - etwa bindend - darüber entschieden hat. Im Rahmen der dann erforderlichen Sachentscheidung ist ua auch zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die von den Vorinstanzen ohne weitere Begründung angenommene Sonderrechtsnachfolge des Klägers (§ 56 Abs 1 Nr 1 iVm § 59 SGB I) vorliegen, und ob der geltend gemachte Anspruch auf Kostenerstattung nicht teilweise oder ganz verjährt ist (§ 45 SGB I).

Das LSG wird auch über die Kosten für das Revisionsverfahren zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658052

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