Leitsatz (amtlich)

1. Wird wegen eines bestimmten Leidens Krankenpflege im Rahmen einer einheitlichen, längeren Behandlung gewährt, so handelt es sich sowohl bei der ärztlichen Behandlung als auch bei der Versorgung mit Arznei um wiederkehrende Leistungen iS des SGG § 144 Abs 1 Nr 2.

2. Hat ein Versicherter in einem Notfall einen nicht zugelassenen Arzt in Anspruch genommen (RVO § 368d Abs 1 S 2), so richtet sich der Anspruch des Versicherten auf Ersatz seiner Aufwendungen gegen die Kassenärztliche Vereinigung (nicht gegen seine Krankenkasse).

3. Ein "Notfall" iS des RVO § 368d Abs 1 S 2 liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn ein Versicherter nach mehrjähriger erfolgloser Behandlung durch Kassenärzte einen nicht zugelassenen Arzt in der Hoffnung eines besseren Erfolges aufsucht, ohne sich mit seiner Kasse ins Benehmen gesetzt zu haben.

4. Als Leistung der Krankenpflege (RVO § 182 Abs 1 Nr 1) kann Versorgung mit Arznei nur im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung (RVO § 368 Abs 2 S 2) beansprucht werden.

Aus Arzneiverordnungen eines nichtzugelassenen Arztes wird daher die Krankenkasse - abgesehen von Notfällen - nicht verpflichtet.

 

Normenkette

SGG § 144 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-06-26, § 368d Abs. 1 S. 2 Fassung: 1955-08-17, § 368 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1955-08-17, § 368f Fassung: 1955-08-17, § 368e Fassung: 1955-08-17

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. April 1958 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger ist Mitglied der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK). Seit 1947 hatte er wegen einer schweren Polyarthritis bei mehreren Kassenärzten in Behandlung gestanden und mehrfach Heilverfahren durchgemacht, ohne daß eine anhaltende Besserung seines Gesundheitszustandes eingetreten war. Im Jahre 1956 hörte er von dem in Wiesbaden praktizierenden Facharzt für innere Krankheiten Prof. Dr. S, der nicht zur Kassenpraxis zugelassen war, und begab sich in dessen Behandlung. Dieser verordnete dem Kläger Cortison-Tabletten und erzielte damit eine Besserung.

Im August 1956 wandte sich der Kläger an die beklagte AOK mit der Bitte um "Beihilfe" wegen der Kosten der ärztlichen Behandlung, die etwa sieben Monate gedauert hatte (248 DM), und der verordneten Arzneimittel (568,65 DM). Die Beklagte hörte u. a. ihren Landesverband und die beigeladene Kassenärztliche Vereinigung und lehnte schließlich den Antrag des Klägers mit der Begründung ab, es habe kein Notfall im Sinne des § 368 d Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vorgelegen, der die Inanspruchnahme eines nichtzugelassenen Arztes gerechtfertigt hätte (Bescheid vom 23. April 1957). Aus dem gleichen Grunde wurde der Widerspruch des Klägers von der Widerspruchsstelle der beklagten AOK zurückgewiesen (Bescheid vom 26. Juni 1957).

Mit der Klage hat der Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen,

ihm die Kosten der Behandlung durch Dr. S und der durch diesen verordneten Arzneimittel zu ersetzen.

Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 29. Oktober 1957). Es hat das Vorliegen eines Notfalls im Sinne des § 368 d Abs. 1 Satz 2 RVO anerkannt.

Gegen dieses Urteil hat die beklagte AOK Berufung eingelegt. Nach ihrer Auffassung hat das SG den Begriff des Notfalls verkannt. Selbst wenn ein Versicherter durch die Behandlung der von ihm bisher in Anspruch genommenen Kassenärzte nicht geheilt worden sei, dürfe er nicht zur Selbsthilfe schreiten; ihm bleibe nur der Weg einer vorherigen Einigung mit seiner Krankenkasse.

Demgegenüber beruft sich der Kläger darauf, daß ihm sein Hausarzt Dr. Sch bei einer zufälligen Begegnung nach Beginn der Behandlung durch Dr. S erklärt habe, er könne ihm als Kassenarzt kein Cortison verordnen. Hierüber hat das LSG Dr. Sch als Zeugen vernommen.

Mit Urteil vom 30. April 1958 hat das Landessozialgericht (LSG) die Entscheidung des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision wurde nicht zugelassen. In der Sache selbst ist das LSG davon ausgegangen, ein Notfall im Sinne des § 368 d Abs. 1 Satz 2 RVO sei auch dann gegeben, wenn ein Kassenarzt zwar zur Verfügung stehe, jedoch eine sachgemäße Behandlung nicht vornehmen könne oder wolle. Im vorliegenden Fall sei aber nicht erwiesen, daß der Kläger infolge einer Weigerung des Dr. Sch, ihm Cortison zu verordnen, gezwungen gewesen sei, die Behandlung bei Dr. S zu beginnen oder fortzusetzen. Der Kläger habe sich vielmehr in die Behandlung des Nichtkassenarztes Dr. S gegeben, ohne vorher oder unmittelbar nach Beginn der Behandlung durch eine Rücksprache mit der beklagten AOK oder Dr. Sch versucht zu haben, eine Cortisonbehandlung als Kassenleistung zu erhalten. Hinzu komme, daß die Krankenkassen nur verpflichtet seien, das zur Erzielung des Heilerfolges Notwendige zu leisten. Es könne nur Versorgung mit erprobten Arzneien verlangt werden, die nach ärztlicher Erfahrung geeignet seien, den erstrebten Heilerfolg herbeizuführen. Die zu der hier in Frage stehenden Zeit verfügbaren Cortison-Präparate hätten jedoch wegen ihrer Nebenwirkungen nicht ohne Gefährdung des Patienten angewendet werden können, so daß Zurückhaltung in ihrer Verordnung - so auch die schriftlichen Richtlinien der Arzneimittel-Kommission der Deutschen Ärzteschaft - geboten gewesen sei. Deshalb sei die Weigerung der beklagten AOK berechtigt, die Aufwendungen für die durch Dr. S verordneten Cortison-Tabletten zu ersetzen. Dem stehe nicht entgegen, daß die Beklagte dem Kläger seit 1937 eine Cortison-Behandlung - durch einen Kassenarzt - zukommen lasse, weil sich seitdem in ihrer Wirkung bekannte Cortison-Präparate auf dem Markt befänden.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Revision eingelegt mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Er rügt, das LSG habe seiner Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts nicht genügt (§ 103 SGG):

1.) Von seinem Rechtsstandpunkt aus, ein Notfall im Sinne des § 368 d RVO liege auch vor, wenn vom behandelnden Kassenarzt oder von der Krankenkasse eine andere erfolgversprechende Behandlung abgelehnt werde, hätte es sich angesichts der genauen Darstellung des Klägers und der sehr unbestimmt gehaltenen Aussage des Zeugen Dr. Sch gedrängt fühlen müssen, noch die Ehefrau des Klägers als Ohrenzeugin der Erklärungen des Dr. Sch zu hören. Hätte das LSG dies aber getan, so hätte es als erwiesen ansehen müssen, daß Dr. Sch die Behandlung mit Cortison Anfang 1956 abgelehnt hatte.

2.) Das LSG habe sich zur Klärung der Frage, ob Cortison zur Zeit der Behandlung des Klägers durch Dr. S hinreichend erprobt gewesen sei, allein auf die Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. Sch gestützt, obwohl zu erkennen gewesen sei, daß dieser sich wegen seiner vorausgegangenen jahrelangen erfolglosen Behandlung des Klägers zu rechtfertigen versucht habe und deshalb befangen gewesen sei. Dabei habe er sich in einen offensichtlichen Widerspruch verwickelt. Aus seiner Aussage gehe einerseits hervor, daß er etwa im August/September 1956 die Anwendung von Cortison noch für problematisch gehalten habe, andererseits aber auch, daß er selbst in einem am 28. September 1956 ausgestellten Attest eine "Ausnahmebehandlung" des Klägers mit Cortison empfohlen habe. Diesen Widerspruch habe das Berufungsgericht übersehen.

Die beklagte AOK hat beantragt,

in erster Linie: die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise: die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II

1.) Die Revision ist zulässig.

Da das LSG die Revision nicht zugelassen hat, findet sie nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nur statt, wenn der Kläger einen wesentlichen Mangel des Verfahrens vor dem LSG mit Erfolg gerügt hat. Dabei ist zu berücksichtigen, daß mit der Klage zwei selbständige Ansprüche verfolgt werden. Der Kläger begehrt Ersatz seiner Aufwendungen für die Behandlung durch einen nicht zugelassenen Arzt in einem Notfall (§ 368 d Abs. 1 Satz 2 RVO) und für Arzneien, die von diesem verordnet wurden. Entgegen der Auffassung des LSG, aus der Zulässigkeit des Rechtsmittels für einen Anspruch folge bereits dessen Zulässigkeit für den ganzen Rechtsstreit, ist die Statthaftigkeit des Rechtsmittels für jeden Anspruch gesondert zu prüfen (BSG S, 228, 231 f.).

Soweit es sich um den Anspruch auf Ersatz der Kosten für die ärztliche Behandlung handelt, ist das LSG davon ausgegangen, ein Notfall im Sinne des § 368 d Abs. 1 Satz 2 RVO sei auch dann gegeben, wenn ein Kassenarzt zwar zur Verfügung stehe, jedoch eine sachgemäße Behandlung nicht vornehmen könne oder wolle. Von diesem für den Umfang der Sachaufklärungspflicht maßgebenden Rechtsstandpunkt aus (vgl. BSG, Beschluß vom 7. Juni 1956, SozR SGG § 103 Bl. Da 2 Nr. 7) hat es die Frage geprüft, ob der Kläger infolge einer Weigerung des Dr. Sch, ihm Cortison zu verordnen, gezwungen gewesen sei, die Behandlung bei Dr. S zu beginnen oder fortzusetzen. Das LSG hat - gestützt auf die Erklärung des Klägers und die Aussage des Dr. Sch eine solche Weigerung dieses Arztes als nicht erwiesen angesehen. Mit Recht macht die Revision geltend, daß sich das LSG angesichts der bestimmten Erklärung des Klägers, bei einer Begegnung mit Dr. Sch etwa drei bis vier Wochen nach Beginn der Behandlung durch Dr. S habe Dr. Sch ihm gesagt, er dürfe Cortison nicht verschreiben, und dessen unsicherer Aussage - "Wenn der Kläger angibt, daß er damals bereits beim ersten Zusammentreffen auf der Straße von Cortison gesprochen habe, und weiter behauptet, ich hätte ihm erklärt, daß ich das Mittel nicht anwenden dürfe, so kann ich das nicht direkt bestreiten" ... -, hätte veranlaßt sehen müssen, den Sachverhalt näher aufzuklären und entsprechend dem Beweisangebot des Klägers dessen Ehefrau zu der behaupteten Äußerung des Dr. Sch zu hören. Demnach greift die Rüge durch, das LSG habe insoweit seiner Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts nach § 103 SGG nicht genügt.

Dasselbe gilt für den Anspruch auf Ersatz der Kosten der verordneten Cortison-Präparate. Von dem Standpunkt aus, es könne nur Versorgung mit erprobten Arzneien verlangt werden, hat das LSG die Bekundung des sachverständigen Zeugen Dr. Sch für wesentlich erachtet, in der medizinischen Wissenschaft sei bis Mitte oder Ende 1956 bezüglich des Präparates Cortison Zurückhaltung empfohlen worden, weil sich bei diesem Nebennierenrindenhormon erhebliche, zum Teil lebensgefährliche Nebenwirkungen gezeigt hätten. Das LSG hat sich zwar nicht, wie die Revision vorträgt, für seine entsprechende Feststellung allein auf diese Aussage gestützt, sondern die Gefährlichkeit der Cortisone auch aus den von der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft aufgestellten schriftlichen Richtlinien, die den Kassenärzten durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung zugegangen seien, gefolgert; doch fehlen insoweit nähere Angaben und Belegstellen und vor allem die Feststellung, wann und mit welchen Einschränkungen diese Warnung ausgesprochen wurde. Ausschlaggebend für die Feststellung des LSG, daß Cortison bis Mitte oder Ende 1956 ein in seiner Wirkung noch nicht hinreichend bekanntes Arzneimittel gewesen ist, war - wie die Begründung des angefochtenen Urteils erkennen läßt - die Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. Sch Dieser aber hatte selbst nach seiner Bekundung bereits am 28. September 1956 in einem Attest eine "Ausnahmebehandlung" des Klägers mit Cortison empfohlen. Darin liegt, worauf die Revision mit Recht hinweist, ein Widerspruch, der es jedenfalls nicht gestattet, der Aussage des Zeugen Dr. Sch für die nach Auffassung des LSG wesentliche Frage, von wann ab Cortison als erprobt gelten konnte, einen wesentlichen Beweiswert zuzumessen, zumal es für Dr. Sch, dessen mehrjährige Behandlung des Klägers nicht den Erfolg wie die des Dr. S gehabt hatte, schwierig war, in dieser Frage völlig unbefangen zu sein. Diese Frage hätte somit nach den Umständen der Klärung durch einen an der Sache nicht beteiligten Sachverständigen bedurft.

2.) Die demnach in vollem Umfange statthafte Revision ist jedoch unbegründet. Die Entscheidung des LSG ist im Ergebnis richtig, auch soweit sie die Zulässigkeit der Berufung betrifft. Soweit es sich um den Anspruch auf Ersatz der Arztkosten handelt, ist das LSG mit Recht davon ausgegangen, daß der Rechtsstreit einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von mehr als dreizehn Wochen i. S. des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG betrifft. Dasselbe gilt aber auch - entgegen der Meinung des LSG - für den Anspruch des Klägers auf Ersatz seiner Aufwendungen für Arzneimittel. Ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei gehören zur Krankenpflege (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Im Rahmen einer Behandlung, bei der von vornherein zu erwarten ist, daß sie sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken wird, können die einzelnen Leistungen der Krankenpflege - wie auch der Krankenhauspflege (vgl. BSG 2, 135, 136 ff.) - nicht jede für sich als einmalige Leistung angesehen werden. Sie sind vielmehr unselbständige Teilleistungen, die auf den ihre Gestaltung im einzelnen bestimmenden Gesamtzweck der Behandlung ausgerichtet sind und in ihrer Zusammenfassung ein geschlossenes Ganzes bilden. Berücksichtigt man weiterhin, daß gerade eine Behandlung wie die im vorliegenden Fall angewandte Cortisonbehandlung durch die regelmäßige Wiederkehr im wesentlichen gleichförmiger Leistungen gekennzeichnet ist, so ist es nach dem Gesetzeszweck gerechtfertigt, eine auf eine einheitliche, längere Behandlung gerichtete Krankenpflege in Gestalt sowohl der ärztlichen Behandlung als auch der Versorgung mit Arznei als wiederkehrende Leistungen i. S. des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG anzusehen (vgl. zur Problematik der in § 144 Abs. 1 SGG verwandten Abgrenzungskriterien BSG 2, 135, 137 f. und SozR SGG § 144 Bl. Da 8 Nr. 21). Daß es sich im vorliegenden Fall nicht mehr um die Leistungen der Krankenpflege als solcher, sondern nur noch um die Übernahme der Kosten hierfür handelt, ändert nichts an der Natur des für die Zulässigkeit der Berufung maßgebenden Prozeßanspruchs (vgl. BSG 4, 206, 208 f.).

In der Sache selbst hat das LSG mit Recht den Anspruch des Klägers auf Ersatz seiner Aufwendungen für die Behandlung durch Dr. S als unbegründet erachtet. Für einen solchen Anspruch, der nur darauf gestützt werden kann, daß eine Notfallbehandlung i. S. des § 368 d Abs. 1 Satz 2 RVO vorgelegen hat, ist die hier in Anspruch genommene AOK von vornherein nicht die richtige Beklagte. Die Krankenkasse wird von ihren finanziellen Lasten für die kassenärztliche Versorgung (§ 368 Abs. 2 RVO) durch die Entrichtung der Gesamtvergütung an die Kassenärztliche Vereinigung befreit (§ 368 f Abs. 1 Satz 1 RVO). Das gilt auch für die Notfallbehandlung durch Nichtkassenärzte, sofern nicht Gegenteiliges im Gesamtvertrag vereinbart ist (§ 368 f Abs. 4 Satz 1 RVO). Eine solche Vereinbarung liegt nicht vor. Demnach kann ein Versicherter einen Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen für eine Notfallbehandlung nach der derzeitigen Rechtslage nur gegen die Kassenärztliche Vereinigung geltend machen.

Außerdem entfällt der Anspruch des Klägers auf Ersatz der Arztkosten deshalb, weil kein Notfall i. S. des § 368 d Abs. 1 Satz 2 RVO vorgelegen hat. Schon nach der vor Inkrafttreten des Gesetzes über Kassenarztrecht (GKAR) gültigen Regelung, die eine Inanspruchnahme nicht zugelassener Ärzte "in dringenden Fällen" (§ 368 e Abs. 3 RVO a. F.) zuließ, durfte ein Nichtkassenarzt nur in Anspruch genommen werden, wenn wegen Gefahr im Verzuge ein Kassenarzt nicht in der gebotenen Eile herbeigerufen oder aufgesucht werden konnte (vgl. Amtl. Begründung zur Novelle des Krankenversich.-Ges. von 1892, Reichstags-Drucks. Nr. 151, 8. Legislaturperiode, I. Session 1890, S. 42; s. auch Peters, Handb. der Krankenvers. Teil II, 16. Aufl., § 368 d Anm. 2; Hess-Venter, GKAR § 368 d Anm. 3; Jantz-Frange, Das gesamte Kassenarztrecht, Stand: August 1961, § 368 d Anm. I 1 b; Heinemann-Koch, Kassenarztrecht, 4. Aufl., Stand: Mai 1962, § 368 d). Regelmäßig fallen hierunter die Fälle der "ersten Hilfe" - z. B. bei Verletzung, starken Blutungen -, in denen die Behandlung nicht ohne Gefahr für Leib oder Leben des Patienten verzögert werden kann. Nun hat zwar das Reichsversicherungsamt - RVA - (Grunds. Entsch. Nr. 2193, AN 1916, 482) das Vorliegen eines "dringenden Falls" auch dann anerkannt, wenn die notwendige spezialärztliche Behandlung eines Versicherten dadurch verzögert wurde, daß ihm die Inanspruchnahme des Kassenspezialarztes durch das Verhalten der Kasse und des behandelnden Kassenarztes unmöglich gemacht wurde. Ob diese Rechtsprechung angesichts der jetzt gültigen Regelung, die den Begriff "Notfall" anstelle des bisher verwandten "dringenden Fall" eingeführt und damit möglicherweise eine Einschränkung gegenüber dem früheren Rechtszustand zum Ausdruck gebracht hat (so Peters a. a. O.), aufrechterhalten werden kann, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung; da jedenfalls die besonderen Voraussetzungen des vom RVA entschiedenen Rechtsstreits - die Versicherte hatte sich vergeblich sowohl an ihren Kassenarzt als auch vor allem an ihre Kasse gewandt, um eine dringend notwendige Röntgenbestrahlung durch einen Kassenarzt zu erhalten, und damit nach Auffassung des RVA "alles getan, was ihrerseits erforderlich war, um sich die Hilfe des Kassenspezialarztes zu verschaffen" - hier nicht vorliegen. Der Kläger hatte in dieser Hinsicht nichts unternommen, sondern - enttäuscht von dem Ergebnis einer mehrjährigen Behandlung durch Kassenärzte und mehrerer Heilverfahren - aus freien Stücken einen Nichtkassenarzt in der Hoffnung eines besseren Erfolges aufgesucht, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, mit Hilfe seiner Kasse eine mehr Erfolg versprechende Behandlung zu erreichen. Ein solches eigenmächtiges Vorgehen wird durch die Ausnahme-Ermächtigung des § 368 d Abs. 1 Satz 2 RVO nicht gedeckt.

Soweit es sich um den Anspruch auf Ersatz der Kosten für die durch Dr. S verordneten Cortison-Präparate handelt, scheidet § 368 e Satz 2 RVO als Anspruchsgrundlage aus. Nach dieser Vorschrift kann der Versicherte Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, nicht beanspruchen; der Kassenarzt und der beteiligte Arzt dürfen solche Leistungen nicht bewirken oder verordnen; die Kasse darf sie nachträglich nicht bewilligen. Der Inhalt der Regelung des letzten Halbsatzes ergibt sich nicht ohne weiteres aus dem Wortsinn. Aus dem Verbot, nicht notwendige oder unwirtschaftliche Leistungen nachträglich zu bewilligen, kann nicht etwa geschlossen werden, daß die Kasse solche Leistungen vor der Anwendung bewilligen dürfte; denn die Beschränkung des § 182 Abs. 2 RVO, daß die Krankenpflege das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf, gilt auch oder sogar in erster Linie für die Krankenkassen. Im übrigen ist es - abgesehen von bestimmten Sachleistungen, insbesondere größeren Heilmitteln - im Bereich der kassenärztlichen Versorgung der Versicherten überhaupt nicht Angelegenheit der Krankenkassen, etwas zu bewilligen. So läßt sich der Sinn des § 368 e Satz 2, letzter Halbs. RVO nur aus der Vorgeschichte dieser Vorschrift erklären (vgl. Jantz-Prange a. a. O. § 368 e Anm. 3). Während der Ausschußberatungen ist von ärztlichen Mitgliedern dieses Ausschusses darauf hingewiesen worden, daß Kassen gelegentlich Leistungen, die der Kassenarzt abgelehnt hatte, von sich aus bewilligt hätten; solche Maßnahmen seien geeignet, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zu stören. Demnach will die genannte Vorschrift verhüten, daß die Krankenkasse Leistungen, die ein Kassenarzt oder beteiligter Arzt abgelehnt hat, ihrerseits nachträglich bewilligt, auch wenn die Leistungen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten würden.

So verstanden verdeutlicht auch § 368 e Satz 2, letzter Halbs. RVO, daß die Bewilligung aller Leistungen der kassenärztlichen Versorgung (§ 368 Abs. 2 RVO) - einschließlich der in § 368 Abs. 2 Satz 2 RVO aufgezählten Aufgaben - in die Hand der Kassenärzte (und der beteiligten Ärzte) gelegt ist. Die Ansprüche des Versicherten auf ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO) hängen zwar nicht begriffsmäßig zusammen (so RVA in Grunds.Entsch. Nr. 3923, AN 1931, 7 in Anlehnung an Kühne, Arbeiterversorgung 1930, 17). Die Versicherten haben jedoch nur Anspruch darauf, die Arznei in der vom Gesetz vorgeschriebenen Weise als Sachleistung auf Kassenkosten zu beziehen. Ärztliche Behandlung und Versorgung mit Arznei obliegen zwar als "Krankenpflege" (§ 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO) den Krankenkassen, sind aber als "kassenärztliche Versorgung" (§ 368 Abs. 2 RVO) zur Durchführung in eigener Verantwortung den Kassenärzten anvertraut, die "zur Erfüllung der ihnen durch dieses Gesetz übertragenen Aufgaben der kassenärztlichen Versorgung" (§ 368 k Abs. 1 Satz 1 RVO) zu Kassenärztlichen Vereinigungen zusammengeschlossen sind. Diese haben ihrerseits dafür einzustehen, daß die kassenärztliche Versorgung den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entspricht (§ 368 n Abs. 1 Satz 1 RVO). Damit ist klargestellt, daß - abgesehen von Notfällen - der Gesamtbereich der kassenärztlichen Versorgung in den Händen der Kassenärzte (und der beteiligten Ärzte) liegt. Demgemäß läßt sich regelmäßig der Anspruch des Versicherten auf Versorgung mit Arznei nur in Gestalt der Verordnung durch einen Kassenarzt verwirklichen, wie das RVA in der genannten Entscheidung (a. a. O. S. 8) zutreffend ausgesprochen hat.

Hierfür spricht auch die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Verordnungsweise (§ 368 n Abs. 4 RVO), die im Rahmen der kassenärztlichen Selbstverwaltung den Prüfungsorganen der Kassenärztlichen Vereinigung übertragen ist, und bei der den Krankenkassen nur ein Beschwerderecht eingeräumt ist (§ 368 n Abs. 4 Satz 4 RVO). Hiermit wäre es nicht vereinbar, wenn die Krankenkassen in den Fällen, in denen der Weg der Prüfung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Verordnungsweise durch die Prüfungsorgane der Kassenärztlichen Vereinigung verschlossen ist, weil die Verordnungen von einem Nichtkassenarzt stammen, eine eigene Prüfung durchführen müßten, die nicht zu ihren Aufgaben gehört und auf die sie nicht eingerichtet sind. Demnach kann - von Notfällen abgesehen - nur ein Kassenarzt im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung und damit in Erfüllung der Verpflichtung der Krankenkasse zur Gewährung von Krankenpflege Arzneien verordnen. Verordnet ein nichtzugelassener Arzt Arzneien, ohne daß ein Notfall gegeben ist, so wird die Krankenkasse hierdurch nicht verpflichtet ohne Rücksicht darauf, ob die Verordnung sich im Rahmen des Notwendigen gehalten hat oder nicht.

Da im vorliegenden Fall die Voraussetzung des Notfalls, wie dargelegt, nicht vorgelegen hat, ist der Anspruch des Klägers auf Ersatz der Kosten der von Dr. S verordneten Arzneien durch die beklagte AOK ebenfalls nicht gerechtfertigt. Die Revision ist daher auch insoweit unbegründet.

Demnach ist die Revision in vollem Umfange als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 707890

BSGE, 270

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