Leitsatz (amtlich)

1. Kriegsgefangener ist, wer als Soldat von einer feindlichen Macht festgehalten wird. Eine örtlich begrenzte Bewegungsfreiheit beendet die Kriegsgefangenschaft nicht.

2. Zur Frage des versorgungsrechtlichen Schutzes eines Kriegsgefangenen für Schädigungen, die sich aus der Teilnahme an einem von der Gewahrsamsmacht geduldeten Kameradschaftsabend ergeben.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der Kläger hat den Status eines Kriegsgefangenen nicht dadurch verloren, daß er ohne formelle Entlassung aus der Gefangenschaft in den Dienst einer Arbeitseinheit der britischen Luftwaffe trat.

2. Der Begriff der Kriegsgefangenschaft im BVG ist dem im Völkerrecht üblichen Sinne gleichzusetzen.

Eine Kriegsgefangenschaft kann nur dadurch beendet werden, daß der Kriegsgefangene im Gewahrsamsland als Freiarbeiter ein ziviles Arbeitsverhältnis eingeht.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 2 Buchst. b Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6. März 1957 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der 1898 geborene Kläger kam als Soldat der Luftwaffe beim Zusammenbruch 1945 in englische Kriegsgefangenschaft. Ab September 1945 leistete er Dienst in einer deutschen Arbeitseinheit bei der Royal Air Force (RAF). Bei einem Kameradschaftsabend im November 1945 nahm der Kläger wie andere Angehörige seiner Einheit mehrere Gläser Alkohol zu sich. Es war, wie sich später herausstellte, Methylalkohol. Kurz darauf erblindete der Kläger. Zu dieser Zeit war der Kläger nach der Feststellung des Landessozialgerichts (LSG.) aus der Kriegsgefangenschaft noch nicht entlassen.

Der Kläger beantragte Versorgung wegen Blindheit und einer im ersten Weltkrieg erlittenen Schußverletzung. Das Versorgungsamt Berlin lehnte Versorgung ab, das Landesversorgungsamt wies den Widerspruch des Klägers zurück. Das Sozialgericht (SG.) Berlin wies die Klage mit Urteil vom 14. September 1955 ab. Der Kläger sei zwar am Tage der Kameradschaftsfeier Kriegsgefangener gewesen, die Schädigung sei aber nicht auf Verhältnisse zurückzuführen, die der Kriegsgefangenschaft eigentümlich seien. Die britische Luftwaffe habe zwar der Kameradschaftsfeier zugestimmt, deren Ausgestaltung aber dem ihr unterstellten deutschen Einheitsführer überlassen. Teilnahme an der Veranstaltung und Genuß von Alkohol sei dem Einzelnen freigestellt gewesen. Auf die Berufung des Klägers verurteilte das LSG. mit Urteil vom 6. März 1957 den Beklagten, dem Kläger wegen beiderseitigen totalen Schwundes der Sehnerven Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 100 v.H. zuzüglich Pflegezulage ab 1. Januar 1953 zu gewähren. Das LSG. rechnete den Dienst des Klägers bei der britischen Luftwaffe zur Kriegsgefangenschaft im Gewahrsamsbereich der britischen Streitkräfte. Die Gemeinschaftsveranstaltung, bei der der Kläger in Unkenntnis der Art des Genußmittels Methylalkohol zu sich genommen habe, sei vom Einheitsführer veranlaßt gewesen, die Feier habe der Pflege der Kameradschaft gedient. Ausschank und Genuß des Methylalkohols sei daher der Kriegsgefangenschaft zuzurechnen. Der Kläger habe auch nicht schuldhaft gehandelt. Die Erblindung sei auf die der Kriegsgefangenschaft eigentümlichen Verhältnisse zurückzuführen. Das LSG. ließ die Revision zu.

Mit der Revision beantragt der Beklagte, unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. Berlin vom 14. September 1955 zurückzuweisen.

Der Beklagte rügt Verletzung des § 1 Abs. 2 Buchst. b des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Das LSG. habe zu Unrecht die Zugehörigkeit zu einer Arbeitseinheit der RAF der Kriegsgefangenschaft gleichgestellt. Weder Unterbringung noch Bewachung noch Einsatz erfülle die Merkmale einer Kriegsgefangenschaft. Der Kläger habe sich von der Einheit jederzeit entfernen können. Er habe Zivilarbeit eines Freiwilligen geleistet (vgl. BSG. 3 S. 268). Die Gesundheitsstörung müsse durch, nicht anläßlich der Kriegsgefangenschaft eingetreten sein (§ 1 Abs. 2 Buchst.b BVG). Der Zugehörigkeit zur Arbeitseinheit komme bei der Entstehung des Unfalles nur untergeordnete Bedeutung zu, weil der Alkohol nicht auf Weisung der Besatzungstruppe ausgeschänkt wurde. § 5 Abs. 1 Buchst. d oder Abs. 2 Buchst. a BVG scheide daher aus. Der vom Kläger genossene Alkohol sei von Angehörigen der Arbeitseinheit beschafft worden. "Es brachte jeder mit, was er erlangen konnte". Auch im Zivilleben sei die Beschaffung von Alkohol auf irregulärem Wege möglich und mit Gefahren für die Trinkenden verbunden. Die Besorgung des Alkohols habe einen eigenen, von der Arbeitseinheit losgelösten Gefahrenbereich geschaffen, der dem BVG nicht unterliege.

Der Kläger beantragt, die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Die Revision des Beklagten ist frist- und formgerecht eingelegt (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthaft, mithin zulässig. Sachlich ist sie nicht begründet.

Nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. b BVG besteht ein Anspruch auf Versorgung wegen der gesundheitlichen Folgen eines schädigenden Vorganges, der durch eine Kriegsgefangenschaft herbeigeführt worden ist. Die Revision greift die Feststellung des LSG. an, der Kläger sei im Zeitpunkt der Vergiftung durch Methylalkohol Kriegsgefangener gewesen. Den Status eines Kriegsgefangenen hat das LSG. daraus entnommen, daß der Kläger aus der Gefangenschaft noch nicht entlassen war und daß er durch den Dienst in einer Arbeitseinheit der britischen Luftwaffe den völkerrechtlichen Charakter eines Kriegsgefangenen nicht verloren hatte. Zu dieser Folgerung ist das LSG. ohne Gesetzesverletzung gelangt. Der Revision ist zuzugeben, daß der Begriff der Kriegsgefangenschaft im BVG in dem im Völkerrecht üblichen Sinn anzuwenden ist. Maßgebend ist danach das Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 18. Oktober 1907 (Haager Landkriegsordnung), 1. Abschnitt der Anlage zum Abkommen, Art. 3 (RGBl. 1910 S. 107) und das Abkommen über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 (RGBl. II 1934 S. 227). Nach diesen Bestimmungen war der Kläger im Zeitpunkt der Gefangennahme Kriegsgefangener, weil er als Soldat von einer feindlichen Macht festgehalten wurde (ebenso BSG. 3 S. 268; Urteil des 1. Senats des BSG. vom 21.3.1956 - 1 RA 46/55 -, abgedruckt bei Thannheiser-Wende-Zech, Handbuch des Bundesversorgungsrechts, Bd. III Teil I b § 1 BVG S. 22). Der Kriegsgefangene verliert in der Regel seinen Status, wenn er nach Beendigung der Kriegsgefangenschaft im Gewahrsamsland als Freiarbeiter ein ziviles Arbeitsverhältnis eingeht (BSG. 3 S. 268, Nr. 7 Abs. 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 1 BVG). Eine Ausnahme ist anzunehmen, wenn der Kriegsgefangene in den Ostblockstaaten nach formeller Beendigung der Kriegsgefangenschaft in ein ziviles Arbeitsverhältnis überführt wird (§ 2 Abs. 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Gesetzes über die Unterhaltsbeihilfe für Angehörige von Kriegsgefangenen, Bundesanzeiger vom 2.9.1952 S. 6). Das LSG. hat angenommen, daß sich der Kläger im Zeitpunkt der Vergiftung noch im Gewahrsamsbereich der britischen Streitkräfte befand und aus der Kriegsgefangenschaft noch nicht entlassen war. Es stützte diese Feststellung auf die fehlende Entlassung sowie auf die Bestätigung der Arbeitsleiter vom 30. Juli/1. August 1946 und den von der englischen Truppe ausgestellten Ausweis des Klägers. Die Revision wendet dagegen ein, der Kläger sei ein ziviles Arbeitsverhältnis bei den britischen Streitkräften eingegangen und habe dadurch die Kriegsgefangenschaft beendet. Außerdem setze Kriegsgefangenschaft im Sinne des BVG eine bewachte und eingezäunte Unterkunft und einen genau geregelten Arbeitseinsatz voraus. Beides trifft nicht zu. Von einem Arbeitnehmer mit freiem Arbeitsvertrag unterschied sich die rechtliche Lage des Klägers sehr wesentlich dadurch, daß er als Angehöriger einer Arbeitseinheit der ehemaligen feindlichen Streitkräfte weder ein nach arbeitsrechtlichen Vorschriften zu beurteilendes Arbeitsverhältnis begründete noch bis zu seiner erst am 1. Januar 1946 erfolgten Entlassung den Schutz der deutschen Sozialversicherung genoß. Versicherungsschutz gegen Unfälle ist Angehörigen von Dienstgruppen bei den Luftwaffenabteilungen der britischen Armee frühestens durch die Sozialversicherungsdirektive Nr. 16 vom 6. März 1946 (ArbBl. f.d. brit. Zone 1947 S. 18), Schutz nach den "Allgemeinen Bestimmungen der deutschen Sozialversicherung" erst durch die Sozialversicherungsanordnung Nr. 27 vom 20. Oktober 1947 mit Rückwirkung ab 1. August 1947 (a.a.O. S. 395) gewährt worden. Was die von der Revision für den Status der Kriegsgefangenschaft geforderte strenge Bewachung angeht, so übersieht die Revision, daß nach dem Zusammenbruch 1945 deutsche Kriegsgefangene auch in erheblich gelockerter Form von den ehemaligen Feindmächten in Gewahrsam gehalten wurden und gehalten werden konnten, weil Gefangene ohne Entlassungsschein bei der damals noch bestehenden Bewirtschaftung aller Bedarfsgüter kaum Lebensmittelzuteilungen erhalten konnten. Daß der Kläger als Angehöriger der Einheit der Disziplinargewalt der ehemaligen Feindmacht unterstand, geht aus seinem Ausweis hervor.

Das LSG. hat daher die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung nach § 128 SGG nicht überschritten, wenn es das Fehlen einer formellen Entlassung, den fortdauernden, wenn auch gelockerten Gewahrsam und die nicht als freies Arbeitsverhältnis anzusehende Beschäftigung bei der britischen Luftwaffe als ausreichend ansah, um daraus auf Fortdauer der Kriegsgefangenschaft im Zeitpunkt der Vergiftung zu schließen.

Der Revision ist zuzugeben, daß die Schädigungsfolgen auf die Kriegsgefangenschaft in gleicher Weise zurückzuführen sein müssen, wie Schädigungsfolgen, die durch eine militärische Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse entstanden sind. Nur dann ist ein Versorgungsanspruch begründet.

Nach § 1 Abs. 1 BVG genügt bei Unfällen während der Ausübung des militärischen Dienstes schon der zeitliche Zusammenhang mit dem Dienst (BSG. 8 S. 264). Schieckel, BVG. 2. Aufl., § 1 Anm. 16, auf den die Revision hinweist, unterscheidet zwar zwischen Schädigungsfolgen "anläßlich" der Kriegsgefangenschaft und "durch" die Kriegsgefangenschaft, will aber aus dieser Unterscheidung keine rechtlichen Folgerungen ziehen. Sie wären auch nicht gerechtfertigt, weil der Soldat in der Kriegsgefangenschaft in gleichem Umfang wie im Wehrdienst versorgungsrechtlich geschützt sein soll, also auch gegen die Folgen aus einem Unfall während einer Dienstverrichtung in der Gefangenschaft. Der geschützte Bereich von Dienstverrichtungen ist in der Gefangenschaft eher noch weiter zu ziehen als im Wehrdienst; denn der durch den Gefangenengewahrsam ausgeübte Zwang erfaßt nicht bloß Dienstleistungen, sondern fast die gesamte Lebensführung. In der Kriegsgefangenschaft können daher nur ausnahmsweise Handlungen des Gefangenen der versorgungsrechtlich nicht geschützten Privatsphäre zugerechnet werden.

Das LSG. hat zur Abgrenzung des dienstlichen Charakters des Kameradschaftsabends gegenüber einer privaten Zusammenkunft ähnliche Maßstäbe angewendet, wie sie in der gesetzlichen Unfallversicherung gelten. Dies entspricht dem Gesetz. Dadurch wird auch nicht, wie die Revision meint, die im Versorgungsrecht anzuwendende Kausalnorm verletzt. "Betriebliche Gemeinschaftsveranstaltungen entsprechen nach Wesen und Zweck im militärischen Leben Kameradschaftsveranstaltungen" (BSG. 8 S. 264). Das gilt auch für die Kriegsgefangenschaft. Die Teilnahme an einer solchen Veranstaltung, die der soldatischen Verbundenheit dienen und der seelischen Bedrückung durch die Gefangenschaft entgegenwirken sollte, ist einer Dienstverrichtung gleichzuachten, auch wenn der Kläger nicht zur Teilnahme verpflichtet war.

Dienstverrichtung durch Teilnahme an einem Kameradschaftsabend schließt indessen nicht aus, daß auch der Soldat eine seiner Privatsphäre zuzurechnende Handlung begehen kann, deren Folgen versorgungsrechtlich nicht geschützt sind, z.B. eine Tat unter übermäßigem Alkoholeinfluß oder Teilnahme an einem privaten Raufhandel (vgl. BSG. 8 S. 264). Der Unfall, von dem der Kläger betroffen wurde, ist aber nicht durch solches Verhalten entstanden. Nach der Feststellung des LSG. hat der Kläger auf dem Kameradschaftsabend ebenso wie andere Teilnehmer Methylalkohol getrunken, den Kameraden in Unkenntnis seiner Giftwirkung besorgt hatten. Weder das LSG. hat festgestellt noch die Revision hat behauptet, daß der Kläger übermäßige Mengen von Alkohol zu sich genommen habe. Die Revision verkennt auch, daß die Beschaffung des Alkohols und sein Genuß während des Kameradschaftsabends nur dann als nicht mit der Veranstaltung im Zusammenhang stehend gewertet werden könnten, wenn der Alkoholausschank nicht gerade dem Gelingen des Kameradschaftsabends hätte dienen sollen. Das LSG. hat daher ohne Rechtsirrtum ein eigenes schuldhaftes Handeln des Klägers, das den Kausalzusammenhang unterbrechen könnte, verneint.

Weil der Kläger den durch Genuß des Methylalkohols verursachten Unfall während des einer Dienstverrichtung gleichzusetzenden Kameradschaftsabends erlitten hat, wäre das LSG. nicht mehr genötigt gewesen, auch noch einen ursächlichen Zusammenhang des Unfalls mit der Dienstverrichtung darzutun (vgl. für den Unfall während der Ausübung militärischen Dienstes: BSG. 8 S. 264). Da sich schon aus dem Unfallvorgang während des Kameradschaftsabends die Schädigungsfolgen ergeben und der Kläger Anspruch auf Versorgung wegen dieser Folgen hat, brauchte der Senat auch nicht mehr zu prüfen, ob der Unfall etwa auch auf die der Kriegsgefangenschaft eigentümlichen Verhältnisse zurückzuführen war.

Das LSG. hat mithin den Sachverhalt ohne Verfahrensfehler festgestellt, die Beweise ohne Rechtsverstoß gewürdigt und den Beklagten in sachlich-rechtlich zutreffender Anwendung der Vorschriften des BVG zur Versorgungsleistung verurteilt. Die Revision des Beklagten war daher als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 16

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