Leitsatz (amtlich)

Für Zeiten der Zivilinternierung während des ersten Weltkrieges werden in der Invalidenversicherung keine Steigerungsbeträge gewährt.

 

Normenkette

RVAusbauG § 119 Fassung: 1937-12-21; RVAusbauGDV § 2 Abs. 2 Fassung: 1938-09-01; RVO § 1268 Fassung: 1937-12-21

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 8. März 1955 wird zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

 

Gründe

Die Klägerin erstrebt die Erhöhung des Ruhegeldes ihres verstorbenen Ehemannes durch rentensteigernde Anrechnung der Zeit vom 2. September 1914 bis 24. Oktober 1919, in der ihr Ehemann auf der Heimreise von Peru nach Deutschland in Frankreich festgehalten wurde.

Der Ehemann der Klägerin hat bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges der Invalidenversicherung und nach dem Kriege der Angestelltenversicherung angehört. Er erfüllte vor dem Krieg seine Wehrpflicht. Von 1911 bis 1914 lebte er in Peru. Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges versuchte er - entsprechend der bei der Mobilmachung für Reservisten geltenden Vorschrift des Reichsmilitärgesetzes - Deutschland zu erreichen. Unterwegs meldete er sich beim deutschen Konsulat in ... und beim deutschen Konsulat in ... Von ... reiste er auf die Weisung des deutschen Konsuls hin mit einem holländischen Schiff weiter. Am 2. September 1914 wurde er von französischen Marinestreitkräften festgenommen und nach Frankreich gebracht. Am 25. Oktober 1919 wurde er "als Zivilinternierter" entlassen.

Ende 1952 beantragte der Ehemann der Klägerin Ruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Die Landesversicherungsanstalt ... die damals für das Land Hamburg die Aufgaben der Angestelltenversicherung wahrnahm, entsprach diesem Antrag durch Bescheid vom 3. März 1953, gewährte jedoch keine Leistungen aus der Invalidenversicherung, weil aus den Beiträgen zur Invalidenversicherung der Mindeststeigerungsbetrag nicht erreicht und die Internierungszeit keine rentensteigernde Ersatzzeit sei.

Der Ehemann der Klägerin legte wegen der Nichtanrechnung der Internierungszeit Berufung beim Oberversicherungsamt ... ein. Er starb, noch bevor es zu einer Entscheidung gekommen war, im November 1953. Die Klägerin setzt das Verfahren fort. Es ging mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 1.Januar 1954 auf das Sozialgericht ... über. An die Stelle der Landesversicherungsanstalt ... trat die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte nach deren Errichtung Ende 1953. Das Sozialgericht verurteilte am 5. Oktober 1954 die Beklagte, bei der Berechnung des Ruhegeldes Steigerungsbeträge auch für die Zeit vom 2. September 1914 bis 25. Oktober 1919 zu berücksichtigen: Für die Kriegsdienstzeiten im ersten Weltkrieg seien Steigerungsbeträge ohne Beitragsentrichtung zu gewähren, wenn die Versicherung in der Angestelltenversicherung, was hier der Fall sei, vorher bestanden habe. Die Zeit der Kriegsgefangenschaft gelte als Kriegsdienstzeit. Die Internierung des Ehemannes der Klägerin stehe einer Kriegsgefangenschaft gleich, weil für ihn bei seiner Festnahme die deutschen Kriegsgesetze gegolten hätten. - Die Berufung wurde zugelassen.

Auf die Berufung der Beklagten hin hob das Landessozialgericht (LSGer.) ... am 8. März 1955 das Urteil des Sozialgerichts auf und stellte den Rentenbescheid vom 3. März 1953 wieder her: Das angefochtene Urteil gehe in tatsächlicher Hinsicht von einer unrichtigen Voraussetzung aus. Der Ehemann der Klägerin habe vor dem Weltkrieg nur der Invalidenversicherung angehört. Beiträge zur Angestelltenversicherung habe er erst nach dem ersten Weltkrieg entrichtet. Das Rentenausbaugesetz vom 21. Dezember 1937 mit seiner Durchführungsverordnung vom 1. September 1938 könne nicht angewendet werden, weil die Rechtslage nach dem früheren Rechtszustand zu beurteilen sei (§ 118 des Gesetzes). Nach diesem seien Zivilinternierung und Kriegsgefangenschaft zu unterscheiden. Eine rentensteigernde Ersatzzeit sei nur für den Militär- oder militärähnlichen Kriegsdienst anerkannt. Kriegsdienst habe nur der geleistet, der während des Krieges zu militärischen Zwecken bei allgemeiner Unterordnung unter den militärischen Dienst tätig gewesen sei. Diese Voraussetzung habe bei dem Ehemann der Klägerin gefehlt. Die auf dem Reichsmilitärgesetz beruhende Anweisung, sich im Falle einer Mobilmachung sofort zu melden, begründe kein militärisches Dienstverhältnis. Dieses setze die Eingliederung in eine militärische Formation oder Dienststelle voraus. Das sei bei ihm nicht geschehen. Seine Rechtslage sei keine andere als die eines jeden wehrpflichtigen Zivilisten gewesen. Kriegsgefangener könne nur der werden, der wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen Verband oder einer solchen Dienststelle in die Gewalt des Feindes gerate. Die Internierungszeit wirke sich nicht rentensteigernd aus.

Das LSGer. hat die Revision zugelassen. Sein Urteil wurde der Klägerin am 25. April 1955 zugestellt. Sie legte am 24. Mai 1955 Revision ein und begründete sie am 23. Juni 1955: Es sei richtig, daß das Gesetz nur die Zeit der Kriegsgefangenschaft und nicht die einer Zivilinternierung als rentensteigernde Ersatzzeit kenne. Ihr Ehemann sei aber 1914 nicht als Zivilist, sondern als Soldat in Gefangenschaft geraten, so daß seine Internierungszeit in Wirklichkeit eine Kriegsgefangenschaft gewesen sei. Als Reservist sei er verpflichtet gewesen, sich bei Kriegsausbruch sofort dem Heer zur Verfügung zu stellen. Bei der Erfüllung dieser Pflicht sei er festgenommen worden. Auf seiner Heimreise habe ihn das deutsche Konsulat in ... angewiesen, einen bestimmten Reiseweg einzuhalten. Dadurch spätestens habe er den Status eines Soldaten erhalten. Es könne keine rechtliche Bedeutung haben, daß er nicht als Soldat eingekleidet, in einem Zivilgefangenenlager untergebracht gewesen und "als Zivilinternierter" entlassen worden sei. Sie beantragt, das Urteil des LSGer. aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei der Berechnung des Ruhegeldes Steigerungsbeträge auch für die Zeit vom 2. September 1914 bis 25. Oktober 1919 zu berücksichtigen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist zulässig. Sie ist aber unbegründet.

Die Klägerin darf das von ihrem Ehemann eingeleitete Verfahren nach dessen Tod fortsetzen (§ 41 AVG, § 1292 RVO). Das Verfahren richtet sich auch mit Recht gegen die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte. Der Streitgegenstand betrifft zwar die Invalidenversicherung, weil der Ehemann der Klägerin vor seiner Festnahme nur diesem Versicherungszweig angehört hat. Seine letzten Beiträge sind jedoch zur Angestelltenversicherung entrichtet, so daß die Beklagte für die Feststellung und Zahlung der Gesamtleistung zuständig ist (§§ 1544, 1544 g Abs. 3 RVO). Ihr Eintritt in das Verfahren folgt aus dem Gesetz über die Errichtung der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte vom 7. August 1953 (§§ 26, 34).

In dem Ruhegeld des Ehemannes der Klägerin ist der volle Grundbetrag der Angestelltenversicherung enthalten. Steigerungsbeträge aus der Invalidenversicherung dürfen deshalb nur insoweit geleistet werden, als sie 72.- DM jährlich übersteigen (§ 1544 d). Die zur Invalidenversicherung entrichteten Beiträge ergeben diesen Steigerungsbetrag nicht. Leistungen aus der Invalidenversicherung sind deshalb nicht gewährt worden. Zusammen mit den begehrten Steigerungsbeträgen für die Zeit von 1914 bis 1919 würde der Betrag von 72.- DM überschritten. Das Ruhegeld erhöhte sich also, falls diese Zeit rentensteigernde Ersatzzeit wäre. Das ist sie jedoch nicht.

Der Ehemann der Klägerin hat vor seiner Festnahme im Jahre 1914 nur der Invalidenversicherung angehört. Die umstrittene Frage, ob seine Internierungszeit als Beitragszeit anzurechnen ist, beurteilt sich deshalb nach dem Recht der Invalidenversicherung. In diesem Versicherungszweig werden Steigerungsbeträge für Zeiten gewährt, in denen der Versicherte während des ersten Weltkrieges dem deutschen Reich oder einem mit ihm verbündeten oder befreundeten Staat Kriegs-, Sanitäts- oder ähnliche Dienste geleistet hat, wenn die Versicherung vorher bestand (§ 119 Abs. 1 des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 21.Dezember 1937). Die Zeit der Kriegsgefangenschaft wird als Kriegsdienstzeit angerechnet, wenn nicht nachgewiesen ist, daß eigenes Verschulden vorgelegen hat (§ 2 Abs. 2 der Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des Gesetzes über den Ausbau der Rentenversicherung vom 1. September 1938). Eine Vorschrift, daß auch die Zeit einer Zivilinternierung während des ersten Weltkrieges als rentensteigernde Ersatzzeit anzurechnen ist, fehlt. Die Ansicht des LSGer., § 119 des Gesetzes vom 21. Dezember 1937 und die Verordnung vom 1. September 1938 dürften mit Rücksicht auf § 118 des Gesetzes auf den vorliegenden Fall nicht angewendet werden, ist nicht richtig, weil sich die Beurteilung nach dem Recht der Invalidenversicherung richtet und erst das genannte Gesetz für diesen Versicherungszweig die Möglichkeit der rentensteigernden Anrechnung von Kriegsdienst- und Kriegsgefangenschaftszeiten während des ersten Weltkrieges gebracht hat.

Kriegsgefangenschaft und Zivilinternierung sind wesensverschieden. Kriegsgefangenschaft liegt vor, wenn jemand wegen seiner Zugehörigkeit zu einem militärischen oder militärähnlichen Verband in die Gewalt des Feindes gerät. Sie setzt die Eingliederung in eine organisierte militärische Einheit voraus (das ist aus den Artikeln 1 und 3 der Anlage zur Haager Landkriegsordnung vom 18. Oktober 1907 zu folgern; vgl. auch Schönleiter, Bundesversorgungsgesetz, § 1 Anm. 11). Internierungen erfolgen aus unterschiedlichen Anlässen, insbesondere wegen der Volks- oder Staatsangehörigkeit. Die Internierten gehören zuvor keinem kriegführenden Verband an. Das Sozialrecht unterscheidet folgerichtig zwischen beiden sowohl in der Sozialversicherung - auf dem Gebiet der Rentenversicherung insbesondere bei der Behandlung von Wartezeit, Anwartschaft und Rentenberechnung - als auch in der Kriegsopferversorgung. Es hat diese Unterscheidung schon zur Zeit des ersten Weltkrieges gemacht und sie bis heute beibehalten. Sie findet sich auch in der Rechtsprechung und im Schrifttum (vgl. §§ 1, 7 der Bekanntmachung des Bundesrats über die Angestelltenversicherung während des Krieges vom 26.8.1915 - RGBl. S. 531; § 17 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung aus Anlaß des Krieges vom 15.1.1941 - RGBl. I S. 34; Artikel 17 der ersten Verordnung zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17.3.1945 - RGBl. I S. 41; §§ 1, 4 des Bundesversorgungsgesetzes; § 24 des Heimkehrergesetzes vom 19.6.1950 - BGBl. I S.221; RVA. in AN. 1917 S. 616; Brackmann, Handbuch 4. Auflage, S. 702; Dersch, Rentenversicherung, S. 134; Dersch, Angestelltenversicherungsgesetz, 3. Auflage, S. 890; Heller in AN. 1938, S. 386; Koch-Hartmann, Angestelltenversicherungsgesetz, S. 386; Kommentar des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger, 5. Auflage, § 1263, Anm.17 bis 20). Aus dem Gebrauch des Wortes "Kriegsgefangenschaft" und dem Fehlen eines Hinweises auf die Zivilinternierung in § 2 der Verordnung vom 1. September 1938 folgt deshalb, daß in der Invalidenversicherung die Zeit der Zivilinternierung während des ersten Weltkrieges keine Ersatzzeit bei der Berechnung des Steigerungsbetrages ist.

Die Klägerin verkennt diese Rechtslage nicht. Sie möchte aber der besonderen Umstände wegen die Zeit der Internierung ihres Ehemannes als Zeit der Kriegsgefangenschaft gewertet haben. Das hat jedoch bereits das LSGer. mit zutreffenden Gründen abgelehnt.

Die Anerkennung als Kriegsgefangener erfordert zuvor die Eingliederung in einen organisierten kriegführenden Verband. Daran fehlte es bei dem Ehemann der Klägerin. Er gehörte bei Ausbruch des Krieges der Ersatzreserve an. Diese diente zur Ergänzung des stehenden Heeres bei Mobilmachungen und zur Bildung von Ersatztruppenteilen. Er hätte dem aktiven Heer erst dann wieder angehört, wenn er zum Dienst einberufen worden wäre. Die Einberufung war die Aufforderung zum Dienstantritt bei einer bestimmten militärischen Einheit an einem bestimmten Tag (§§ 38, 50, 56 des Reichsmilitärgesetzes vom 2.5. 1874 in der Fassung vom 22.7. 1913; Artikel I und II § 8 des Wehrpflichtgesetzes vom 11.2.1888). Eine solche Einberufung ist für ihn nicht erfolgt. Sie kann nicht darin gesehen werden, daß er nach der Mobilmachung verpflichtet war, unverzüglich in das Inland zurückzukehren und sich zu melden (§ 58 des Reichsmilitärgesetzes, § 2 der Verordnung über die Rückkehr der Deutschen im Ausland vom 3.8.1914). Diese Pflicht für die bei Kriegsausbruch im Ausland lebenden Deutschen beruhte auf den erwähnten allgemeinen Gesetzesvorschriften. Sie hatte unmittelbar keine Eingliederung in das Heer zur Folge. Auch die Weisung des deutschen Konsuls in ... mit einem bestimmten neutralen Schiff nach Deutschland zu reisen, gab dem Ehemann der Klägerin nicht den Status eines Soldaten. Die Anweisung diente der Durchführung der gesetzlichen Vorschriften über die Rückkehr der Deutschen aus dem Ausland, bewirkte aber ebenfalls keine Eingliederung in einen Heeresverband. Schließlich vermag auch der Umstand, daß der Ehemann der Klägerin in der Absicht unterwegs war, sich für den Einsatz zur Verfügung zu stellen, den Anspruch nicht zu stützen. Der Weg in die Heimat diente der künftigen Aufnahme in das Heer, war aber selbst noch kein Kriegsdienst. Mit Recht hat das LSGer. ausgeführt, daß die Rechtsstellung des Ehemannes der Klägerin keine andere gewesen sei als die eines jeden wehrpflichtigen gedienten Zivilisten. Er war also zur Zeit seiner Festnahme kein Soldat und konnte deshalb nicht in Kriegsgefangenschaft fallen. Er befand sich von 1914 bis 1919 in Zivilinternierung.

Die Grundgedanken der Vorschriften der Unfallversicherung und der Kriegsopferversorgung über den Schutz auf dem Weg zur Arbeitsstätte und auf dem Weg zum Gestellungsort (§§ 543 RVO, 96 RVG, 4 BVG) lassen sich auf den vorliegenden Fall nicht übertragen. Es geht hier nicht um den Versicherungs- oder Versorgungsschutz als solchen, sondern um die Frage, ob die Zeit der Internierung als Beitragszeit ohne Beitragsleistung anzurechnen ist. In den Rentenversicherungen besteht der Grundsatz, daß nur tatsächlich entrichtete Beiträge rentensteigernd berücksichtigt werden dürfen. Die wenigen rentensteigernden Ersatzzeiten sind Ausnahmefälle. Sie müssen auf die vom Gesetzgeber genau geregelten Tatbestände beschränkt bleiben.

Das Urteil des LSGer. ist daher im Ergebnis richtig und die Revision unbegründet. Sie war deshalb zurückzuweisen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297039

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