Entscheidungsstichwort (Thema)

Einbeziehung eines neuen Verwaltungsaktes. Grenzen des zulässigen Nachschiebens von Gründen

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Umfang der Bindungswirkung eines Rentenbescheides.

2. Wird im Verlaufe eines Rechtsstreits wegen Gewährung höheren Altersruhegeldes die Leistung unter Außerachtlassung einer bei der ersten Berechnung berücksichtigten Ersatzzeit neu berechnet, so liegt darin ein unzulässiges Nachschieben von Gründen (Anschluß an und Fortführung von BSG 1974-09-26 5 RJ 140/72 = BSGE 38, 157).

 

Orientierungssatz

1. Für eine zumindest entsprechende Anwendbarkeit von § 96 Abs 1 SGG reicht es aus, daß der neue Verwaltungsakt aufgrund desselben Rechtsverhältnisses wie der ursprünglich angefochtene Verwaltungsakt ergangen ist und den Streitstoff (den Prozeßstoff, das Prozeßziel) des bereits anhängigen Rechtsstreits beeinflussen bzw berühren kann (vgl BSG 1978-12-05 7 RAr 34/78 = BSGE 47, 241).

2. Durch das Nachschieben neuer rechtlicher und tatsächlicher Gründe zur Rechtfertigung eines Verwaltungsaktes darf der Verwaltungsakt nach Voraussetzungen, Inhalt und Wirkungen nicht wesentlich verändert und die Rechtsverteidigung des Betroffenen nicht in unzulässiger Weise beeinträchtigt oder erschwert werden (vgl BSG 1977-12-01 12 RK 13/77 = BSGE 45, 206).

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; AVG § 28 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1965-06-09; SGG § 96 Abs 1, § 168 Fassung: 1974-07-30; SGB 10 § 45 Fassung: 1980-08-18

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 11.11.1976; Aktenzeichen L 5 A 30/76)

SG Speyer (Entscheidung vom 23.03.1976; Aktenzeichen S 12 A 10/75)

 

Tatbestand

Streitig ist die Befugnis der Beklagten zur Neuberechnung des dem Kläger bewilligten Altersruhegeldes unter Außerachtlassung einer bei der ersten Berechnung berücksichtigten Ersatzzeit.

Der am 8. Dezember 1907 geborene Kläger trat im November 1926 in den Dienst der bayerischen Landespolizei. Vom 1. Januar 1939 bis zum 8. Mai 1945 war er zuletzt im Range eines Kriminalsekretärs Angehöriger der Geheimen Staatspolizei (GESTAPO) und als solcher zunächst in Polen und später in Norwegen eingesetzt. Dort geriet er bei Kriegsende in britische Gefangenschaft. Am 18. Mai 1948 wurde er aus dem Internierungs- und Arbeitslager Augsburg-Göggingen entlassen. Ausweislich des Entlassungsscheins war er seit 10. Mai 1945 interniert gewesen. Ab Juli 1948 leistete er Beiträge zur Angestelltenversicherung.

In der Zeit vom 1. Juli bis 30. November 1972 bezog der Kläger vorgezogenes Altersruhegeld (Bescheide der Beklagten vom 13. November 1972 und 27. November 1974). Mit einem weiteren Bescheid vom 27. November 1974 bewilligte ihm die Beklagte für die Zeit ab 1. Januar 1973 Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Hierbei berücksichtigte sie anders als in den vorhergegangenen Bescheiden den Zeitraum vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 als Ersatzzeit.

Mit seiner Klage wegen dieses Bescheides begehrte der Kläger die Berücksichtigung einer Zeit der Kriegsgefangenschaft vom 9. Mai 1945 bis Juni 1947 als weitere Ersatzzeit. Im Verlaufe des Klageverfahrens nahm die Beklagte mit Bescheid vom 20. Juni 1975 eine Neuberechnung des Altersruhegeldes des Klägers unter Außerachtlassung der Zeit vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 vor mit dem Zusatz, die Rente werde in der bisherigen Höhe weitergezahlt; sie - die Beklagte - behalte sich aber vor, künftigen Neuberechnungen und Rentenanpassungen die sich aus den beiliegenden Berechnungen ergebenden Merkmale zugrundezulegen.

Das Sozialgericht (SG) Speyer hat unter Abweisung der weitergehenden Klage den Bescheid der Beklagten vom 20. Juni 1975 aufgehoben (Urteil vom 23. März 1976). Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt. Im Verlaufe des Berufungsverfahrens hat sie durch Mitteilung vom 7. Oktober 1976 das Altersruhegeld des Klägers aufgrund des Neunzehnten Rentenanpassungsgesetzes (19. RAG) vom 3. Juni 1976 (BGBl I S 1373) für die Bezugszeit ab 1. Juli 1976 angepaßt und einen Rentenbetrag von monatlich 915,10 DM errechnet. Dem Kläger ist jedoch der bis Juni 1976 gewährte Betrag von monatlich 1.051,20 DM (ohne Beitragszuschuß) fortgezahlt worden.

Mit Urteil vom 11. November 1976 hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Der Bescheid vom 20. Juni 1975 sei rechtswidrig. Der Versicherungsträger dürfe eine falsch berechnete Rente nicht jederzeit zu Ungunsten des Versicherten ändern. Zwar werde im Gegensatz zum Verfügungssatz als der eigentlichen Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch die Begründung eines Bescheides einschließlich aller Berechnungsfaktoren, zu denen vor allem die Beitrags-, Ersatz- und Ausfallzeiten zählten, nicht nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindend. Änderungen der Berechnungsfaktoren änderten aber auch den Anspruch selbst und damit den Verfügungssatz, wenn sich im Ergebnis für den Versicherten eine geringere Rente als bisher ergebe. Durch eine derartige Berichtigung werde der Bewilligungsbescheid in seinem Wesen unzulässig verändert. Diese Änderung werde nicht dadurch aufgewogen, daß die Rente in der bisherigen Höhe weitergezahlt, bei den Rentenanpassungen dagegen aufgrund der geänderten Faktoren berechnet werde (Hinweis auf das Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 26. September 1974 - 5 RJ 140/72 - = BSGE 38, 157). Dies widerspreche nicht der bisherigen Rechtsprechung des BSG. Aus ihr ergebe sich lediglich, daß ausnahmsweise im Rahmen einer Rentenanpassung nach den Rentenanpassungsgesetzen und dann auch nur hinsichtlich zweifellos falscher Berechnungsfaktoren eine Änderung des Bewilligungsbescheides zu Ungunsten des Versicherten möglich sei. Diese Voraussetzungen seien jedoch vorliegend nicht erfüllt. Auch aus sonstigen Gründen sei die Neuberechnung des Altersruhegeldes des Klägers nicht gerechtfertigt. Bei der Anrechnung der Zeit von 1939 bis 1945 als Ersatzzeit im Bewilligungsbescheid vom 27. November 1974 habe es sich nicht um eine offensichtliche Unrichtigkeit gehandelt. Die allgemeinen verwaltungsrechtlichen Grundsätze über die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte könnten nicht herangezogen werden. Dies setze voraus, daß das Rücknahme- oder Änderungsrecht in dem jeweiligen Sozialrechtsbereich nicht vollständig geregelt und eine Gesetzeslücke anzunehmen sei. Eine solche bestehe jedoch nicht. Das Recht zur Rücknahme oder Änderung eines Rentenbescheides zum Nachteil des Versicherten sei, soweit es wie im vorliegenden Fall den Umfang des Anspruchs betreffe, durch § 1744 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vollständig geregelt. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien nicht erfüllt. Insbesondere habe der Kläger bezüglich seiner Zugehörigkeit zur GESTAPO nicht iS des § 1744 Abs 1 Nr 4 RVO wesentliche Tatsachen wissentlich falsch behauptet oder vorsätzlich verschwiegen. Die Beklagte habe den Bewilligungsbescheid vom 27. November 1974 auch nicht deswegen ändern dürfen, weil der Kläger den Bescheid angefochten habe. Das widerspreche dem Verbot des Nachschiebens von Gründen, wonach die Verwaltung während eines Streitverfahrens ua einen begünstigenden Bescheid nicht durch einen seinem Wesen nach anderen und nachteiligen Bescheid ersetzen dürfe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 77 SGG. Nach der ständigen Rechtsprechung insbesondere des 11. Senats des BSG erstrecke sich die Bindungswirkung des § 77 SGG nur auf den Verfügungssatz eines Rentenbewilligungsbescheides, nicht hingegen auf dessen Gründe, die Berechnungsfaktoren und die Berechnungsart einer Rente. Das vom LSG herangezogene Urteil des 5. Senats des BSG vom 26. September 1974 stehe zu dieser Rechtsprechung in einem auffälligen Widerspruch. Durch Veränderungen der Berechnungselemente werde der für den Versicherungsträger allein verbindliche Verfügungssatz eines Bewilligungsbescheides, sofern die Fortzahlung der Rente in Höhe des bisherigen Zahlbetrages zugebilligt werde, gerade nicht beeinträchtigt. Dann aber liege auch eine Wesensänderung des Verwaltungsaktes nicht vor. Das gelte auch im vorliegenden Fall. Denn sie - die Beklagte - habe die Beibehaltung des Verfügungssatzes (Weiterzahlung des maßgeblichen Rentenzahlbetrages) beachtet. Damit zugleich entfalle ein Verstoß gegen das Verbot des Nachschiebens von Gründen. Nicht überzeugend sei die vom LSG vorgenommene Unterscheidung des Urteils des 5. Senats von der sonstigen Rechtsprechung des BSG, die ausschließlich Rentenänderungen im Rahmen der Rentenanpassung nach den jeweiligen Rentenanpassungsgesetzen betreffe. Davon abgesehen sei auch der vorliegende Fall ein Rentenanpassungsfall oder jedenfalls während des Verfahrens vor dem LSG ein solcher Fall geworden. Die Anpassungsmitteilung vom 7. Oktober 197ö sei Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Über sie dürfe nunmehr auch das Revisionsgericht entscheiden. Damit könne sie - die Beklagte - sich unmittelbar auf die einschlägige Rechtsprechung des BSG zB in den Urteilen vom 15. Februar 1966 (BSGE 24, 236) und vom 22. August 1967 - 11 RA 258/66 - berufen. Entgegen der Auffassung des LSG seien die im vorliegenden Fall berichtigten Berechnungsfaktoren eindeutig falsch gewesen. Der Dienst der Polizeibeamten während des zweiten Weltkrieges stelle nur dann ausnahmsweise eine Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) dar, wenn während dieser Zeit militärähnlicher Dienst iS des § 3 Abs 1 Buchst b des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) geleistet worden sei. Ein solcher Sachverhalt sei bei dem Kläger nicht gegeben.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts

Rheinland-Pfalz vom 11. November 1976 und Abänderung des Urteils

des Sozialgerichts Speyer vom 23. März 1976 die Klage

in vollem Umfange abzuweisen.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich,

die Revision zurückzuweisen;

hilfsweise: die Sache an das Landessozialgericht

zurückzuverweisen.

Er ist der Ansicht, die Beklagte habe mit dem Bescheid vom 20. Juni 1975 unzulässigerweise den Verfügungssatz des Bescheides vom 27. November 1974 "ausgehöhlt" und damit zugleich gegen das Verbot des Nachschiebens von Gründen verstoßen. Selbst wenn entsprechend der Ansicht der Beklagten ein Rentenanpassungsfall vorliege, berechtige dieser Umstand lediglich zu einer rein rechnerischen Änderung falscher Berechnungsfaktoren. Hier hingegen habe die Beklagte einen grundlegenden Vorgang anders beurteilt. Diese Beurteilung sei im übrigen unzutreffend. Er - der Kläger - habe seit Frühjahr 1944 in Norwegen militärischen oder zumindest militärähnlichen Dienst geleistet. Dies müsse gegebenenfalls noch vom LSG aufgeklärt werden.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.

Gegenstand der revisionsgerichtlichen Entscheidung ist allein der Anspruch des Klägers auf (Beibehaltung der) Berechnung seines Altersruhegeldes unter Berücksichtigung der Zeit vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 als Ersatzzeit. Der Senat hat damit ausschließlich über die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten vom 20. Juni 1975 zu befinden. Dieser hat den ursprünglichen Altersruhegeldbescheid vom 27. November 1974 bezüglich der Anerkennung des genannten Zeitraumes als Ersatzzeit abgeändert und ist dadurch gemäß § 96 Abs 1 SGG bereits in erster Instanz Gegenstand des Verfahrens geworden. Nicht mehr Verfahrensgegenstand ist der Bescheid vom 27. November 1974. Zwar hat der Kläger zunächst wegen dieses Bescheides Klage mit dem Ziel der Anerkennung der Zeit vom 9. Mai 1945 bis Juni 1947 als Ersatzzeit der Kriegsgefangenschaft erhoben. In diesem Umfange hat jedoch das SG die Klage abgewiesen. Gegen sein Urteil vom 23. März 1976 hat lediglich die Beklagte Berufung eingelegt. Damit ist der Bescheid vom 27. November 1974 in Bindungswirkung erwachsen.

Ebenfalls nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 7. Oktober 1976 über die Anpassung des Altersruhegeldes des Klägers nach dem 19. RAG. Zwar ist dieser Bescheid Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Das ergibt sich aus dem nach § 153 Abs 1 SGG im Berufungsverfahren entsprechend anwendbaren § 96 Abs 1 SGG. Danach wird, wenn nach Klageerhebung der Verwaltungsakt durch einen neuen abgeändert oder ersetzt wird, auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist § 96 Abs 1 SGG unter Berücksichtigung der ihm zugrundeliegenden Gedanken der Prozeßökonomie und der Vermeidung divergierender gerichtlicher Entscheidungen weit auszulegen. Für seine zumindest entsprechende Anwendbarkeit reicht es aus, daß der neue Verwaltungsakt aufgrund desselben Rechtsverhältnisses wie der ursprünglich angefochtene Verwaltungsakt ergangen ist und den Streitstoff (den Prozeßstoff, das Prozeßziel) des bereits anhängigen Rechtsstreits beeinflussen bzw berühren kann (vgl BSGE 47, 168, 170 = SozR 1500 § 96 Nr 13 S 19 ff; BSGE 47, 201, 202 f; BSGE 47, 241, 243 = SozR 4100 § 134 Nr 11 S 26, jeweils mit eingehenden weiteren Nachweisen). Das trifft für den Anpassungsbescheid vom 7. Oktober 1976 zu. Er schließt an die im angefochtenen Bescheid vom 20. Juni 1975 vorgenommene Neuberechnung des Altersruhegeldes unter Außerachtlassung einer Ersatzzeit vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 an und versagt im Hinblick auf den sich bei der Neuberechnung ergebenden geringeren Zahlbetrag dem Kläger eine Anpassung seines Altersruhegeldes. Gleichwohl ist er nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens. Das LSG hat ersichtlich bis zum Abschluß des Berufungsverfahrens von dem Anpassungsbescheid vom 7. Oktober 1976 keine Kenntnis erhalten. Es kann demzufolge über ihn weder direkt noch inzidenter entschieden haben. Damit ist der Rechtsstreit wegen dieses Bescheides in der Berufungsinstanz anhängig geblieben (so für das Klageverfahren BSG Breithaupt 1978, 482, 483; BSGE 45, 49, 50 = SozR 1500 § 96 Nr 6 S 10; BSG Breithaupt 1978, 864, 869). Zwar hat der 11. Senat des BSG ausgesprochen, das BSG könne dennoch selbst über die Rechtmäßigkeit eines nachträglich ergangenen Anpassungsbescheides entscheiden, ohne daß es deswegen einer Zurückverweisung der Sache an das LSG bedürfe (vgl BSG SGb 19ö7, 275). Der Senat hält dies für bedenklich. In der Erstreckung des Antrages auf einen von der Vorinstanz nicht erledigten Teil des Rechtsstreits liegt eine Klageänderung. Sie ist in der Revisionsinstanz nicht zulässig (§ 168 SGG). Hiernach kann ein nachträglich erlassener Bescheid, über welchen das Berufungsgericht aus Unkenntnis nicht entschieden hat, nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens werden. Das kann hier jedoch letztlich auf sich beruhen. Lediglich die Beklagte und nicht auch der Kläger hat Revision eingelegt. Er hat sich somit nicht dagegen gewandt, daß das LSG nicht über den Bescheid vom 7. Oktober 1976 mitentschieden hat. Auch nach Ansicht des 11. Senats kann jedenfalls aus diesem Grunde der Bescheid nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden sein (Urteil vom 16. Dezember 1980 - 11 RA 99/79 -; dazu Urteil des erkennenden Senats vom 22. September 1981 - 1 RA 31/80 -).

In der Sache selbst kann die Revision der Beklagten nicht zum Erfolg führen. Das Urteil des LSG trifft jedenfalls im Ergebnis zu.

Der Kläger begehrt die Berücksichtigung der Zeit vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 als Ersatzzeit auch bei der Neuberechnung seines Altersruhegeldes. Materiell-rechtliche Rechtsgrundlage hierfür ist § 28 Abs 1 Nr 1 AVG in der Fassung des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I S 476). Hiernach werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten - und damit zugleich bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre (vgl § 35 Abs 1 AVG) - ua Zeiten des Militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des BVG, der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist, anerkannt.

Nach Ansicht des Berufungsgerichts muß die Zeit vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 ohne Rücksicht darauf, ob die Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG erfüllt sind und damit die Anerkennung dieser Zeit als Ersatzzeit im Bescheid vom 27. November 1974 rechtmäßig ist, allein deswegen auch bei der Neuberechnung des Altersruhegeldes (Bescheid vom 20. Juni 1975) als Ersatzzeit berücksichtigt werden, weil dies ebenso im Bescheid vom 27. November 1974 geschehen und dieser Bescheid bindend geworden ist. Dem kann der Senat nicht folgen. Die Bindungswirkung des Bescheides vom 27. November 1974 erstreckt sich nicht auf die Anerkennung der Ersatzzeit.

Nach § 77 SGG wird, wenn der gegen einen Verwaltungsakt gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt worden ist, der Verwaltungsakt für die Beteiligten in der Sache bindend, soweit durch Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Nach überwiegender Rechtsprechung des BSG erfaßt bei einem Rentenbescheid eines Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung die Bindungswirkung lediglich den Verfügungssatz, dh die Entscheidung über die Höhe, die Dauer und die Art der Rente. Die Begründung des Bescheides nimmt hingegen nicht an der Bindungswirkung teil. Zu dieser Begründung gehören die rechtliche Beurteilung von Vorfragen sowie die dem Bescheid zugrundegelegten Erwägungen und insbesondere die Berechnungsfaktoren (vgl statt vieler BSGE 45, 236, 237 = SozR 1500 § 77 Nr 26 S 20; BSG SozR 2200 § 1268 Nr 10 S 36; jeweils mit eingehenden weiteren Nachweisen). Demnach ist die Entscheidung über die Anerkennung von Versicherungszeiten in einem Rentenbescheid nicht der Bindung im Sinne des § 77 SGG fähig (BSGE 14, 154, 159 = SozR Nr 24 zu § 77 SGG; BSGE 32, 114, 115 = SozR Nr 75 zu § 77 SGG; BSGE 45, 236, 237 = SozR 1500 § 77 Nr 2ö S 20).

Das muß auch für die Anerkennung der Zeit vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 als Ersatzzeit im Bescheid vom 27. November 1974 gelten. Allerdings sind gegen die vorstehend dargestellte Rechtsprechung des BSG Bedenken erhoben worden. Der 5. Senat des BSG hat, ohne die Frage abschließend zu entscheiden, in Erwägung gezogen, ob die Bindungswirkung eines Rentenbescheides nicht jedenfalls auf solche Elemente des Bescheides erstreckt werden müsse, die - wie etwa die Feststellung von Versicherungszeiten - der gesonderten Regelung durch einen der Bindung fähigen Verwaltungsakt außerhalb eines Leistungsfeststellungsverfahrens zugänglich seien (BSGE 46, 236, 237 ff = SozR 1500 § 77 Nr 29 S 25 ff; BSGE 49, 296, 297 = SozR 2200 § 1278 Nr 7 S 10). Der erkennende Senat hat dies ebenfalls für erwägenswert und klärungsbedürftig gehalten. Er hat deswegen im vorliegenden Rechtsstreit durch Beschluß vom 28. Juni 1979 zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 43 SGG) dem Großen Senat des BSG die Fragen vorgelegt, ob die Anerkennung einer Ersatzzeit in dem eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bewilligenden Bescheid einen der Bindung fähigen Verfügungssatz dieses Bescheides darstellt oder lediglich zu seiner Begründung gehört und ob im letzteren Falle die Anerkennung der Ersatzzeit trotzdem an der Bindungswirkung des Bescheides teilnimmt.

Der Senat hält indes jedenfalls im vorliegenden Rechtsstreit seine Bedenken nicht aufrecht und hat deswegen seinen Beschluß vom 28. Juni 1979 aufgehoben (Beschluß vom 23. Juni 1981). Maßgebend dafür sind folgende Erwägungen: Gehört die Anerkennung einer Versicherungszeit in einem Rentenbescheid nicht zu dessen der Bindung fähigen Verfügungssatz, so braucht sie bei einer Neuberechnung der Leistung nicht allein schon wegen der Bindungswirkung des früheren Rentenbescheides berücksichtigt zu werden. Vielmehr ist dann entscheidend, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine Berücksichtigung dieser Versicherungszeit erfüllt sind. Zählt die Anerkennung der Versicherungszeit hingegen zum bindungsfähigen Verfügungssatz des Rentenbescheides, so stellt sich für den Fall einer Neuberechnung der Rentenleistung die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung der Versicherungszeit "rücknehmbar" ist. Dies wiederum hängt davon ab, ob die Anerkennung zu Recht oder zu Unrecht erfolgt, der erste Bescheid insoweit also rechtmäßig oder rechtswidrig gewesen ist. Die Rücknehmbarkeit begünstigender Verwaltungsakte auf dem Gebiet des Sozialversicherungsrechts ist bis zum 31. Dezember 1980 nur lückenhaft geregelt gewesen. Dies hat sich infolge der umfassenden Neuregelung des sozialrechtlichen Verwaltungsverfahrens durch Art I des am 1. Januar 1981 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuchs, 10. Buch, Verwaltungsverfahren (SGB 10) vom 18. August 1980 (BGBl I S 1469) geändert. Nunmehr ist gesetzlich geregelt, unter welchen Voraussetzungen ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen (§ 45 SGB 10) und ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt widerrufen werden darf (§ 47 SGB 10). Diese Neuregelung gilt unter bestimmten Einschränkungen auch für vor dem 1. Januar 1981 erlassene Verwaltungsakte (Art II § 40 Abs 2 SGB 10). Durch sie ist dem Beschluß des Senats vom 28. Juni 1979 die Grundlage entzogen worden. Die darin dem Großen Senat des BSG vorgelegte Frage, ob die Anerkennung einer Versicherungszeit in einem Rentenbescheid an dessen Bindungswirkung teilnimmt, kann nicht isoliert betrachtet werden. Sie steht in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der weiteren Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Anerkennung der Versicherungszeit, falls sich die Bindungswirkung des Rentenbescheides auch darauf erstreckt, zurückgenommen oder widerrufen werden kann. Dies richtet sich im vorliegenden Fall nach dem mit Ablauf des 31. Dezember 1980 außer Kraft getretenen Recht. Der Beschluß des Senats vom 28. Juni 1979 bezieht sich demnach mittlerweile auf lediglich in der Vergangenheit erhebliche Rechtsfragen, die angesichts der Neuregelung in §§ 45, 47 SGB 10 für die Zukunft keine Bedeutung mehr haben. Bezüglich solcher Rechtsfragen bedarf es der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht mehr.

Die Neuberechnung des Altersruhegeldes des Klägers im Bescheid vom 20. Juni 1975 unter Außerachtlassung der Ersatzzeit vom 2ö. August 1939 bis 8. Mai 1945 ist demnach nicht schon deswegen rechtswidrig, weil die Ersatzzeit bereits im Bescheid vom 27. November 1974 berücksichtigt worden und dieser Bescheid in Bindungswirkung erwachsen ist (§ 77 SGG). Hingegen ist der Bescheid vom 20. Juni 1975 aus einem anderen Grunde rechtswidrig. Das ergibt sich - was die Beklagte in ihrer Revisionsbegründung unberücksichtigt läßt - aus den verfahrensrechtlichen Besonderheiten des Falles zur Zeit des Erlasses des angefochtenen Bescheides. Der Kläger hat zunächst lediglich den Bescheid vom 27. November 1974 mit dem Ziel einer Berücksichtigung der Zeit vom 9. Mai 1945 bis Juni 1947 als weiterer Ersatzzeit angefochten. Während des deswegen anhängigen Klageverfahrens hat die Beklagte den Bescheid vom 20. Juni 1975 erlassen und damit durch Außerachtlassung der im Bescheid vom 27. November 1974 anerkannten Ersatzzeit vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 die Rentenberechnung zum Nachteil des Klägers geändert. Hierin liegt ein unzulässiges Nachschieben von Gründen.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist zwar das Nachschieben neuer rechtlicher und tatsächlicher Gründe zur Rechtfertigung eines Verwaltungsaktes, um damit einen mit der bisherigen Begründung nicht haltbaren Bescheid durch eine neue Begründung nicht mehr als rechtswidrig erscheinen zu lassen, zulässig. Diese Befugnis der Verwaltungsbehörde zum Nachschieben von Gründen während eines anhängigen Streitverfahrens unterliegt jedoch Einschränkungen. Durch die neue Begründung darf der Verwaltungsakt nach Voraussetzungen, Inhalt und Wirkungen nicht wesentlich verändert und die Rechtsverteidigung des Betroffenen nicht in unzulässiger Weise beeinträchtigt oder erschwert werden (vgl mit eingehenden Hinweisen auf die vorhergehende Rechtsprechung BSGE 29, 129, 132 = SozR Nr 123 zu § 54 SGG; BSG SozR 3900 § 41 Nr 4 S 1ö; BSGE 45, 206, 208 = SozR 2200 § 1227 Nr 10 S 27).

Der Bescheid vom 20. Juni 1975 überschreitet die Grenzen des zulässigen Nachschiebens von Gründen. Durch ihn werden nicht neue rechtliche oder tatsächliche Gründe für den zunächst angefochtenen Bescheid vom 27. November 1974 und insbesondere für die vom Kläger beanstandete Außerachtlassung einer Ersatzzeit vom 9. Mai 1945 bis Juni 1947 nachgeschoben. Vielmehr ist mit dem Bescheid vom 20. Juni 1975 eine Neuberechnung des Altersruhegeldes unter "Aberkennung" der im Bescheid vom 27. November 1974 berücksichtigten Ersatzzeit vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 vorgenommen worden. Das hat zwar nicht zu einer Beeinträchtigung der Rechtsverteidigung des Klägers geführt. Der neue Bescheid ist gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Verfahrens geworden und damit in vollem Umfange gerichtlich nachprüfbar. Er hat jedoch den Bescheid vom 27. November 1974 in seinem Wesen verändert. Das darin errechnete Altersruhegeld wird dem Kläger nur noch im Wege der Besitzstandswahrung fortgezahlt. Hingegen bildet es nicht mehr die Grundlage zukünftiger Rentenanpassungen. Diese werden vielmehr - wie im Bescheid vom 7. Oktober 1976 tatsächlich geschehen - nur noch auf der Basis der neuen Berechnungsmerkmale und somit unter Außerachtlassung der Ersatzzeit vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 vorgenommen. Das führt über eine bloße Ergänzung der Begründung hinaus zu einer inhaltlichen Veränderung des Bescheides vom 27. November 1974 mit Einschluß seines Verfügungssatzes (ebenso für die während eines Streitverfahrens erfolgte Neuberechnung eines Altersruhegeldes unter Außerachtlassung einer bisher anerkannten Ausfallzeit (Urteil des 5. Senats vom 26. September 1974 in BSGE 38, 157, 158 ff = SozR 2200 § 1631 Nr 1 S 2 ff).

Zu Unrecht hält die Beklagte diese Konsequenz für unvereinbar mit der Rechtsprechung insbesondere des 11. Senats des BSG, wonach die Bindungswirkung des § 77 SGG sich nur auf den Verfügungssatz eines Bescheides und nicht auf dessen Gründe sowie auf die Berechnungsfaktoren und Berechnungsart der Rente erstrecke (S 2 der Revisionsbegründung vom 9. Februar 1977). Einmal wird der Verfügungssatz berührt. Es macht einen Unterschied, ob eine Rentenleistung als das Ergebnis einer Berechnung oder aber lediglich im Wege der Besitzstandswahrung anstelle eines an sich nur zustehenden niedrigeren Betrages gewährt wird. Zum anderen geht es im vorliegenden Zusammenhang nicht um die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfange Berechnungselemente eines Rentenbescheides schlechthin an dessen Bindungswirkung teilnehmen. Vielmehr ist lediglich darüber zu befinden, ob eine Änderung von Berechnungsfaktoren speziell im Wege des Nachschiebens von Gründen während eines gerichtlichen Verfahrens zulässig ist. Hierüber hat der 11. Senat des BSG bisher nicht entschieden und demzufolge eine Auseinandersetzung mit dem Urteil des 5. Senats vom 26. September 1974 ausdrücklich für nicht erforderlich erachtet (vgl BSGE 45, 23ö, 238 = SozR 1500 § 77 Nr 26 S 21 f).

Der Bescheid vom 20. Juni 1975 ist nach alledem bereits deswegen rechtswidrig, weil die Beklagte selbst in ihrem Bescheid vom 27. November 1974 - im erkennbaren Gegensatz zu den Bescheiden über das vorgezogene Altersruhegeld vom 13. November 1972 und 27. November 1974 - die Zeit der Dienstleistung des Klägers bei der GESTAPO vom 26. August 1939 bis 8. Mai 1945 als Ersatzzeit anerkannt hat und diese Anerkennung nicht im Wege des Nachschiebens von Gründen rückgängig machen kann. Darüber zu entscheiden, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 28 Abs 1 Nr 1 AVG für eine Anerkennung der streitigen Zeit als Ersatzzeit erfüllt sind, ist dem Senat verwehrt.

Die Revision der Beklagten erweist sich als unbegründet und ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652042

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