Verfahrensgang

LSG Hamburg (Urteil vom 22.06.1976)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 22. Juni 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, auf welche Weise dem Kläger Arbeitslosengeld (Alg) und Unterhaltsgeld (Uhg) zu berechnen sind.

Der Kläger, von Beruf technischer Angestellter (Hochbautechniker), war bis zum 31. März 1973 gegen ein Monatsgehalt von 1.990,25 DM (42 Wochenstunden) und vom 2. Juli 1973 bis zum 30. Juni 1974 als Bauleiter bei einem monatlichen Tarifgehalt von 2.650,-- DM (40 Wochenstunden) beschäftigt gewesen. In der Zeit vom 16. Dezember 1974 bis zum 30. Juni 1975 arbeitete er als Angestellter beim örtlichen Arbeitsamt (AA) für ein monatliches Bruttoarbeitsentgelt in Höhe von 1.747,49 DM bei einer 40-Stunden-Woche.

Auf seinen Antrag bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 19. Juni 1975 Alg mit Wirkung vom 1. Juli 1975 – dem ersten Tag seiner neuerlichen bis zum 30. August desselben Jahres währenden Arbeitslosigkeit – auf der Grundlage des letzten Monatsgehalts von 1.747,49 DM.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. August 1975 legte die Beklagte der Berechnung des Alg das Durchschnittseinkommen zugrunde, das der Kläger in der Zeit vom 1. Juli 1972 bis zum 30. Juni 1975, also in den letzten drei Jahren vor seiner Arbeitslosmeldung, erzielt hatte.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 8. März 1976 die Beklagte verurteilt, das Alg auf der Grundlage eines monatlichen Gehalts nach der Tarifgruppe T 5 ab 7. Berufsjahr (2.658,-- DM) zu gewähren (Tarifvertrag zur Neuregelung der Gehälter für die technischen Angestellten und Auszubildenden des Baugewerbes vom 26. Februar 1975). Während des Klageverfahrens gewährte die Beklagte dem Kläger wegen seiner Teilnahme an einem Bildungslehrgang “Datenverarbeitung für Techniker” aufgrund eines am 4. September 1975 ergangenen Bescheides Uhg für die Zeit vom 1. September 1975 bis zum 13. Dezember 1975 und im Anschluß daran gekürztes Uhg bis zum 13. März 1976 (Bescheide vom 20. Januar 1976 und 23. März 1976). Seit dem 15. März 1976 bewilligte die Beklagte dem Kläger laut Bescheid vom 6. April 1976 wiederum Alg. Auch bei der Berechnung dieser Leistungen legte die Beklagte den Berechnungsmodus des Widerspruchsbescheides vom 19. August 1975 zugrunde.

In der abschließenden mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat der Kläger neben der Zurückweisung der Berufung der Beklagten beantragt, die während des Rechtsstreits ergangenen Bescheide abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, auch das ihm gewährte Uhg und das ab 15. März 1976 erneut geleistete Alg nach einem Monatsgehalt von 2.658,-- DM zu berechnen (Tarifgruppe T 5 ab 7. Berufsjahr).

Das LSG hat mit Urteil vom 22. Juni 1976 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung des Klägers die während des Rechtsstreits von der Beklagten erlassenen Bescheide geändert; es hat die Beklagte verurteilt, auch das für die Zeit vom 1. September bis 13. Dezember 1975 gewährte Uhg, das anschließend bis zum 13. März 1976 gewährte gekürzte Uhg und das ab 15. März 1976 erneut gewährte Alg nach einem Monatsgehalt von 2.658,-- DM zu berechnen.

Es ist davon ausgegangen, daß die während des Rechtsstreits ergangenen Bescheide gemäß § 96 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Rechtsstreits geworden seien. Der Bescheid vom 19. Juni 1975 entspreche auch in der Fassung, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden habe, nicht der Vorschrift des § 112 Abs 7 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Da die Folgebescheide den gleichen Rechtsfehler aufwiesen, sei die dagegen gerichtete Klage begründet.

Für die Berechnung des Alg sehe § 112 AFG, der gemäß § 44 Abs 2 AFG auch für das Uhg gelte, nur die beiden Möglichkeiten nach Abs 2 und 3 sowie Abs 7 vor. Der Beklagten sei kein Ermessen eingeräumt, ein Bemessungsentgelt auszuwählen, das zwischen den nach Abs 2 und Abs 7 errechneten Werten liege.

Im Falle des Klägers sei vom hypothetischen Arbeitsverdienst, dem Tarifgehalt, als Berechnungsgrundlage auszugehen, da die normale Berechnung nach dem tatsächlichen Verdienst (§ 112 Abs 2, 3 AFG) “unbillig hart” im Sinne des § 112 Abs 7 AFG wäre.

Wenn die Beklagte das Bemessungsentgelt gerade nur so weit anhebe, daß nicht mehr von einer unbilligen Härte gesprochen werden könne, so verwechsele sie Tatbestand und Rechtsfolge des § 112 Abs 7 AFG. Die von der Beklagten in Übereinstimmung mit Nr. 51 ihres zu § 90 Abs 7 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) ergangenen Runderlasse 18/65.4 vom 18. Dezember 1964 praktizierte Rechtsfolge, vom Durchschnittseinkommen als obere Grenze des maßgeblichen Bemessungsentgelts auszugehen, sei – möge sie auch dem Prinzip der Äquivalenz zwischen Beitrag und Leistung besser entsprechen – mit dem Gesetz nicht zu vereinbaren, daß das Äquivalenzprinzip zugunsten einer besseren Anpassung der Leistungsbemessung an den wirklichen Schaden zurückstelle. Wer eine schlechter bezahlte Tätigkeit aufnehme, büße nicht nur einen Teil seines bisherigen Lohnes ein, sondern werde auch von den inzwischen etwa eintretenden Lohnsteigerungen in seinem – besserbezahlten – Beruf ausgeschlossen.

Für den während der Arbeitslosigkeit (Teilnahme an einer Bildungsmaßnahme) entgehenden Lohnzuwachs dieser Art werde gemäß § 112a AFG ein Ausgleich gezahlt. Wer schon vor Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht mehr an Lohnsteigerungen teilnehme, weil er berufsfremd tätig oder unterbeschäftigt sei, bedürfe eines solchen Ausgleiches erst recht.

Auszugehen sei demnach allein vom Tarifvertrag. Der Kläger sei nach seiner Leistungsfähigkeit, seiner Ausbildung und Berufserfahrung in die Tarifgruppe T 5, nach der er auch bei seiner letzten Beschäftigung im Beruf entlohnt worden sei, einzuordnen. Da er das 7. Berufsjahr überschritten habe, hätte ihm ein Tarifentgelt von 2.658,-- DM zugestanden.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 112 AFG.

Sie trägt vor:

Die vom Berufungsgericht vertretene Auffassung, wonach bei Vorliegen einer unbilligen Härte im Sinne des § 112 Abs 7 AFG vom – in der Höhe nicht begrenzten – Tariflohn auszugehen sei, führe zu mit Sinn und Zweck der Regelung unvereinbaren Ergebnissen. Dies treffe vor allem dann zu, wenn der Leistungsempfänger vor einer, den Härtefall begründenden, berufsfremden Tätigkeit mit niedriger Entlohnung zu einem höheren, aber noch unter dem erzielbaren Entgelt liegenden Gehalt beschäftigt gewesen sei; nach der vom LSG vertretenen Auffassung wäre nämlich in diesem Falle der zu gewährenden Leistung ein höheres Bemessungsentgelt zugrunde zu legen als bei Fortsetzung des ursprünglichen, höher entlohnten Arbeitsverhältnisses bis zum Eintritt der Arbeitslosigkeit. Eine solche Begünstigung dessen, der im Anschluß an eine ausbildungsadäquate Beschäftigung unterwertig beschäftigt worden sei, gegenüber demjenigen, der im unmittelbaren Anschluß an die ursprüngliche Beschäftigung arbeitslos geworden sei, führe zu einer vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Überkompensation der durch die letzte, geringer bezahlte Beschäftigung entstandenen Härte. Ein solches Verfahren sei in Anbetracht dessen, daß der Berechnung der Leistungen unter Umständen ein höherer Betrag zugrunde liegen könne als der Berechnung des in der zurückliegenden Zeit erhobenen Beitrags, systemfremd; beim Alg handele es sich nämlich um eine Versicherungsleistung.

Sinn und Zweck des § 112 Abs 7 AFG sei vielmehr, die aufgrund der zuletzt ausgeübten, berufsfremden Beschäftigung bei einer nach § 112 Abs 2 und 3 AFG sich ergebende Härte dadurch auszugleichen, daß bei der Berechnung des Alg/Uhg von dem aus der überwiegenden Beschäftigung erzielten Arbeitsentgelts der davor liegenden Zeit auszugehen sei.

Des weiteren sei unklar, weshalb das LSG den Kläger in die Tarifgruppe T 5 eingestuft habe. Der Hinweis des Gerichts darauf, daß der Kläger auch im letzten Arbeitsverhältnis im Beruf nach dieser Tarifgruppe entlohnt worden sei, könne die getroffene Eingruppierung nicht rechtfertigen, weil bei der tariflichen Einstufung die Berücksichtigung des Arbeitsentgelts des jeweils letzten Beschäftigungsverhältnisses im Beruf ausscheiden müsse. Desgleichen müsse unberücksichtigt bleiben, daß der Kläger während dieser Beschäftigung das bisher höchste Arbeitsentgelt erzielt habe. Der Maßstab, der bei der tariflichen Einstufung des Arbeitslosen anzulegen sei, lasse sich im Wege der Analogie aus den Eingangsworten des § 112 Abs 7 AFG gewinnen, wo der Gesetzgeber in einer vergleichbaren Situation nur diejenige Tätigkeit für relevant erklärt habe, die in den letzten drei Jahren vor der Arbeitslosmeldung überwiege. Maßgebliches Entgelt für den Kläger – bei Zusammenrechnung seiner beiden nicht berufsfremden Beschäftigungsverhältnisse – könne nur in dem gewogenen Mittel der beiden unterschiedlichen Einkommenshöhen bestehen. Dies entspräche im Ergebnis der genannten innerdienstlichen Weisung der Bundesanstalt für Arbeit (BA) zu § 90 AVAVG, weil entscheidend das Durchschnittsentgelt in der überwiegend ausgeübten Tätigkeit sei, soweit nicht der Arbeitslose selbst bei günstigem Einsatz seines Leistungsvermögens nur noch ein geringeres Entgelt erzielen könnte.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 8. März 1976 aufzuheben, die Klage abzuweisen.

Der Kläger, der durch einen Prozeßbevollmächtigten nicht vertreten ist, stellt keinen Antrag und trägt auch nichts vor.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Zu Recht hat das LSG auch die Bescheide vom 4. September 1975, 20. Januar 1976, 23. März 1976 und 6. April 1976 in seine Entscheidung einbezogen.

Gemäß § 153 Abs 1 SGG ist § 96 SGG im Berufungsverfahren anwendbar (vgl BSGE 4, 24, 25). Der § 96 SGG ist nicht dadurch ausgeschlossen, daß das SG über die nach Klageerhebung, aber vor Verkündung des erstinstanzlichen Urteils ergangenen Bescheide vom 4. September 1975 und 20. Januar 1976 nicht mitentschieden hat. Das LSG hat jedenfalls dann über einen während des erstinstanzlichen Verfahrens ergangenen, vom SG aber nicht berücksichtigten Verwaltungsakt zu befinden, wenn ein Beteiligter dies beantragt und ein anderer nicht widerspricht.

Ein Bescheid, der nach § 96 SGG Gegenstand des Rechtsstreits geworden ist, wird zwar nicht ohne weiteres dadurch in seinem Bestande berührt, daß das SG eine Entscheidung über den (ursprünglichen) Verwaltungsakt trifft, der (durch den weiteren Bescheid) abgeändert oder ersetzt worden ist. Die formelle Beseitigung eines Bescheides (auch eines Abänderungsbescheides) erfordert grundsätzlich einen entsprechenden Urteilsausspruch (BSG Urteil vom 26.5.1977, 12 RAr 13/77). Ist ein solcher Ausspruch irrtümlich unterblieben, so ist das Verfahren vor dem SG weiterzuführen. Von sich aus vermag das LSG den Streitgegenstand nicht zu erweitern, etwa indem es den Inhalt des Tenors erster Instanz “klarstellt”. Damit würde es über die Anträge der Beteiligten hinausgehen (§§ 202 SGG, 536 Zivilprozeßordnung – ZPO -; BSG Urteil vom 26.5.1977, 12 RAr 13/77).

Anerkannt ist aber, daß ein Beteiligter des Berufungsverfahrens einen von der Vorinstanz nicht erledigten Teil des Rechtsstreits durch Einbeziehung in seinen Antrag vor das Berufungsgericht bringen kann, sofern die anderen Beteiligten nicht widersprechen (BSGE 27, 146, 148; SozR Nr 21 zu § 96 SGG; Peters-Sautter-Wolff § 96, 2b). Dem Grundsatz nach hat das Gericht über den durch § 96 SGG erweiterten Streitgegenstand einheitlich zu entscheiden. Übergeht das SG den durch § 96 SGG in den Prozeß eingeführten Bescheid in seinem Urteil, so stellt das einen Verfahrensmangel dar (BSG SozR 3660 § 2 Nr 1). Wenn die Beteiligten des Berufungsverfahrens den vom SG übergangenen Teil des Streitgegenstandes in ihre Anträge aufnehmen und wenn das LSG daraufhin auch über diesen Teil des Streitgegenstandes entscheidet, so wird lediglich der Umfang des Prozeßgegenstandes wieder hergestellt, wie er durch § 96 SGG gewollt ist.

Für die Anwendbarkeit des § 96 Abs 1 SGG ist ferner ohne Belang, daß die Bescheide vom 13. März und 6. April 1976 nach Ergehen des Urteils des SG, aber vor Einlegung der Berufung, erlassen worden sind, also zu einem Zeitpunkt, in dem der Devolutiveffekt des Anfalls des Streits beim LSG noch nicht eingetreten war. Im Hinblick darauf, daß § 96 SGG in besonderem Maße der Prozeßökonomie dient, ist davon auszugehen, daß mit Einlegung der Berufung die neuen Bescheide auch Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sind (Peters-Sautter-Wolff, § 96, 2b; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, I/2, 242q; Schimmelpfeng SGb 1977, 137). So, wie § 96 SGG einen Bescheid zum Gegenstand der Klage werden läßt, ohne daß er in der Klageschrift schon genannt war, überhaupt genannt werden konnte, so läßt er auch Bescheide zum Bestandteil des Berufungsverfahrens werden, die nach Erlaß des Urteils erster Instanz, aber vor Einlegung der Berufung ergangen sind.

Der Umstand, daß die späteren Bescheide nicht in einem Vorverfahren überprüft worden sind, steht der Anwendung des § 96 SGG nicht entgegen (BSGE 4, 24, 26; 5, 158, 163; BSG SozR Nr 16 zu § 96 SGG; Brackmann, aaO, S. 242s).

Im vorliegenden Falle haben die späteren Bescheide den Bescheid vom 19. Juni 1975 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. August 1975 auch abgeändert. Der ursprüngliche Bescheid regelte die Zahlung von Alg vom 1. Juli 1975 an für insgesamt 146 Wochentage. Die Bewilligung von Uhg für die Zeit vom 1. September 1975 an durch den Bescheid vom 4. September 1975 wirkte auf den ersten Bescheid insofern ein, als der – soweit nicht erfüllt – an sich fortbestehende Anspruch des Klägers auf Alg nunmehr durch einen Anspruch auf Uhg “ersetzt” wurde. Die im ersten Bescheid enthaltene zeitliche Erstreckung der Alg-Bewilligung wurde mit Wirkung vom 1. September 1975 an beseitigt, an ihre Stelle trat die Leistung von Uhg. Nichts anderes gilt dann für das auf den Bescheiden vom 20. Januar und 23. März 1976 beruhende gekürzte Uhg. Die Bescheide ergänzen demgemäß den ersten Uhg-Bescheid (vgl Brackmann, aaO, S. 242 u). Mit dem zuletzt ergangenen Bescheid vom 6. April 1976 gewährte die Beklagte dem Kläger wiederum Alg, und zwar handelt es sich um die restliche Dauer des durch den ursprünglichen Bescheid auf 146 Tage ausgedehnten bzw begrenzten Alg-Anspruch.

Das BSG ist allerdings stets von dem Grundsatz ausgegangen, daß § 96 SGG nur dann anwendbar ist, wenn der neue Verwaltungsakt denselben Streitgegenstand betrifft, da andernfalls von einer “Ersetzung” oder “Änderung” nicht gesprochen werden könne (vgl BSG SozR Nr 12 zu § 96 SGG; SozR 1500 § 96 Nr 2).

Zur Bestimmung des Streitgegenstandes ist in erster Linie das vom Kläger verfolgte sachliche Ziel, das auf Bestimmung einer Rechtsfolge gerichtete Begehren festzustellen (vgl BSGE 2, 135, 136; 4, 206, 208; 9, 17, 20; 18, 266, 267, 268; 21, 13, 15). Mit seiner Klage gegen den Bescheid vom 19. Juni 1975 (Widerspruchsbescheid vom 19. August 1975) begehrt der Kläger aus Anlaß seiner Arbeitslosigkeit die Zahlung eines höheren Alg, als die Beklagte zunächst festgesetzt hat. Dagegen will er mit der Einbeziehung der späteren Bescheide erreichen, daß ihm wegen seiner Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Bildung ein höheres Uhg gewährt wird. Der Kläger erstrebt also – das wird vor allem angesichts der unterschiedlichen Leistungsvoraussetzungen deutlich – zwei verschiedenartige Leistungen. Es könnte daher fraglich sein, ob noch derselbe Streitgegenstand betroffen ist.

Der Grundsatz daß es sich im Rahmen des § 96 SGG um ein- und denselben Streitgegenstand handeln muß, gilt aber nicht ausnahmslos.

Im Interesse einer “sinnvollen Prozeßökonomie ” (BSG SozR Nr 14 zu § 96 SGG) soll ein schnelles und zweckmäßiges Verfahren dadurch ermöglicht werden, daß der neue Bescheid nachgeprüft werden kann, ohne daß eine neue Klage oder eine gewillkürte Klageänderung erforderlich ist (BSG 18, 31, 34). Außerdem soll die Bestimmung abweichende gerichtliche Entscheidungen vermeiden und dadurch die Rechtssicherheit fördern (BSG SozR Nr 14 zu § 96 SGG). Schließlich dient § 96 SGG dem Schutz des Betroffenen vor der Gefahr, daß ihm Rechtsnachteile erwachsen, falls er im Vertrauen auf den von ihm eingelegten Rechtsbehelf weitere Schritte unterläßt (BSG aaO; BSGE 5, 13, 16).

Unter Berücksichtigung dieser Normziele ist § 96 SGG auch dann (entsprechend) anzuwenden, wenn sich der neue Verwaltungsakt nicht auf den Streitgegenstand “im engeren Sinne” bezieht, mag er auch den ursprünglich angefochtenen Bescheid weder abändern noch ersetzen; vielmehr reicht es aus, wenn der spätere Bescheid im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses ergangen ist und ein streitiges Rechtsverhältnis regelt, das sich an den von dem angefochtenen Verwaltungsakt erfaßten Zeitraum anschließt (BSG SozR Nr 14 zu § 96 SGG; BSGE 34, 255, 257; SozR 3660 § 2 Nr 1 ). In diesem Fall besteht ein die Anwendbarkeit des § 96 SGG rechtfertigender “innerer Zusammenhang” (BSGE 25, 161, 163) zwischen älterem und neuerem Verwaltungsakt.

Dieser Gedanke führt im vorliegenden Fall zu einer Einbeziehung der späteren Bescheide. Seit der Arbeitslosmeldung des Klägers besteht ein – für beide Beteiligten Rechte und Pflichten begründendes – Dauerrechtsverhältnis, das durch die Teilnahme des Klägers an der Bildungsmaßnahme, die zur Zahlung von Uhg führte, nicht unterbrochen worden ist. Es darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Kläger während des bestehenden Rechtsverhältnisses stets nur solche Ansprüche geltend gemacht und die Beklagte solche Mittel gewährt hat, die aus demselben Versicherungsverhältnis entspringen, für deren Berechnung größtenteils dieselben Vorschriften gelten (vgl § 44 Abs 2, 3 und 7 AFG). Weiterhin muß beachtet werden, daß sowohl Alg als auch Uhg Lohnersatzfunktion haben, mithin denselben Zweck der Unterhaltssicherung des Betroffenen verfolgen. Hinzu kommt, daß die im Rahmen des Dauerrechtsverhältnisses ergangenen weiteren Bescheide die über eine bestimmte Höhe hinaus geltend gemachten Ansprüche des Klägers mit der gleichen Begründung zurückweisen. So hat etwa das BSG in einer Entscheidung vom 27. März 1974 (BSG SozR 1500 § 96 Nr 2) die Einbeziehung späterer Bescheide auch deshalb bejaht, weil für die Anwendbarkeit des § 96 SGG eine Beeinflussung des Streitstoffes im anhängigen Rechtsstreit genüge, die das Gericht darin gesehen hatte, daß im Kern dieselbe Rechtsfrage zu prüfen war.

In sachlicher Hinsicht geht das LSG von einer richtigen Berechnungsweise des Alg und des Uhg aus.

Das Alg beträgt gemäß § 111 Abs 1 AFG in der hier anzuwendenden Fassung vom 21. Dezember 1974 (BGBl I 3656), in Kraft getreten am 1. Januar 1975, 68 vH des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgelts (§ 112 AFG). Das Uhg beträgt dagegen gemäß § 44 Abs 2 Satz 1 AFG in der hier gültigen Fassung des Gesetzes vom 21. Dezember 1974 (BGBl I, 3656) – Einkommenssteuerreformgesetz – ab 1. Januar 1975 90 vH des um die gesetzlichen und gewöhnlich anfallenden Abzüge verminderten Arbeitsentgelts iS des § 112 AFG, während das auf § 44 Abs 5 AFG beruhende gekürzte Uhg in Höhe des Alg (§ 111 AFG) gewährt wird. Beide angeführten Absätze des § 44 AFG sind im vorliegenden Fall noch anwendbar. Die Herabsetzung des Uhg auf 80 vH des Arbeitsentgeltes und der Fortfall des gekürzten Uhg durch das Haushaltsstrukturgesetz vom 18. Dezember 1975 ist für den Kläger noch nicht wirksam, weil er die Bildungsmaßnahme vor Inkrafttreten des Haushaltsstrukturgesetzes am 1. Januar 1976 abgeschlossen hatte und außerdem gemäß Art 1 § 2 Abs 5 dieses Gesetzes die Vorschrift über das gekürzte Uhg (§ 44 Abs 5 AFG) für Antragsteller, die eine berufliche Bildungsmaßnahme vor Inkrafttreten des Gesetzes abgeschlossen haben, weiterhin anzuwenden ist.

Dieses für die Leistungsberechnung entscheidende Arbeitsentgelt wird nach der Regelung in § 112 Abs 2 und 3 AFG auf Wochen umgerechnet und gemäß § 112 Abs 9 AFG auf durch 5 teilbare Deutsche-Mark-Beträge gerundet. Für die Berechnung dieses sogenannten Einheitslohnes, dem in der jeweils geltenden Verordnung über die Leistungssätze des Uhg, des Kurzarbeitergeldes, des Schlechtwettergeldes, des Alg und der Arbeitslosenhilfe (AFG-Leistungsverordnung) bestimmte Wochenbeträge zugeordnet sind, sieht § 112 AFG zwei verschiedene Möglichkeiten vor.

Grundsätzlich richtet sich die Berechnung nach dem vom Versicherten tatsächlich im Bemessungszeitraum (Abs 3) erzielten Arbeitsentgelt.

Unter den Voraussetzungen des § 112 Abs 7 AFG ist dagegen ausnahmsweise nicht auf ein tatsächlich erzieltes, sondern auf das für den Betroffenen erzielbare Arbeitsentgelt abzustellen, das in dem am Wohn- oder Aufenthaltsort des Arbeitslosen maßgeblichen tariflichen Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung besteht, für die der Arbeitslose in Betracht kommt.

Abweichend vom Grundsatz des § 112 Abs 2 AFG sind die Leistungen der Beklagten mithin nach einem fiktiv festzustellenden Arbeitsentgelt zu berechnen, sofern die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Eingreifen der im § 112 Abs 7 AFG normierten Rechtsfolge gegeben sind. Diese bestehen hinsichtlich des Alg darin, daß es mit Rücksicht auf die vom Arbeitslosen in den letzten drei Jahren vor der Arbeitslosmeldung überwiegend ausgeübten beruflichen Tätigkeit unbillig wäre, vom Arbeitsentgelt nach den vorstehenden Absätzen des § 112 AFG auszugehen, hinsichtlich des Uhg darin, daß es unbillig hart wäre, vom Arbeitsentgelt nach § 44 Abs 2 und 3 AFG auszugehen (§ 44 Abs 3 Nr 3 AFG). Entscheidend ist somit, ob die “normale” Leistungsberechnung für den Kläger zu einer unbilligen Härte iS der bezeichneten Vorschriften führte, eine Frage, die gerichtlich voll überprüfbar ist, da der Beklagten weder ein Ermessen eingeräumt ist, eine unbillige Härte anzunehmen, noch ein Beurteilungsspielraum für die Ausfüllung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs besteht (davon ist der Senat schon bisher ausgegangen, vgl BSG SozR Nr 3 und 5 zu § 90 AVAVG; Urteil vom 31. August 1976 – 7 RAr 128/74; vgl ferner Hennig-Kühl-Heuer, Arbeitsförderungsgesetz, § 44, 6).

Eine unbillige Härte liegt für den Arbeitslosen dann vor, wenn die Bemessung aufgrund der Absätze 2 bis 6 von § 112 AFG ihn erheblich benachteiligen würde (Krebs, Arbeitsförderungsgesetz, § 112 RdNr 35). Das ist der Fall, wenn das nach § 112 Abs 2 und 3 AFG ermittelte Bemessungsentgelt in einem Mißverhältnis zu dem Entgelt steht, das der Arbeitslose aus den innerhalb der letzten drei Jahre von der Arbeitslosmeldung überwiegend ausgeübten beruflichen Tätigkeiten erzielt hat (Schönefelder-Kranz-Wanka, Arbeitsförderungsgesetz, § 112, RdNr 27; Hennig-Kühl-Heuer, § 112, 13). Gegenüberzustellen und miteinander zu vergleichen sind angesichts des eindeutigen Wortlauts der Vorschrift demnach die in Betracht kommenden Arbeitsentgelte und nicht etwa – diese Auffassung wurde unter Geltung des dem § 112 Abs 7 AFG zeitlich vorhergehenden, im Wortlaut abweichenden § 90 Abs 7 AVAVG vertreten – die jeweiligen Tabellensätze des Hauptbetrages einmal aufgrund der Bemessung nach Abs 1 bis 6 und zum anderen aufgrund der Bemessung nach Absatz 7 (vgl Draeger-Buchwitz-Schönefelder, AVAVG, § 90, RdNr 21). Die Anwendung dieser Grundsätze ergibt folgendes: Nach den allgemeinen Regeln des § 112 Abs 2 und 3 AFG würde sich das Alg des Klägers nach seiner letzten beim Arbeitsamt Hamburg mit 1.747,49 DM entlohnten Tätigkeit richten; dem entspräche ein Wochenbetrag (§ 112 Abs 2 Satz 2 AFG) von 403,20 DM.

Demgegenüber war der Kläger nach den bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) des LSG zwischen dem 1. Juli 1972 und dem 30. Juni 1975, also in den letzten drei Jahren vor der maßgeblichen Arbeitslosmeldung, zunächst neun Monate zu einem Monatsgehalt von 1.990,25 DM und sodann zwölf Monate zu einem monatlichen Tarifgehalt von 2.650,-- DM beschäftigt. Er war demnach vor seiner berufsfremden – und geringer entlohnten – Tätigkeit im AA 21 Monate lang bei einem durchschnittlichen Monatsverdienst von 2.367,25 DM (Wochenverdienst: 546,29 DM) in seinem erlernten Beruf als Hochbautechniker beschäftigt.

Diese beruflichen Tätigkeiten des Klägers mit den höheren Bezügen dürfen zu dem Vergleich herangezogen werden, weil sie innerhalb der letzten drei Jahre, wie § 112 Abs 7 AFG verlangt, den überwiegenden Teil seiner Beschäftigung ausmachen.

Dabei kann, soweit mit Bescheid vom 19. Juni (19. August) 1975 Leistungen bewilligt worden sind, dahingestellt bleiben, ob das “überwiegend” so auszulegen ist, daß die höherbezahlte Tätigkeit nur im Vergleich zu der anderen, im Bemessungszeitraum ausgeübten geringeren Tätigkeit innerhalb der letzten drei Jahre den überwiegenden Teil ausmachen muß (so Schönefelder-Kranz-Wanka, § 112 RdNr 27) ober ob zu fordern ist, daß die besser bezahlte Beschäftigung innerhalb der drei Jahre mehr als 1 1/2 Jahre ausfüllen muß (so Hennig-Kühl-Heuer, § 112, 13; BA RdErl 18/65.4-7020 Nr 50 zu § 90 AVAVG); denn selbst bei Anwendung der letzten engeren Meinung überschreiten die Beschäftigungen des Klägers in seinem Beruf mit insgesamt 21 Monaten die danach maßgebliche Grenze von 1 1/2 Jahren beträchtlich.

Dies gilt auch für das mit dem letzten Bescheid vom 6. April 1976 erneut mit Wirkung vom 15. März 1976 zuerkannte Alg, für das in gleicher Weise die früheren höherbezahlten Beschäftigungen des Klägers maßgebend sind. Nicht etwa ist anknüpfend an den 15. März 1976 ein “Überwiegen” der höherdotierten Tätigkeiten erneut festzustellen, was im Hinblick auf die abweichende zeitliche Erstreckung der Dreijahresfrist und die unterschiedlichen Rechtsansichten zweifelhaft wäre. Es handelt sich nämlich im vorliegenden Fall bei diesen Leistungen um den früheren Anspruch auf Alg, der für den noch nicht erfüllten Teil fortbesteht, weil er – ein neuer Anspruch ist mangels Begründung einer neuen Anwartschaftszeit nicht entstanden – nicht gemäß § 125 Abs 1 AFG erloschen ist. Demnach liegt lediglich eine Wiederbewilligung vor, für die der frühere Bemessungsmodus maßgebend bleibt.

Ein Vergleich der sonach zu berücksichtigenden Beschäftigungen des Klägers ergibt, daß das Arbeitsentgelt bei der Beklagten – wie das LSG zutreffend ausgeführt hat – um etwa 26 vH unter dem aus seinem im Beruf des Hochbautechnikers erzielten Durchschnittsverdienst liegt. Die Beklagte bestreitet nicht den Fall einer unbilligen Härte, zumal sie selbst davon ausgeht, daß zur Begründung einer unbilligen Härte der Unterschiedsbetrag der zu vergleichenden Arbeitsentgelte mehr als 10 vH ausmachen sollte (RdErl aaO). Ob diese pauschale Regelung dem Einzelfall gerecht wird (verneinend Schönefelder-Kranz-Wanka aaO), kann offenbleiben, da vorliegend auf jeden Fall ein so erhebliches Mißverhältnis besteht, daß es unter Berücksichtigung auch der vom LSG festgestellten Tatsache, der Kläger habe die ihm angebotene Stelle bei der Beklagten nur unter dem Druck der für ihn als Bautechniker ungünstigen Arbeitsmarktlage angenommen, unbillig wäre, wenn die Beklagte von der letzten niedrigen Entlohnung bei der Berechnung des Alg ausginge.

Der Tatbestand des § 112 Abs 7 AFG, die Voraussetzung für die der Norm zu entnehmende Rechtsfolge, ist nach alledem gegeben.

Für das Uhg sind dieselben Gesichtspunkte maßgebend. Auch hier wäre es wegen des bestehenden Mißverhältnisses unbillig hart, von der geringer entlohnten Beschäftigung des Klägers auszugehen.

Gemäß der von § 112 Abs 7 AFG bestimmten Rechtsfolge richtet sich die Höhe des Alg nach der “am Wohn- oder Aufenthaltsort des Arbeitslosen (§ 129) maßgeblichen tariflichen … Regelung … derjenigen Beschäftigung”, für die der Arbeitslose nach Lebensalter, Leistungsfähigkeit unter Berücksichtigung von Beruf und Ausbildung in Betracht kommt.

Nach dem unzweideutigen Wortlaut der Vorschrift ist allein ausschlaggebend das Tarifgehalt, das der Arbeitslose bei Nichtbestehen der Arbeitslosigkeit erzielen könnte. Zu bemessen ist also nach dem fiktiv erzielbaren Arbeitsentgelt (Schönefelder-Krarz-Wanka, § 112 RdNr 25; Hennig-Kühl-Heuer, § 112, 12). Für eine Begrenzung des festzustellenden Arbeitsentgeltes durch das Durchschnittsentgelt der in den letzten drei Jahren überwiegend ausgeübten Tätigkeit besteht dem Wortsinne nach kein Anhaltspunkt; das Durchschnittsentgelt hat im Rahmen des § 112 Abs 7 AFG ausdrückliche Bedeutung nur für die Feststellung des Tatbestandes der unbilligen Härte. Der Wortsinn ist eindeutig, er läßt keinen Raum für mehrere Bedeutungsvarianten.

Eine im Sinne der Revision vorzunehmende Einschränkung der in Frage stehenden Bestimmung mittels Begrenzung des erzielbaren Arbeitsentgeltes durch das erzielte Durchschnittseinkommen wäre nur möglich, falls § 112 Abs 7 AFG entgegen seinem unzweifelhaften Wortlaut, aber gemäß der “immanenten Teleologie des Gesetzes” einer im Gesetzestext nicht enthaltenen Einschränkung bedürfte (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl, 1975, S. 377). Passen Sinn und Zweck des Gesetzes nicht auf bestimmte Fallgruppen, die an sich von seinem Wortlaut erfaßt werden, jedoch für die Wertung relevante Besonderheiten aufweisen, so liegt eine “verdeckte Lücke” vor, die im Wege einer “teleologischen Reduktion” durch Hinzufügen der sinngemäß geforderten Einschränkung ausgefüllt werden muß (Larenz, aaO, S. 362, 377). Folglich ist festzustellen, ob eine dem Wortsinn entsprechende Anwendung der Norm auf Fälle vorliegender Art gerade dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung widersprechen würde.

In Übereinstimmung mit der Revision ist die Funktion des § 112 Abs 7 AFG darin zu sehen, die aufgrund der zuletzt ausgeübten und verhältnismäßig kurzen Beschäftigung bei einer Berechnung nach § 112 Abs 2 und 3 AFG sich ergebende Härte auszugleichen (vgl BSG Urteil vom 31. August 1976 – 7 RAr 128/74). Dabei ist es theoretisch denkbar, diesen Ausgleich entweder dadurch zu schaffen, daß das Bemessungsentgelt gerade nur so weit angehoben wird, daß man nicht mehr von einer unbilligen Härte sprechen kann, also das früher erzielte Durchschnittsentgelt berücksichtigt, oder – wie es der Wortlaut des Gesetzes fordert – das in Betracht kommende erzielbare tarifliche Gehalt zugrunde legt. In beiden Fällen wäre die unbillige Härte ausgeglichen, so daß der Grundgedanke in jedem Fall erreicht wird, ein Widerspruch zu ihm nicht vorhanden ist.

Erstmalig wurde für die Berechnung der Höhe von Alg eine Härteregelung in § 90 Abs 7 AVAVG durch das 2. Änderungsgesetz zum AVAVG aufgenommen, die an den bis dahin geltenden Gedanken des § 90 Abs 2 AVAVG anknüpfte. Ohne diese Vorschrift wäre nach damaligem Recht der Arbeitslose benachteiligt gewesen, wenn er innerhalb der letzten 13 Wochen oder drei Monate eine Beschäftigung ausgeübt hätte (§ 90 Abs 1 AVAVG), die nicht seiner bisher überwiegenden Tätigkeit entsprach und ein niedrigeres Arbeitsentgelt für den Arbeitslosen zur Folge hatte. Nach § 90 Abs 2 AVAVG war in solch einem Fall nicht auf das durchschnittliche Arbeitsentgelt der letzten 13 Wochen bzw drei Monate, sondern auf das der letzten versicherungspflichtigen Beschäftigung innerhalb der maßgeblichen Rahmenfrist (§ 85 AVAVG) bis zu 52 Wochen abzustellen. Mithin war vor der Änderung des § 90 AVAVG zur Vermeidung einer Härte für den Arbeitslosen – wie im Normalfall des § 90 Abs 1 AVAVG – ein von diesem in der Vergangenheit erzieltes Arbeitsentgelt Berechnungsmaßstab. Wenn der Gesetzgeber diesen auf zurückliegende Zeiten abstellenden Maßstab aufgegeben hat, der eingefügte § 90 Abs 7 AVAVG vielmehr allein das künftig erzielbare Einkommen maßgebend sein läßt, um, wie es in der Begründung der Bundesregierung zum “Gesetzentwurf 2. Änderungsgesetz zum AVAVG” allein heißt, eine gegenüber der derzeitigen Regelung “großzügigere Behandlung” zu ermöglichen (BT-Drucks 1240/1959, S. 14), so kann dies nur als bewußte Entscheidung des Gesetzgebers gewertet werden, daß früher erzieltes Einkommen ausschließlich für die Ermittlung der unbilligen Härte, nicht aber für die sich daraus ergebende Rechtsfolge eine Rolle spielen soll. Die im Vergleich zu § 90 Abs 7 AVAVG geringfügig veränderte Wortfassung des § 112 Abs 7 AFG – die Neuregelung ersetzte die Wendung “bemißt sich” durch die gleiche Bedeutung aufweisenden Worte “ist auszugehen” – ändert daran nichts.

Etwas Gegenteiliges, im Sinne der von der Revision vertretenen Rechtsauffassung, ergibt sich also aus der Entstehungsgeschichte des Gesetzes nicht.

Die Regelung, eine Beseitigung von Härten dadurch auszugleichen, daß einzig an ein künftig erzielbares Arbeitsentgelt angeknüpft wird, paßt sich darüber hinaus widerspruchslos in die gesetzliche Systematik ein, die dem Grundsatz folgt, laufende Sozialleistungen den sich ändernden Lohnverhältnissen anzupassen (vgl BT-Drucks 7/1237 zu Nr 12). Dieses Prinzip hat seine letzte Ausgestaltung durch § 112a AFG, eingefügt aufgrund des § 34 Nr 12 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation vom 7. August 1974, erfahren, wonach sich das für die Bemessung des Alg maßgebende Arbeitsentgelt jeweils nach Ablauf eines Jahres um den Anpassungsfaktor der Rentenversicherung erhöht. Allerdings kann nach dieser Vorschrift eine Anpassung nur an die während der Arbeitslosigkeit (Teilnahme an einer Bildungsmaßnahme, §§ 44 Abs 7, 112a AFG) erfolgte Lohnentwicklung geschehen. Doch ist ein Lohnausgleich nicht nur in diesem Fall gerechtfertigt, sondern auch, wie das LSG zu Recht ausgeführt hat, in Fällen, in denen ein Arbeitsloser schon vor Eintritt der Arbeitslosigkeit nicht mehr an Lohnsteigerungen teilhat, und zwar nur deshalb, weil er zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit kurzfristig eine berufsfremde und erheblich unterbezahlte Beschäftigung angenommen hat. Indem das Gesetz in Abs 7 von § 112 AFG auf das erzielbare Arbeitsentgelt abstellt, erreicht es eine Anpassung an das Bemessungsniveau, das der Arbeitslose ohne die arbeitsmarktbedingten Schwierigkeiten in seinem Beruf erreicht hätte, und trägt auf diese Weise der ständigen Lohnentwicklung Rechnung (vgl Schönefelder-Kranz-Wanka, § 112 RdNr 28). Verfolgt aber das Gesetz auch diesen Zweck der Anpassung an veränderte Einkommen, so ist ein Widerspruch zwischen Wortlaut und Zweck der Regelung des Härteausgleichs in keiner Hinsicht ersichtlich.

Eine restriktive Auslegung mittels einer teleologischen Reduktion muß daher ausscheiden.

Zu einer anderen Beurteilung der Rechtslage vermag entgegen der Meinung der Beklagten auch nicht das Versicherungsprinzip zu führen, wonach eine Relation zwischen Beitrag und Versicherungsleistung besteht. Dieses Prinzip kann zwar die Auslegung einer Bestimmung des AFG erleichtern; ist jedoch nach allen in Betracht kommenden Auslegungskriterien ein Gesetz eindeutig in einer bestimmten Weise zu verstehen, so vermag die Berufung auf das Versicherungsprinzip hieran nichts zu ändern. Das ergibt sich jedenfalls für den Bereich der Arbeitslosenversicherung daraus, daß das Versicherungsprinzip in diesem Gebiet nicht streng durchgeführt ist. Mit den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung werden die verschiedensten Maßnahmen (Arbeits-, Berufsund Wirtschaftsförderung) finanziert. Die Höhe der Gesamtbeiträge ist von Gesetzes wegen festgelegt (§ 174 AFG), hängt somit nicht von der Höhe der Gesamtausgaben ab. Reichen die Beträge zur Deckung des Finanzbedarfs nicht aus, zahlt der Bund die erforderlichen Zuschüsse (§ 187 AFG). Ist es aber nicht möglich, den Beitrag des einzelnen Arbeitnehmers versicherungsmathematischen Grundsätzen entsprechend in unmittelbare Beziehung zur Versicherungsleistung Arbeitslosengeld zu sehen, so kann der Gesetzgeber mangels einer von ihm “selbst statuierten Sachgesetzlichkeit” (BVerfGE 34, 103, 115 mwN) ohne Verstoß gegen Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) die Bemessungsgrundlagen für das Alg abweichend regeln, er braucht diese nicht durchgehend und ohne Ausnahme an den Bemessungsgrundlagen der Beiträge auszurichten (vgl Schwerdtfeger, SGb 1975, 349, 353), sofern irgendein sachlicher Grund für die Regelung besteht. Wie bereits ausgeführt, bestehen für § 112 Abs 7 AFG, der einen Härteausgleich und die Berücksichtigung der Lohnentwicklung bezweckt, sachliche Gründe.

Selbst eine einschränkende Auslegung, wie sie die Beklagte befürwortet, entspricht keineswegs versicherungsmathematischen Grundsätzen, da die Höhe der Leistung nicht an die Höhe der zuletzt entrichteten Beiträge anknüpft. Dies liegt – die zwangsläufige Folge einer jeden Härteregelung – in der Natur der Sache. Die Auffassung der Beklagten hätte zur Konsequenz, daß sämtliche Leistungen der BA im Rahmen der Arbeitslosenversicherung, die sich nicht an tatsächlich geleistete Beiträge ausrichten (vgl §§ 44 Abs 3, 112 Abs 5 AFG), als systemfremd qualifiziert werden müßten. Im übrigen führt eine am Wortlaut sich orientierende Auslegung der Vorschrift nicht in jedem Falle zu einer von der Beklagten befürchteten “Überkompensation” des Betroffenen; das für ihn in Betracht kommende Arbeitsentgelt kann durchaus niedriger sein als das von ihm in seinem Beruf erzielte Durchschnittseinkommen.

Eine restriktive Anwendung des § 112 Abs 7 AFG führte zudem zu nicht gerechtfertigten Wertungswidersprüchen. Gemäß § 112 Abs 5 Nr 3 AFG ist bei der Feststellung des Arbeitsentgelts für die Zeit einer Beschäftigung im Ausland, die nach § 107 Satz 1 Nr 3 und 4 und Satz 2 AFG einer die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung gleichsteht, das Arbeitsentgelt nach Abs 7 zugrunde zu legen. Es kommt folglich auf das Entgelt an, das der Arbeitslose bei einer Beschäftigung im Inland zukünftig normalerweise erzielen könnte, während das Gesetz die Höhe des früher vom Arbeitslosen erzielten Arbeitsentgelts gänzlich außer Betracht läßt, eine irgendwie geartete Begrenzung nicht vorsieht. Ebenso verhält es sich nach den Ziffern 2, 4 und 5 von § 112 Abs 5 AFG. Daraus ist nicht nur zu schließen, daß das Gesetz auch im Rahmen des Abs 7 eine Berücksichtigung früheren Arbeitsentgelts, die über den Tatbestand hinausgeht, nicht beabsichtigt, andernfalls der Gesetzgeber dies ausdrücklich normiert hätte. Es wäre darüber hinaus auch nicht verständlich, aus welchem Grunde für Arbeitslose bei gleicher beruflicher Qualifikation eine unterschiedliche Bemessung nach Abs 7 vorgenommen würde, je nachdem, ob es sich um einen Fall nach Abs 5 oder um eine “unbillige Härte” nach Abs 7 handelt (vgl Schönefelder-Kranz-Wanka § 112 RdNr. 28).

Das Uhg bemißt sich gemäß § 44 Abs 3 Nr 2 AFG nach dem erzielbaren Einkommen, nämlich wie in einem Fall des § 112 Abs 7 AFG, wenn der Teilnehmer kein Arbeitsentgelt nach Abs 2 Satz 2 und 3 erzielt hat. Es wäre nicht einzusehen, warum dieser Arbeitsuchende bei gleicher beruflicher Qualifikation besserstehen sollte als ein anderer, der ein Arbeitsentgelt erzielt hat, dessen Berücksichtigung jedoch unbillig hart im Sinne des § 44 Abs 3 Nr 3 AFG wäre.

Aus diesen Gründen ist die Auslegung des § 112 Abs 7 AFG durch das Berufungsgericht nicht zu beanstanden.

Nach dieser Vorschrift ist somit allein auszugehen vom erzielbaren Arbeitsentgelt, dh in erster Linie vom tariflichen Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung, für die der Arbeitslose in Betracht kommt.

Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger nach seiner Leistungsfähigkeit, seiner Ausbildung und seinen Berufserfahrungen in die Gruppe T 5 des Tarifvertrages, nach der er ja auch während seiner Tätigkeit von Juli 1973 bis Juni 1974 tatsächlich entlohnt worden ist, einzuordnen sei. Dem Kläger, da er das 7. Berufsjahr überschritten habe, stünde das höchste Tarifgehalt dieser Gruppe – zum Zeitpunkt des Beginns der Arbeitslosigkeit 2.658,-- DM monatlich – zu.

Allerdings meint die Beklagte, es sei nicht ersichtlich, weshalb das LSG den Kläger in die Tarifgruppe T 5 eingestuft habe. Der Hinweis auf die letzte ebenfalls nach T 5 entlohnte Beschäftigung im Beruf könne die Eingruppierung nicht rechtfertigen. Darin könnte allenfalls eine die Bindung des Revisionsgerichts (§ 163 SGG) ausschließende Verfahrensrüge erblickt werden, falls die Beklagte mit ihrem Vorbringen eine Verletzung des § 103 SGG rügen will. Jedoch hat sie – ganz abgesehen davon, daß für eine wirksame Rüge die Frist – und Formvorschrift des § 164 SGG nicht beachtet ist – eine Verletzung der Aufklärungspflicht des Gerichts substantiiert nicht dargetan. Die Beklagte verkennt, daß das LSG die tarifliche Eingruppierung des Klägers nicht auf dessen frühere Entlohnung gestützt hat, sondern, so wie es § 112 Abs 7 AFG vorschreibt, auf seine Leistungsfähigkeit sowie seine Ausbildung und Berufserfahrung; eine früher, in welcher Höhe auch immer, erfolgte Entlohnung des Arbeitslosen ist demgegenüber entgegen der Auffassung der Revision für seine Eingruppierung in eine Tarifgruppe nicht entscheidend. Das schließt selbstverständlich die Möglichkeit nicht aus – und davon hat das LSG Gebrauch gemacht – die frühere Entlohnung des Klägers als Indiz für die Richtigkeit der anhand der genannten Kriterien gewonnenen Auffassung zu verwerten. Da die Rüge der Beklagten nicht durchgreift, ist der Senat als Revisionsgericht gemäß § 163 SGG an die getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts gebunden.

Nach alledem hat das LSG die angefochtenen Bescheide zu Recht abgeändert und die Beklagte verurteilt, die Leistungen nach einem monatlichen Tarifgehalt von 2.658,-- DM (Tarifgruppe T 5) zu berechnen. Die Revision ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 49

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