Leitsatz (redaktionell)

Es gehört zur allgemeinen Fürsorgepflicht einer im Bereich der staatlichen Daseinsvorsorge tätigen Behörde, irrtümlich an sie gelangte Rechtsmittelschriften der von ihr betreuten Personen so rasch wie möglich an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Ein Zeitraum von 17 Tagen zwischen Ein- und Ausgang ist zu lang. Der Kläger braucht mit einer solchen außergewöhnlichen verzögerten Behandlung seiner Berufung durch die Verwaltungsbehörde nicht zu rechnen.

 

Normenkette

SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 27. Januar 1971 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

I.

Die 1908 geborene Klägerin begehrt Versorgung wegen Splitterverletzungen ... am Kopf und am rechten Bein. Ihren Antrag vom 17. Juli 1962 wies das Versorgungsamt (VersorgA) U im Bescheid vom 3. Juli 1967 ab, weil nicht wahrscheinlich sei, daß die Klägerin Verletzungen durch eine Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes erlitten habe. Der Widerspruch hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28. Dezember 1967); ihre Klage wurde durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Ulm vom 22. April 1969 abgewiesen.

Das mit Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des SG wurde der Klägerin durch eingeschriebenen Brief zugestellt; der Einlieferungsschein trägt das Datum des 30. April 1969. Am 20. Mai 1969 ging beim Landesversorgungsamt (LVersorgA) Baden-Württemberg ein an diese Behörde gerichtetes Schreiben der Klägerin vom 19. Mai 1969 ein, in welchem sie erklärte, daß sie gegen das SG-Urteil Berufung einlege. Das LVersorgA übersandte diesen Eingang mit Schreiben vom 6. Juni 1969 an das Landessozialgericht (LSG), wo es am 9. Juni 1969 eintraf.

Das LSG verwarf die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 27. Januar 1971 als unzulässig, weil die Berufungsschrift erst nach Ablauf der Berufungsfrist beim LSG eingegangen war. Die Klägerin habe die Fristversäumung auch zu vertreten. Sie habe nämlich die Berufung entgegen der zutreffenden Rechtsmittelbelehrung fälschlich an das LVersorgA gerichtet, wodurch die Verspätung verursacht worden sei. Die Klägerin könne aus der Verzögerung in der Weitergabe der Berufung durch das LVersorgA an das Gericht um siebzehn Tage nichts herleiten; denn nach einer innerdienstlichen Anordnung des LVersorgA seien in solchen Fällen zunächst die Akten des VersorgA beizuziehen, um den Sachstand festzustellen. Das LVersorgA treffe somit keine Schuld. Die Klägerin könne sich schließlich auch nicht darauf berufen, daß sie trotz des Umweges über das LVersorgA nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge mit dem rechtzeitigen Eingang des Rechtsmittelschreibens beim Berufungsgericht habe rechnen dürfen.

Das Urteil des LSG wurde der Klägerin am 28. Februar 1971 zugestellt. Am 3. März 1971 ging ihr Antrag auf Bewilligung des Armenrechts beim Bundessozialgericht (BSG) ein. Mit Beschluß vom 28. Mai 1971 gab der Senat dem Antrag statt und ordnete den jetzigen Prozeßbevollmächtigten der Klägerin bei. Der Beschluß vom 28. Mai 1971 wurde diesem am 4. Juni 1971 zugestellt.

Mit Schriftsatz vom 22. Juni 1971, beim BSG eingegangen am 24. Juni 1971, legte die Klägerin durch ihren Prozeßbevollmächtigten Revision ein und begründete diese gleichzeitig. Sie rügt die Verletzung der §§ 151, 67 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch das LSG. Es fehle hier am ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verschulden der Klägerin und der eingetretenen Fristversäumnis. Gemäß § 91 Abs. 2 SGG hätte das LVersorgA die Berufung unverzüglich weitergeben müssen. Diese Pflicht ergebe sich auch aus der allgemeinen Fürsorgepflicht des Versicherungsträgers gegenüber seinen Versicherten. Die Klägerin habe nicht mit dem eingetretenen Zeitverlust zu rechnen brauchen. Er könne daher der Klägerin auch nicht angelastet werden. Das LSG habe daher die Berufung der Klägerin zu Unrecht als unzulässig verworfen. Es habe der Klägerin nach § 67 SGG wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen.

Die Klägerin beantragt,

1.

ihr wegen der Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren,

2.

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Ulm vom 22. April 1969 der Klage stattzugeben, hilfsweise die Sache zur erneuten Verhandlung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte tritt dem Hilfsantrag der Klägerin nicht entgegen.

II.

Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung, weil die Beteiligten damit einverstanden sind (§§ 124 Abs. 2, 165, 153 Abs. 1 SGG).

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Die Revisionsfrist ist zwar schon am 29. März 1971 abgelaufen. Wegen der Versäumung dieser Frist war der Klägerin jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil sie mit Rücksicht auf ihre Armut ohne ihr Verschulden gehindert war, die Revisionsfrist einzuhalten (§ 67 Abs. 1 SGG) und sie binnen eines Monats nach Zustellung des Armenrechtsbewilligungsbeschlusses, also nach Wegfall jenes Hindernisses, die versäumte Rechtshandlung in der vorgeschriebenen Form nachgeholt hat (§ 67 Abs. 2 SGG).

Die Revision ist auch statthaft. Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen hat, ist sie nur statthaft, wenn ua. ein wesentlicher Mangel im Verfahren des LSG gerügt wird und vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; vgl. BSG 1, 150). Das ist hier der Fall. Das LSG hätte nämlich, worauf die Klägerin in ihrem Revisionsvorbringen ausreichend deutlich (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG) hinweist, die Berufung nicht als verspätet, sondern auf dem Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 SGG als rechtzeitig eingelegt ansehen und demzufolge in der Sache selbst entscheiden müssen. Das bedeutet, daß das Verfahren des LSG an einem von der Klägerin gerügten wesentlichen Mangel leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG); denn als ein solcher ist es anzusehen, wenn das Gericht zu Unrecht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert (vgl. BSG 1, 227, 230; SozR Nr. 9 zu § 67 SGG) und demzufolge anstelle eines erforderlichen Sachurteils ein Prozeßurteil fällt (vgl. SozR Nrn. 17, 21, 163, 165 zu § 162 SGG; BSG 1 283).

Es ist zwar richtig, daß die Klägerin die Schuld an der fälschlichen Übersendung ihrer Berufung an das LVersorgA trifft. Sie war durch die zutreffende Rechtsmittelbelehrung des SG hinreichend darüber aufgeklärt, an welche Adresse sie die Rechtsmittelschrift zu richten hatte. Indes beruht der verspätete Eingang der Berufung beim LSG jedenfalls überwiegend auf Umständen, die nicht mehr im Einflußbereich der Klägerin lagen und mit denen sie auch nicht zu rechnen brauchte (vgl. BSG 1, 227, 232; SozR Nrn. 17 und 36 zu § 67 SGG). Der verspätete Eingang ist nämlich darauf zurückzuführen, daß das LVersorgA die Berufung nicht unverzüglich oder wenigstens im Rahmen eines normalen Weiterleitungsverfahrens an das LSG sandte, sondern erst nach siebzehn Tagen. Zwar berief sich das LVersorgA im Berufungsverfahren auf eine innerdienstliche Anordnung, nach der in solchen Fällen zunächst die Akten des VersorgA beizuziehen seien. Damit kann es aber nicht gehört werden. Aus dem Schreiben der Klägerin vom 19. Mai 1969 geht eindeutig hervor, daß sie ein Rechtsmittel gegen ein SG-Urteil einlegen will. Sie bezeichnet das betreffende Gericht, gibt das Urteilsdatum an und gebraucht ausdrücklich die Formulierung "Ich lege gegen die Abweisung meiner Klage ... Berufung ein". Damit war auch ohne Einsicht in die Versorgungsakten klar, daß es sich hier um ein justizförmliches Rechtsmittel im Rahmen eines Gerichtsverfahrens handeln muß und nicht etwa nur um eine Beschwerde gegen eine Verwaltungsentscheidung. Infolgedessen blieb für eine Anwendung der genannten innerdienstlichen Anordnung - ihre allgemeine Bedeutung dahingestellt - jedenfalls hier kein Raum mehr.

Wie bereits der 2. Senat des BSG im Urteil vom 28. August 1968 - 2 RU 268/66 - (SozR Nr. 41 zu § 67 SGG) entschieden hat, gehört es schon zur allgemeinen Fürsorgepflicht einer im Bereich der staatlichen Daseinsvorsorge tätigen Behörde, irrtümlich an sie gelangte Rechtsmittelschriften der von ihr betreuten Personen so rasch als möglich an das zuständige Gericht weiterzuleiten. Auf der Grundlage dieser Überlegungen ist ein Zeitraum von siebzehn Tagen zwischen Ein- und Ausgang zu lang. Das LVersorgA hätte, wie schon das LSG festgestellt hat, dreizehn Tage lang Zeit gehabt, das zu ihm gelangte Schriftstück zu prüfen und so rechtzeitig weiterzugeben, daß es noch vor Ablauf der Berufungsfrist beim LSG einging. Dafür, daß das LVersorgA diese geraume Zeit nicht ausnutzte, kann der Klägerin kein Vorwurf gemacht werden. Sie brauchte mit einer solchen außergewöhnlich verzögerten Behandlung ihrer Berufung durch das LVersorgA nicht zu rechnen. Für die Verspätung der Berufung war nach "vernünftiger Beachtung des Sachverhalts" die von der Klägerin zu vertretende falsche Adresse von wesentlich geringerer Bedeutung und Tragweite als die unangemessene Verzögerung in der Weitergabe der Berufung durch das LVersorgA. Weder nach dem Wortlaut noch nach dem Sinn des § 67 Abs. 1 SGG braucht die Klägerin hierfür aber einzustehen. Nach § 67 SGG muß der Prozeßbeteiligte nicht für alle Folgen eines ihm zunächst anzulastenden fehlerhaften Verhaltens einstehen. Auch wenn er das erste Glied einer Ursachenkette zu vertreten hat, können ihm die weiteren Teile des Geschehensablaufs, auf die er keinen Einfluß hat, nur zugerechnet werden, wenn deren Eintritt und Folgen voraussehbar waren oder mit ihnen nach Lage des Einzelfalles vernünftigerweise gerechnet werden mußte. Davon kann aber hinsichtlich der verzögerten Weitergabe der Berufung im Falle der Klägerin keine Rede sein (Urteil des BSG vom 28. August 1968, aaO).

Das LSG hätte daher der Klägerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - auch ohne Antrag - gewähren müssen, denn die Klägerin hat mit dem Zugang der Berufung beim LSG am 9. Juni 1969 die versäumte Rechtshandlung rechtzeitig im Sinne von § 67 Abs. 2 SGG nachgeholt. Dabei spielt es keine Rolle, daß diese Nachholungshandlung schon vor Beginn der Monatsfrist des § 67 Abs. 2 SGG stattgefunden hat (vgl. SozR Nrn. 9 und 17 zu § 67 SGG). Einer Sachentscheidung des LSG wäre jedenfalls damit kein Verfahrenshindernis mehr im Wege gestanden.

Die somit nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthafte Revision erweist sich somit im Sinne des Hilfsantrags als begründet; denn die Prozeßentscheidung des LSG kann keinen Bestand haben. Da das LSG mit Rücksicht auf seine Rechtsauffassung über die Zulässigkeit der Berufung nicht im erforderlichen Umfang die für eine Sachentscheidung nötigen tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, konnte der Senat nicht endgültig entscheiden, sondern mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Das LSG wird auch über die Kosten dieses Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670025

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