Leitsatz (redaktionell)

Die Praktikantenzeit eines Maschineningenieurs gilt nicht als Hochschulausbildung.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; AVG § 36 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. November 1962 und des Sozialgerichts Kassel vom 19. April 1961 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger bezieht von der Beklagten seit 1958 das Altersruhegeld aus der Rentenversicherung der Angestellten. Der Rechtsstreit wird um die Höhe der Rente geführt. Es geht um die Frage, ob die Zeit der praktischen Ausbildung (Praktikum) vom 1. September 1911 bis 31. August 1912, die dem Studium des Klägers als Maschineningenieur an der Technischen Hochschule in Stuttgart vorausgegangen und notwendige Voraussetzung für die Zulassung des Klägers zu diesem Studium war, als Ausfallzeit zu berücksichtigen ist (§ 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - Die Beklagte hat bei der Rentenfeststellung zwar die Zeit des Hochschulstudiums des Klägers (von Oktober 1912 an), nicht dagegen auch die Praktikantenzeit als Ausfallzeit angerechnet, diese Zeit hat sie nicht als "Zeit der Hochschulausbildung" im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG angesehen (Bescheide vom 18. Juli 1958 und vom 24. März 1959). Beide Vorinstanzen waren anderer Auffassung; sie beurteilten Praktikum und Studium einheitlich als Hochschulausbildung und verpflichteten demgemäß die Beklagte, die Zeit des Praktikums als Ausfallzeit bei der Berechnung des Altersruhegeldes anzuerkennen (Urteil des Sozialgerichts - SG - Kassel vom 19. April 1961 und Urteil des Hessischen Landessozialgerichts - LSG - vom 29. November 1962).

Das LSG ließ in seinem Urteil die Revision zu. Die Beklagte legte dieses Rechtsmittel ein mit dem Antrag, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügte die unrichtige Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG. Nach ihrer Meinung widersprechen die Entscheidungen der Vorinstanzen sowohl dem Wortlaut als auch dem Sinn und Zweck des Gesetzes.

Der Kläger beantragte, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet. Wie der Senat in einem ähnlich liegenden Streitfall, in dem es sich um ein Praktikum vor der Ausbildung an einer landwirtschaftlichen Hochschule gehandelt hatte, schon entschieden hat (BSG 19, 239), ist ein Praktikum, das vor Beginn des Studiums an einer Hochschule abgeleistet sein muß, kein Teil der nachfolgenden Hochschulausbildung; solche Praktikantenzeiten können daher nicht als Ausfallzeiten im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG angerechnet werden. Der Senat hat dieses Ergebnis aus dem Wortlaut und aus dem Sinn der gesetzlichen Regelung gewonnen. Schon das Wort "Hochschulausbildung" in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG läßt erkennen, daß damit nur die Ausbildungszeiten erfaßt sein sollen, die an den Hochschulen selbst verbracht worden sind und in der der Studierende als solcher bei der Hochschule eingeschrieben (immatrikuliert) gewesen ist (vgl. auch BSG 20, 35). Dazu gehören aber nicht die vor und außerhalb der Hochschulausbildung zurückgelegten Praktikantenzeiten, auch wenn sie eine notwendige Voraussetzung für die Zulassung zu dieser Hochschulausbildung gebildet haben. Für die gegenteilige Meinung kann auch nicht angeführt werden, daß in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG nicht von einem Hochschulbesuch, sondern von Hochschulausbildung gesprochen wird. Enthielte das Gesetz hier den Ausdruck "Hochschulbesuch", so wäre möglicherweise zweifelhaft geworden, ob auch die Zeiten der Hochschulferien (Semesterferien) als Ausfallzeiten anzurechnen wären. Diese Zeiten werden aber von dem Begriff "Hochschulausbildung" in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG umfaßt. Die Beklagte weist auch mit Recht auf die in der gleichen Vorschrift genannte "Schulausbildung" hin, auch dieser Begriff kann nichts anderes bedeuten als die Zeit, in der jemand einer Schule als Schüler angehört. Vom Wortlaut her jedenfalls können in den Begriff "Hochschulausbildung" keine Zeiten einbezogen werden, in denen jemand keiner Hochschule als Studierender angehört hat.

Der Senat hat in seiner früheren Entscheidung den Sinn der sich aus der Wortfassung ergebenden Begrenzung darin erblickt, daß nach dem seit 1957 geltenden Recht Praktikantenzeiten regelmäßig der Versicherungspflicht unterliegen und deshalb eine Notwendigkeit, sie im Gesetz als Ausfallzeiten anzuerkennen, nicht gegeben sei. Wolle man vor dem Inkrafttreten der Neuregelungsgesetze liegende Praktikantenzeiten als Ausfallzeiten anerkennen, so widerspreche dies dem Bestreben der Gesetzgebung nach möglichst eindeutigen Regelungen und müsse zu unterschiedlicher Behandlung der älteren und der jüngeren Versicherten führen. Der Senat hält an dieser Auffassung auch unter Berücksichtigung des klägerischen Vorbringens fest. Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht die Änderung, die § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG durch Art. 1 § 2 Nr. 19 Buchst. d des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) erfahren hat. Nach der neuen Fassung der Vorschrift werden - abweichend vom bisher geltenden Recht (BSG 11, 274) - auch Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden abgeschlossenen nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit unter bestimmten Voraussetzungen als Ausfallzeiten gewertet. Ob unter den Begriff "abgeschlossene Lehrzeit" in diesem Sinne nur Lehrlingszeiten oder auch der Art oder Dauer nach genau vorgeschrieben Praktikantenzeiten fallen, braucht im vorliegenden Rechtsstreit nicht entschieden zu werden. Denn aus der Neuregelung kann der Kläger jedenfalls keine für ihn günstigeren Rechtsfolgen herleiten. Bei ihm ist der Versicherungsfall für das Altersruhegeld im Jahre 1958 eingetreten. In den Übergangsvorschriften des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes ist bestimmt (Art. 5 § 3), daß für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (1. Juli 1965) die bis dahin geltenden Vorschriften maßgebend sind, soweit in den folgenden Vorschriften nichts anderes bestimmt ist. Für Art. 1 § 2 Nr. 19 Buchst. d des Gesetzes ist etwas anderes aber nur bestimmt, soweit es sich um die darin an anderer Stelle geregelte Verlängerung der Frist von 2 auf 5 Jahre handelt, diese Verlängerung soll auch für Versicherungsfälle zwischen dem 1. Januar 1957 und dem 30. Juni 1965 gelten (Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchst. e des Gesetzes). Das Gleiche gilt aber nicht auch für die Bewertung der früheren versicherungsfreien Lehrzeiten als Ausfallzeiten; sie fällt unter die "übrigen Vorschriften" in Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e des Gesetzes, die vom 1. Juli 1965 an in Kraft getreten sind. Unter diesen Umständen braucht also nicht entschieden zu werden, ob die vom Kläger 1911/12 zurückgelegte Praktikantenzeit mit einer abgeschlossenen nicht versicherungspflichtigen oder versicherungsfreien Lehrzeit im Sinne des neugefaßten § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG rechtlich gleichgestellt werden kann.

Die von einer anderen Rechtsauffassung ausgehenden Urteile des Hessischen LSG und des SG müssen aufgehoben und die Klage gegen die Bescheide der Beklagten vom 18. Juli 1958 und 24. März 1959 abgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2189722

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge