Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Streitig ist die Rechtmäßigkeit eines von der Beklagten erlassenen Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses.

Der Kläger war früher Bauunternehmer. Er mußte seinen Betrieb wegen Zahlungsunfähigkeit einstellen; die Eröffnung des Konkursverfahrens wurde am 2. Mai 1975 mangels Masse abgelehnt. Der Kläger arbeitete dann halbtags als Bauingenieur. Er schuldet der Beklagten 51.422,95 DM Gesamtsozialversicherungsbeiträge. Die Beklagte pfändete deshalb durch Beschluß vom 21. Oktober 1976 die ihm vom Versorgungsamt (VA) wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. gewährte Grundrente von damals monatlich 112,-- DM. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil, den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß sowie den Widerspruchsbescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die ab 1. Dezember 1976 eingezogenen Monatsbeträge der Versorgungsrente an den Kläger zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Bei der nach § 54 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) erforderlichen Abwägung der betroffenen Schuldner- und Gläubigerinteressen sei regelmäßig die Zweckbestimmung der zu pfändenden Sozialleistung gegenüber den Interessen des Gläubigers als vorrangig zu beachten. Daraus folge, daß die Grundrente, die wegen ihrer persönlichkeitsbezogenen Natur unabhängig vom Einkommen des Beschädigten gewährt werde und bei der Bemessung anderer Sozialleistungen regelmäßig unberücksichtigt bleibe, grundsätzlich unpfändbar sei. Überwiegende Gläubigerinteressen seien hier nicht ersichtlich.

Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte Verletzung von § 54 Abs. 2 und 3, 51 Abs. 2 und § 52 SGB I. Sie meint, aufgrund eines Vergleichs des § 54 Abs. 2 mit § 51 Abs. 2 sei davon auszugehen, daß laufende Geldleistungen wegen Beitragsansprüchen stets ohne Billigkeitsprüfung bis zur Hälfte gepfändet werden könnten. Zumindest müsse bei der Billigkeitsprüfung die Art des hier beizutreibenden Anspruchs den Ausschlag geben; denn an der Beitreibung rückständiger Gesamtsozialversicherungsbeiträge bestehe ein starkes öffentliches Interesse, das hier durch die Höhe dieser Rückstände noch verstärkt werde. Halte man jedoch die Pfändung der Grundrente in vollem Umfang für unzulässig, dann müsse der Pfändungs- und Überweisungsbeschluß in ein Verrechnungsersuchen an das VA nach § 52 SGB I umgedeutet werden; denn im Wege der Verrechnung wäre der Zugriff auf die Hälfte der Grundrente ohne weiteres möglich gewesen. Die Voraussetzungen für die Umdeutung nach § 47 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) lägen vor. Hilfsweise rechne sie gegen einen eventuell bestehenden Erstattungsanspruch des Klägers mit den Beitragsforderungen auf.

Die Beklagte beantragt,das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Rechtsgrundlage des streitigen Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses ist § 54 SGB I; denn diese Vorschrift ist am 1. Januar 1976 in Kraft getreten (vgl. Art. II § 23 Abs. 1 SGB I); der Pfändungs- und Überweisungsbeschluß datiert vom 21. Oktober 1976. Nach § 54 Abs. 3 Nr. 2 SGB I können Ansprüche auf lauf ende Geldleistungen - die Versorgungsgrundrente des Klägers ist eine solche Geldleistung - wegen Ansprüchen, die gleich den hier in Betracht kommenden Beitragsansprüchen der Beklagten keine gesetzlichen Unterhaltsansprüche sind, wie Arbeitseinkommen nur gepfändet werden, soweit nach den Umständen des Falles, insbesondere nach den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Leistungsberechtigten, der Art des beizutreibenden Anspruchs sowie der Höhe und der Zweckbestimmung der Geldleistung die Pfändung der Billigkeit entspricht und der Leistungsberechtigte dadurch nicht hilfebedürftig i.S. der Vorschriften des Bundessozialhilfegesetzes über die Hilfe zum Lebensunterhalt wird. Damit schreibt das Gesetz eine Billigkeitsprüfung vor. Ihm läßt sich entgegen der Auffassung des LSG jedoch nicht entnehmen, daß bei dieser Prüfung regelmäßig die Zweckbestimmung der zu pfändenden Sozialleistung gegenüber den Interessen des Gläubigers als vorrangig zu beachten sei; denn die Zweckbestimmung wird ebenso wie die Höhe der Geldleistung neben den Einkommens- und Vermögensverhältnissen des Leistungsberechtigten und neben der Art des beizutreibenden Anspruchs nur beispielhaft ("insbesondere") genannt. Es sind keine Anhaltspunkte dafür gegeben, daß eines dieser vier beispielhaft aufgezählten Kriterien bei der Billigkeitsprüfung den anderen gegenüber vorrangig zu berücksichtigen ist. In die Billigkeitsprüfung sind deshalb sämtliche Umstände des Falles gleichrangig einzubeziehen; bei dieser Prüfung sind die im konkreten Fall in Betracht kommenden Gläubiger- und Schuldnerinteressen gegeneinander abzuwägen (vgl. Begründung der Bundesregierung zu § 54 des Entwurfs des SGB I, BT-Drucks. 7/868 S. 32 zu § 54).

Die Abwägung der Gläubiger- und Schuldnerinteressen führt im vorliegenden Fall zur Unpfändbarkeit der Versorgungsgrundrente des Klägers. Diese Rente dient dem Ausgleich immaterieller Schäden und der Abgeltung des Mehraufwands, der dem Beschädigten als Folge der Schädigung in den verschiedensten Lebenslagen erwächst (siehe BSGE 30, 21, 25; 33, 112, 117; BSG, SozR 3100 § 30 BVG Nr. 13; vgl. auch BGH, VersR 1964, 1307, 1308). Der mit der Rentengewährung angestrebte Erfolg würde aber durch die Pfändung der Rente vereitelt werden. Deshalb hat schon die Bundesregierung in der Begründung zu § 54 des Entwurfs des SGB I darauf hingewiesen, daß die Versorgungsgrundrente in aller Regel nicht pfändbar sein werde (vgl. BT-Drucks. 7/868 S. 32 zu § 54). Sie ist jedenfalls dann nicht pfändbar, wenn die nach § 54 SGB I vorzunehmende Billigkeitsprüfung ergibt, daß Gläubigerinteressen, die ihrer Zweckbestimmung gegenüber stärker ins Gewicht fallen, nicht bestehen. Das ist hier der Fall.

Die Beklagte hebt zwar zutreffend hervor, daß an der Beitreibung rückständiger Gesamtsozialversicherungsbeiträge ein starkes öffentliches Interesse besteht; denn die Gemeinschaft aller in der Sozialversicherung zusammengeschlossenen Versicherten muß in einem sozialen Rechtsstaat möglichst vor Schaden bewahrt bleiben. Dieses hier auf der Gläubigerseite in Betracht kommende Interesse an einer Pfändung der Versorgungsgrundrente des Klägers tritt gegenüber deren Zweckbestimmung jedoch zurück, weil der der Solidargemeinschaft aller Versicherten durch die Nichtbeitreibbarkeit der rückständigen Gesamtsozialversicherungsbeiträge erwachsende materielle Schaden leichter wiegt als die Vereitelung des mit der Versorgungsgrundrente angestrebten Ausgleichs des vom Kläger durch die MdE erlittenen immateriellen Schadens.

Die Auffassung der Beklagten, aufgrund eines Vergleichs des § 54 Abs. 2 mit § 51 Abs. 2 SGB I sei davon auszugehen, daß laufende Geldleistungen wegen Beitragsansprüchen stets ohne Billigkeitsprüfung bis zur Hälfte gepfändet werden könnten, übersieht, daß der die Pfändung betreffende § 54 SGB I die Billigkeitsprüfung ausdrücklich vorschreibt, Beitragsansprüche dagegen nicht erwähnt, eine für solche Ansprüche geltende Ausnahmeregelung also nicht enthält. Auch gilt § 51 SGB I, dessen zweiter Absatz die Beitragsansprüche nennt, lediglich für die Aufrechnung gegen Ansprüche auf Geldleistungen. Pfändung und Aufrechnung haben jedoch unterschiedliche Voraussetzungen; Vorschriften, die für die Aufrechnung gelten, lassen Rückschlüsse auf die Pfändung nicht ohne weiteres zu. Deshalb kann hier offenbleiben, ob nicht auch die in § 51 Abs. 2 SGB I geregelte Aufrechnung mit Beitragsansprüchen gegen Ansprüche auf laufende Geldleistungen eine Billigkeitsprüfung nach § 54 SGB I ebenso voraussetzt, wie das § 51 Abs. 1 SGB I für die Aufrechnung gegen Ansprüche auf Geldleistungen schlechthin vorschreibt.

Eine Umdeutung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses nach § 47 VwVfG in ein Verrechnungsersuchen nach § 52 SGB I kommt entgegen der Auffassung der Beklagten schon deshalb nicht in Betracht, weil das VwVfG und damit auch sein § 47 für den gesamten Bereich des SGB nicht gilt (vgl. § 2 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG). Auch ist die in § 52 SGB I erstmals gesetzlich geregelte Verrechnung von Ansprüchen des einen Sozialleistungsträgers mit den einem anderen Sozialleistungsträger obliegenden Geldleistungen ein derart einschneidender Eingriff in die Rechtssphäre des Leistungsberechtigten, daß ein nach dieser Vorschrift ergehendes Verrechnungsersuchen schon im Interesse der Rechtsklarheit und der Rechtssicherheit eindeutig auf § 52 SGB I Bezug nehmen und damit seine Rechtsgrundlage klar erkennen lassen muß. Es kann deshalb nicht im Wege der Umdeutung fingiert werden.

Die von der Beklagten hilfsweise erklärte Aufrechnung schließlich greift nicht durch, weil bei der hier gegebenen Unpfändbarkeit der Versorgungsgrundrente ein zur Aufrechnung geeigneter Anspruch des Klägers gegen die Beklagte von vornherein nicht bestanden hat, die für jede Aufrechnung erforderliche Gegenseitigkeit von Ansprüchen also fehlt.

Nach alledem ist das angefochtene Urteil zu Recht ergangen. Die Revision der Beklagten muß deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 217

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