Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 28.08.1987)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. August 1987 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit.

Der Kläger ist 1937 geboren. Er ist jugoslawischer Staatsangehöriger. Er hat keinen Beruf erlernt. In der Bundesrepublik Deutschland war er von Januar 1970 bis November 1982 bei einem Vertrieb für Müllverwertung mit dem Aussortieren von Müll und Pressen von Papierabfällen beschäftigt. Am 3. November 1982 erlitt er einen Arbeitsunfall. Wegen dieses Unfalles wurden ihm der linke Unterschenkel und die Zehen des rechten Fußes amputiert. Die Arbeitsunfähigkeit des Klägers wurde bis zum 31. August 1983 festgestellt. Die Großhandels- und Lagerei-Berufsgenossenschaft gewährte dem Kläger bis August 1983 Verletztengeld. Anschließend erhielt er Verletztenrente, zuletzt auf Dauer nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 vH. Der am 11. Oktober 1983 gestellte Rentenantrag wurde mit Bescheid vom 19. April 1984 und Widerspruchsbescheid vom 10. September 1984 abgelehnt.

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteile vom 29. April 1986 und vom 28. August 1987). Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, der Kläger könne noch vollschichtig leichte Arbeiten fast ausschließlich im Sitzen in trockenen und zugfreien Räumen ohne Tätigkeiten in oder über Kopfhöhe verrichten. Entsprechende Arbeitsplätze könne er von seiner Wohnung aus erreichen. Eine konkrete Berufstätigkeit müsse ihm nicht benannt werden.

Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 1246 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO). Ihm hätte ein konkreter Verweisungsberuf schon wegen seines speziell negativen Leistungsbildes benannt werden müssen. Im übrigen sei das LSG der Sachaufklärungspflicht hinsichtlich seiner Wegefähigkeit nicht nachgekommen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. August 1987, das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 29. April 1986 und den Bescheid vom 19. April 1984 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. September 1984 auf zuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 1. Oktober 1983 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen und daher für den erkennenden Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG steht dem Kläger weder Rente wegen Erwerbsunfähigkeit noch wegen Berufsunfähigkeit zu (§§ 1247, 1246 RVO).

Der Kläger, der keinen Beruf erlernt hat und zuletzt mit dem Aussortieren und Pressen von Müll beschäftigt war, kann auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsfeldes verwiesen werden, die er, gemessen an seinen Kräften und Fähigkeiten, noch verrichten kann. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist es nicht erforderlich, einem Versicherten, der derart breit verweisbar ist, eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen, sofern er in vollen Schichten eingesetzt werden kann (vgl BSG in SozR 2200 § 1246 Nrn 81, 104 und 136). Ausnahmen hiervon gelten dann, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung festgestellt worden ist (vgl BSG aaO Nr 136). Eine Verweisungstätigkeit zu bezeichnen, hat der 4. Senat des BSG im Urteil vom 1. März 1984 (aaO Nr 117) nicht für erforderlich gehalten, wenn beispielsweise der Versicherte nicht im Akkord, im Schichtdienst oder an laufenden Maschinen eingesetzt werden kann, oder wenn Tätigkeiten ausgeschlossen sind, die besondere Anforderungen an das Seh-, Hör- oder Konzentrationsvermögen stellen. Sei der Versicherte nur noch in der Lage, leichte körperliche Arbeiten zu verrichten, so sei es nicht als zusätzliche Einschränkung zu werten, wenn er häufiges Bücken meiden müsse.

Die Gesundheitsstörungen des Klägers erfordern es nicht, eine konkrete Verweisungstätigkeit zu benennen. Das LSG hat zum körperlichen Leistungsvermögen des Klägers unangegriffen festgestellt, er könne noch leichte Arbeiten fast ausschließlich im Sitzen in trockenen und zugfreien Räumen verrichten. Ausgeschlossen sind Arbeiten in Kopfhöhe und darüber sowie Akkord- und Schichtarbeit. Darin hat das LSG zutreffend keine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeschränkungen gesehen. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung hat es in Übereinstimmung mit der oben angeführten Rechtsprechung des BSG – auch unter Berücksichtigung der Amputation des linken Unterschenkels – verneint. Für den Senat besteht im Falle des Klägers keine Veranlassung, über die bisherige Rechtsprechung hinaus hier zu verlangen, daß eine konkrete Verweisungstätigkeit benannt wird. Wenn das erforderlich ist, so dient es dazu, nachprüfbar zu machen, ob es zumutbare Tätigkeiten gibt, ob das verbliebene Leistungsvermögen dafür ausreicht und – sofern Veranlassung dazu besteht – ob dem Versicherten für diese zumutbaren Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist (vgl BSG aaO Nr 105).

Bei denjenigen Versicherten, die auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sind entfällt die Prüfung der Zumutbarkeit. Damit entfällt auch dasjenige Merkmal des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO, das die Zahl möglicher Arbeitsplätze ggf erheblich einschränkt. Besteht bei Versicherten, deren Verweisung nicht durch die Zumutbarkeitsprüfung eingeengt ist, die Gefahr, daß für sie der Arbeitsmarkt gleichwohl verschlossen sein kann, so setzt auch bei ihnen die Verpflichtung ein, die Verweisung durch das Benennen einer Tätigkeit nachprüfbar zu machen. Von den vielfältigen Faktoren, die dafür maßgebend sein können, einem Bewerber einen Arbeitsplatz nicht zu geben, können nur diejenigen im Rahmen der Versichertenrenten wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit über die Verschlossenheit des Arbeitsmarktes von Bedeutung sein, die auf den im Gesetz genannten Kriterien wie Krankheit und dergleichen beruhen. Grundsätzlich ist nicht zu prüfen, ob es Arbeitsplätze in hinreichender Zahl gibt, wenn der Versicherte noch in vollen Schichten tätig sein kann. Die von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Ausnahmen (vgl BSG aaO Nrn 137, 139) treffen auf den Kläger nicht zu.

Dem Kläger kann nicht darin gefolgt werden, ihm müsse Versichertenrente wegen Erwerbs- oder zumindest wegen Berufsunfähigkeit zuerkannt werden, weil er wegen seiner eingeschränkten Gehfähigkeit einen Arbeitsplatz nicht erreichen könne. Die gegenteiligen Feststellungen des LSG sind nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen worden. Das Berufungsgericht hat nicht gegen die Sachaufklärungspflicht des § 103 SGG verstoßen. Es hat seine Feststellungen über die Fähigkeit des Klägers, Wege zu einem Arbeitsplatz zurückzulegen, auf ein orthopädisches Gutachten gestützt, wogegen der Kläger keine Einwendungen schlüssig vorgebracht hat. Der Hinweis auf einen Bescheid der Versorgungsverwaltung, worin eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr angegeben worden ist, reicht nicht aus, einen Verstoß gegen § 103 SGG zu rügen. Da die Versorgungsverwaltung von anderen Voraussetzungen als die gesetzliche Rentenversicherung ausgeht und nach anderen Maßstäben zu beurteilen hat, brauchte das LSG sich nicht gedrängt zu fühlen, hinsichtlich der Gehfähigkeit weiteren Beweis zu erheben.

Das LSG hat Erwägungen darüber angestellt, ob die Rechtsprechung des BSG zur Berufs- und Erwerbsunfähigkeit fortzuentwickeln sei, das aber verneint. Den Sinn und Zweck dieser Renten, durch Krankheit oder Gebrechen ausfallendes Erwerbseinkommen zu ersetzen, hat der Große Senat des BSG im Beschluß vom 10. Dezember 1976 (vgl BSGE 43, 75, 79) wie folgt erläutert:

„Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit kann es daher nicht nur auf die Frage ankommen, ob der Versicherte gesundheitlich noch bestimmte Tätigkeiten verrichten kann; es ist vielmehr auch erheblich, ob solche Tätigkeiten die Möglichkeit bieten, durch ihre Verrichtung Erwerbseinkommen zu erzielen. Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten kann deshalb nicht nach Tätigkeiten beurteilt werden, die ihm kein Erwerbseinkommen verschaffen können. Die ‚Fähigkeit zum Erwerb’ und die Möglichkeit, eine ‚Erwerbstätigkeit ausüben’ zu können, sind nicht gegeben, wenn der Versicherte auf Tätigkeiten verwiesen würde, für die es keine oder nur wenige Arbeitsplätze gibt, der Arbeitsmarkt also praktisch verschlossen ist, so daß der Versicherte nicht da mit rechnen kann, einmal einen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden. Der Große Senat hält deshalb an seiner Auffassung fest, daß es für die Beurteilung, ob ein Versicherter berufs- oder erwerbsunfähig iS der §§ 1246 Abs 2 und 1247 Abs 2 RVO ist, erheblich ist, daß Arbeitsplätze, auf denen tätig zu sein ihm zuzumuten ist und die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, vorhanden sind.”

Die Entscheidung des Großen Senats darüber, wann dem Versicherten, der nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist (aaO §§ 80 ff), kann auf Tätigkeiten, die über die volle Dauer der Arbeitszeit ausgeführt werden können, grundsätzlich nicht angewendet werden. Das hat der erkennende Senat im Urteil vom 27. Mai 1977 (BSGE 44, 39 f) damit begründet, es sei davon auszugehen, daß es grundsätzlich für jede Tätigkeit in hinreichender Zahl jedenfalls dann Arbeitsplätze gebe, wenn diese von Tarifverträgen erfaßt seien. Nur solche Tätigkeiten würden – wovon man ausgehen könne – in Tarifverträge aufgenommen. Anders hingegen lägen die Verhältnisse für Teilzeitarbeitskräfte. Der Senat hat also dann, wenn aufgrund einer allgemeinkundigen Tatsache (vgl dazu BSG in SozR 1500 § 128 Nr 15) feststeht, daß eine bestimmte Berufstätigkeit tarifvertraglich erfaßt ist, Ermittlungen über die Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze grundsätzlich nicht für erforderlich gehalten, aber bereits damals Ausnahmen davon angesprochen.

Den Bedürfnissen einer Massenverwaltung, wie die gesetzliche Rentenversicherung sie darstellt, trägt der Senat durch generalisierende Maßstäbe, die für typische Fallgruppen ein gemeinsames Konzept bilden, Rechnung. Er bietet Versicherungsträgern und Tatsachengerichten realitätsbezogene Orientierungspunkte für die Anforderungen an die Aufklärung des Sachverhalts (so Urteil des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1247 Nr 53 mwN). Ob sich die Verhältnisse in der Arbeitswelt seit der Entscheidung des Senats vom 27. Mai 1977 (aaO) geändert haben, muß – bei entsprechender Veranlassung oder aufgrund entsprechenden Vorbringens – von den Tatsachengerichten geprüft und festgestellt werden. Aus allgemein zugänglichen Quellen ist der Senat zu einer solchen Erkenntnis, soweit sie vom Revisionsgericht verwertet werden kann, bislang noch nicht gekommen.

Das LSG hat zwar ausgeführt, die Arbeitsverwaltung sehe praktisch alle Arbeitsplätze, die für ältere, auch nur geringfügig gesundheitlich beeinträchtigte Arbeiter ohne Berufsausbildung in Betracht kämen, als „Schonarbeitsplätze” an. Da diese Ausführungen jedoch die angefochtene Entscheidung des LSG nicht tragen und in einem obiter dictum enthalten sind, das offenbar der Revisionszulassung diente, sieht der Senat keine Handhabe, daraufhin den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Um eine ordnungsgemäße Tatsachenfeststellung handelt es sich hier nicht; denn es ist nicht ausgeführt worden, welche Schlußfolgerungen aus der nicht näher überprüften Praxis der Arbeitsverwaltung zu ziehen sind und ob diese überhaupt in den tatsächlichen Gegebenheiten begründet ist. Im übrigen stützt das LSG seine Ausführungen über die Praxis „der Arbeitsverwaltung” bezüglich der Behandlung der für ältere, gesundheitlich beeinträchtigte „Ungelernte” noch in Betracht kommenden Arbeitsplätze lediglich auf die Auskünfte des Arbeitsamtes M … vom 16. März 1987 und des Landesarbeitsamtes Baden-Württemberg vom 6. Mai 1987. Abgesehen davon, daß auch nach diesen Auskünften derartige Arbeitsplätze in allerdings seltenen Ausnahmefällen auch durch die Vermittlung des Arbeitsamtes besetzt werden, ist der Inhalt der genannten Auskünfte ausdrücklich auf den jeweiligen räumlichen Zuständigkeitsbereich dieser Ämter beschränkt. Die Praxis in diesem „räumlich eingeschränkten” Bereich ließe ohnehin keine Verallgemeinerung für die Arbeitsmarktverhältnisse des gesamten Bundesgebietes zu, die indes für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Klägers rechtserheblich sind. Insoweit hat das LSG offenbar verkannt, daß die Einschränkung der Verweisbarkeit auf die täglich von der Wohnung aus zu erreichenden Arbeitsplätze nur für Versicherte gilt, die – anders als der Kläger – lediglich noch auf Teilzeitarbeitsplätze verwiesen werden können (vgl BSGE 30, 167, 186 f iVm BSGE 43, 75, 85; SozR 2200 § 1247 Nr 53).

Die Revision des Klägers ist nach alledem zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173994

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