Entscheidungsstichwort (Thema)

Mißglückter Belastungsversuch

 

Leitsatz (amtlich)

Durch den tatsächlichen Bezug von Alg wird ein Versicherungsverhältnis in der KV der Arbeitslosen (AFG § 155 Abs 1) jedenfalls für die Zeit nach Einstellung dieser Leistung nicht begründet, wenn bereits zu Beginn des Leistungsbezuges wegen bestehender AU zu erwarten war, daß dieser Bezug keine wirtschaftlich relevante Dauer haben werde und nach entsprechend kurzer Zeit tatsächlich endet. Insoweit sind die von der Rechtsprechung zum mißglückten Arbeitsversuch entwickelten Grundsätze sinngemäß anzuwenden (Abweichung von BSG 1964-02-13 3 RK 66/59 = BSGE 20, 145).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Einem Versicherten, der wegen Arbeitsunfähigkeit Krankengeld bezogen hat, der zum Zwecke eines Belastungsversuchs arbeitsfähig geschrieben wird, sich deshalb beim Arbeitsamt arbeitslos meldet und für wenige Tage Arbeitslosengeld bezieht, steht jedenfalls dann im Anschluß an die Arbeitslosengeldgewährung Krankengeld in bisheriger Höhe und nicht lediglich in Höhe des Arbeitslosengeldes zu, wenn sich herausstellt, daß er auch während der Zeit seines Arbeitslosengeldbezugs arbeitsunfähig war, der Belastungsversuch also mißglückt ist.

2. Zuständig für die Gewährung des Krankengeldes ist die Kasse, von der er vor der Arbeitslosmeldung das Krankengeld bezogen hat.

 

Normenkette

RVO § 165 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17, Nr. 2 Fassung: 1970-12-21, § 182 Abs. 5 Fassung: 1974-08-07, § 311 Nr. 2 Fassung: 1974-08-07; AFG § 155 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25, § 158 Abs. 1 Fassung: 1969-06-25

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 04.05.1976; Aktenzeichen L 1 Kr 56/75)

SG Kiel (Entscheidung vom 24.06.1975; Aktenzeichen S 6 Kr 14/75)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 4. Mai 1976 und des Sozialgerichts Kiel vom 24. Juni 1975 sowie die Bescheide der Beklagten vom 6. August 1974 und vom 23. Dezember 1974 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 20. Februar 1974 weiterhin Krankengeld in Höhe von 56,28 DM je Arbeitstag für die gesetzliche Dauer zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Höhe des Krankengeldes und die Kassenzuständigkeit.

Der Kläger bezog vom 3. Dezember 1973 an Krankengeld in Höhe von 56,28 DM je Arbeitstag (fünf Tage/Woche) von der beklagten Kasse, bei der er als Arbeiter pflichtversichert war. Zum 1. Januar 1974 endete sein Beschäftigungsverhältnis. In dem vertrauensärztlichen Gutachten vom 15. Februar 1974 ist ausgeführt, es sei ein Belastungsversuch angezeigt, der Kläger sei ab 18. Februar 1974 wieder arbeitsfähig.

An diesem Tag meldete sich der Kläger beim Arbeitsamt (ArbA) Kiel arbeitslos. In seinem schriftlichen Antrag auf Arbeitslosengeld (Alg) vom 20. Februar 1974 überreichte er aber eine ärztliche Bescheinigung, wonach er arbeitsunfähig sei. Das ArbA bewilligte dem Kläger ab 18. Februar 1974 Alg für den 18. und 19. Februar 1974 in Höhe von 27,80 DM. Ab 20. Februar 1974 zahlte die beigeladene - nach § 159 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) zuständige - Kasse dem Kläger bis zum 22. April 1975 Krankengeld in derselben Höhe je Werktag.

Der Kläger beantragte bei der Beklagten die Gewährung von Krankengeld in bisheriger Höhe (56,28 DM) über den 17. Februar 1974 hinaus und verwies auf eine ärztliche Bescheinigung, wonach er auch am 18. und 19. Februar 1974 arbeitsunfähig gewesen sei. Diesen Antrag lehnte die Beklagte durch die angefochtenen Bescheide ab. Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers ist die Beigeladene verurteilt worden, diesem Krankengeld für den 18. und 19. Februar 1974 in Höhe von 27,80 DM zu zahlen. Im übrigen hatte die Berufung keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat sich auf den Standpunkt gestellt, aus § 155 AFG folge zunächst, daß schon der tatsächliche Bezug von Alg einen Zuständigkeitswechsel von der Beklagten - Beschäftigungsversicherung - zur Beigeladenen - Krankenversicherung der Arbeitslosen (KVdA) - bewirke. Darüber hinaus ergebe sich aus dieser Vorschrift, daß sich an der KVdA nichts ändere, wenn sich nachträglich herausstelle, daß Alg zu Unrecht bezogen worden sei. Es sei zwar nachgewiesen, daß der Kläger auch an den beiden streitigen Tagen arbeitsunfähig krank gewesen sei. Das ändere aber nichts daran, daß die Voraussetzungen des § 155 AFG erfüllt gewesen seien.

Gegen dieses Urteil richtet sich die zugelassene Revision des Klägers.

Der Kläger rügt die Verletzung des § 311 der Reichsversicherungsordnung (RVO), der §§ 155 und 159 AFG sowie Art. 3, 14 und 20 des Grundgesetzes. § 155 AFG sei eine Schutzvorschrift zugunsten der Arbeitslosen. Die rechtsgrundlose Zahlung von Alg könne nicht zur Einstellung der bis zu diesem Zeitpunkt erfolgten Krankengeldzahlung führen, wenn weiterhin Arbeitsunfähigkeit bestanden habe. Es könne somit auch kein Zuständigkeitswechsel eintreten. Aber selbst wenn man diesen Zuständigkeitswechsel bejahen wolle, müsse im Wege der Besitzstandswahrung Krankengeld in der bisherigen Höhe gezahlt werden. Wolle man § 155 AFG zu Lasten des Versicherten auslegen, so verstoße dies gegen die genannten verfassungsrechtlichen Grundregeln.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide und Urteile die Beklagte, hilfsweise die Beigeladene, zu verurteilen, ihm ab 20. Februar 1974 Krankengeld in bisheriger Höhe von 56,28 DM je Arbeitstag für die gesetzliche Dauer zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

Die Beigeladene stellt den Antrag,

die Revision insoweit zurückzuweisen, als sie verurteilt werden soll, das geforderte Krankengeld, soweit es 27,80 DM übersteigt, zu zahlen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet; die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger ab 20. Februar 1974 weiterhin Krankengeld in Höhe von 56,28 DM zu zahlen.

Der Anspruch des Klägers gegen die Beklagte auf Gewährung von Krankengeld in Höhe von arbeitstäglich 56,28 DM ist ab 20. Februar 1974 nicht dadurch berührt worden, daß der Kläger für die zwei Tage vorher Alg bezogen hat; insbesondere hatte die kurze Dauer des Alg-Bezuges nicht zur Folge, daß dem Kläger das Krankengeld für die - allein noch im Streit stehende - anschließende Zeit seiner fortbestehenden Arbeitsunfähigkeit nur noch in Höhe des Alg von 27,80 DM (§ 158 Abs 1 AFG) zustand.

Die Leistungspflicht der Beklagten wird auch nicht durch § 155 AFG ausgeschlossen. Nach § 155 Abs 1 AFG ist für den Fall der Krankheit versichert, wer Alg, Arbeitslosenhilfe oder Unterhaltsgeld bezieht. Aus dieser Vorschrift hat das LSG zunächst zwar zutreffend entnommen, für das Pflichtversicherungsverhältnis der Arbeitslosen sei nur der tatsächliche Bezug der in ihr genannten Leistungen maßgebend. Ob die Voraussetzungen für diesen Leistungsbezug vorgelegen haben, sei ohne Bedeutung. Auch der erkennende Senat hat in seinem Urteil vom 13. Februar 1964 (3 RK 66/59 = BSGE 20, 145, 147) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes (RVA GE Nr 4584 in AN 1933, 185) bereits ausgesprochen, die Mitgliedschaft in der KVdA werde selbst dann begründet, wenn Hauptunterstützung gezahlt worden sei, ohne daß, wie sich später ergeben habe, dem Arbeitslosen ein Anspruch darauf zugestanden habe. An dieser zu den §§ 107, 108 AVAVG ergangenen Rechtsprechung ist in Übereinstimmung mit der Literatur (vgl ua Schönefelder/Kranz/Wanka, AFG-Komm., 2. Lieferung, August 1973, Rdnr 14 zu § 155; Töns, "Das Arbeitsförderungsgesetz und die Krankenversicherung" in DOK 1969, 301 ff, 314) auch für die Zeit seit Inkrafttreten des AFG festzuhalten. Diese Auffassung wird insbesondere durch § 155 Abs 2 Satz 3 AFG gestützt, wonach das durch den Bezug von Alg, Arbeitslosenhilfe oder Unterhaltsgeld begründete Versicherungsverhältnis nicht berührt wird, wenn die Entscheidung, die zu einem Leistungsbezug geführt hat, rückwirkend aufgehoben oder die Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist.

Indes bedarf die Vorschrift im vorliegenden Fall keiner weiteren Erörterung, einmal weil die Entscheidung des ArbAes hinsichtlich der Gewährung von Alg für den 18. und 19. Februar 1974 nicht rückwirkend aufgehoben, auch keine Leistung zurückgefordert oder zurückgezahlt worden ist, und zum anderen, weil der Kläger sein Begehren auf Zahlung eines höheren Krankengeldes auf die Zeit ab 20. Februar 1974 beschränkt hat.

Ist somit davon auszugehen, daß der Kläger zwar für die Tage 18. und 19. Februar 1974 gemäß § 155 Abs 1 AFG bei der Beigeladenen versichert gewesen ist, so folgt daraus noch nicht, daß sein Versicherungsverhältnis ab 20. Februar 1974 bei diesem Versicherungsträger weiterbestanden hat und nach der Regelung in § 158 AFG zu beurteilen ist.

Diese von der Regel abweichende Folgerung ergibt sich aus mehreren Erwägungen. Einmal lassen sich auf den vorliegenden Sachverhalt die Grundgedanken sinngemäß anwenden, die im Zusammenhang mit dem mißglückten Arbeitsversuch aufgestellt worden sind. Ein mißglückter Arbeitsversuch liegt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl Urteile vom 28. April 1967 - 3 RK 42/65 -, vom 16. Oktober 1968 - 3 RK 8/65 -, vom 10. November 1970 - 3 RK 94/67 - = SozR Nrn 53, 61 und 63 zu § 165 RVO; vom 22. Februar 1974 - 3 RK 30/73 - = SozR 2200 § 165 Nr 2 sowie die dort zitierte weitere Rechtsprechung) vor, wenn bereits bei Arbeitsaufnahme die Erwartung besteht, daß der Beschäftigte infolge seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung zu der übernommenen Arbeit nicht fähig sein werde und die Beschäftigung tatsächlich beendet wird, bevor es zu einer Arbeitsleistung von wirtschaftlichem Wert gekommen ist. Eine wirtschaftlich ins Gewicht fallende Zeit ist nach der erwähnten Rechtsprechung jedenfalls dann nicht anzunehmen, wenn die Tätigkeit schon nach zwei Tagen wegen einer beim Beginn der Beschäftigung bereits bestehenden Krankheit wieder aufgegeben wird.

Nun hat allerdings der Senat mit Urteil vom 13. Februar 1964 (BSGE 20, 145 ff) entschieden, für die während des Bezuges von Hauptunterstützung notwendig werdende Krankenhauspflege bleibe die Krankenversicherung der Arbeitslosen selbst dann zuständig, wenn dem Versicherten die Hauptunterstützung wegen bereits anfänglich bestehender Arbeitsunfähigkeit nur kurzfristig und offensichtlich zu Unrecht gewährt worden sei. Die Anwendung der in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über den mißglückten Arbeitsversuch auf die ganz anders gelagerten Fälle einer durch das Arbeitsamt zu Unrecht gewährten Unterstützung sei nicht gerechtfertigt (vgl BSGE aaO, S 147). Diese ohne nähere Begründung vertretene Auffassung hält der Senat jedoch nicht mehr aufrecht.

Für eine sinngemäße Anwendung der die Rechtsfigur des mißglückten Arbeitsversuchs betreffenden Grundgedanken spricht zwingend, daß bei Arbeitsunfähigkeit sowohl im Falle der Beschäftigung gegen Entgelt im Sinne von § 165 Abs 2 RVO als auch bei dem Bezug von AFG-Leistungen im Sinne von § 155 Abs 1 AFG von vornherein feststeht, daß die Voraussetzungen für die Versicherungspflicht nicht für eine wirtschaftlich relevante Dauer vorliegen werden. Wenn diese Tatsache in Fällen der Beschäftigung gegen Entgelt zu der Annahme eines mißglückten Arbeitsversuchs führt, obwohl § 165 Abs 2 RVO ebenso wie § 155 Abs 1 AFG für die Entstehung der Versicherungspflicht allein auf die äußerlichen Merkmale abstellt, so besteht kein sachlicher Grund, dies nicht auch für Fälle des faktischen Bezuges von AFG-Leistungen anzunehmen. Es ist vielmehr sachgerecht und entspricht der Interessenlage, den Arbeitsunfähigen, der sich trotz seiner Erkrankung beim Arbeitsamt arbeitsuchend meldet, hinsichtlich der Krankenversicherung ebenso zu behandeln wie denjenigen, der einen mißglückten Arbeitsversuch unternimmt.

Für die vom Senat vertretene Auffassung spricht zum anderen die Grundentscheidung des Gesetzgebers in § 182 Abs 5 RVO. Sie läßt erkennen, daß alle die Lohnhöhe beeinflussenden Zufälligkeiten außer Betracht bleiben sollen. Nur solche Änderungen dürfen berücksichtigt werden, in denen ein gewisser Dauerzustand zum Ausdruck kommt (vgl Urteil des Senats vom 22. Juni 1973 - 3 RK 90/71 in SozR Nr 59 zu § 182 RVO).

Im vorliegenden Fall wurde dem Kläger lediglich für den 18. und 19. Februar 1974 Alg gewährt. Wie sich nachträglich herausstellte, war er aber auch an diesen beiden Tagen und für die Folgezeit auf Dauer arbeitsunfähig krank. Hinzu kommt, daß nach dem vertrauensärztlichen Gutachten vom 15. Februar 1974 lediglich ein Belastungsversuch angezeigt war. Unter Berücksichtigung der dargelegten Grundsätze ergibt sich, daß die tatsächliche Gewährung von Alg für zwei Tage jedenfalls nicht dazu führte, daß dem Kläger ab 20. Februar 1974 nur noch Krankengeld in Höhe des Alg (§ 158 Abs 1 Satz 1 AFG) zu zahlen war. Leistungspflichtig für die Weitergewährung des Krankengeldes war von dem genannten Datum an die Beklagte, ihr Mitglied blieb der Kläger gemäß § 311 Satz 1 Nr 2 RVO (vgl BSG vom 10. November 1970 - 3 RK 94/67 - letzter Absatz, insoweit zwar nicht in SozR Nr 63 zu § 165 RVO abgedruckt, wohl aber in KVRS 1020/12 und DOK 1971, 171, 172 mit Anm von Töns).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651309

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