Leitsatz (amtlich)

Für die Krankenversicherung der Arbeitslosen ist der tatsächliche Bezug der Hauptunterstützung selbst dann maßgebend, wenn sie nur kurzfristig und offensichtlich zu Unrecht gewährt worden ist.

 

Normenkette

AVAVG § 117 Fassung: 1927-07-16, § 107 Fassung: 1957-04-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. April 1959 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Handelsvertreter H V in E hatte sich am 26. Juni 1953 arbeitslos gemeldet. Vom 10. bis 17. Juli 1953 bezog er vom Arbeitsamt E Arbeitslosenunterstützung (Alu). Am 15. Juli 1953 begab er sich wegen eines Anfang Juni 1953 festgestellten Lungentumors in stationäre Behandlung. Am 2. Oktober 1953 wurde er aus dem Krankenhaus als arbeitsunfähig entlassen. Seit dem 8. Dezember 1953 befand er sich erneut in stationärer Behandlung. ... 1954 ist er gestorben.

Die beigeladene Ersatzkasse, bei der die Ehefrau des Erkrankten pflichtversichert war, verweigerte die Übernahme der Krankenhauskosten, weil dieser wegen seines Unterstützungsbezuges einen eigenen Anspruch gegen die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) auf Krankenpflege nach § 117 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) habe, überdies auch bis zum Tage der Aufnahme in das Krankenhaus arbeitsfähig gewesen sei.

Durch Bescheid vom 12. November 1953 lehnte die beklagte AOK die Übernahme der Krankenhauskosten mit der Begründung ab, daß der Erkrankte auf Grund des Anfang Juni 1953 festgestellten Lungentumors bereits zum Zeitpunkt des Bezuges der Alu arbeitsunfähig und deshalb nicht unterstützungsberechtigt gewesen sei.

Gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten erhob H V am 23. November 1953 beim Versicherungsamt der Stadt E "Klage". Zur Begründung trug er vor, daß er allein auf Grund des tatsächlichen Bezuges von Alu bei der Beklagten gegen Krankheit versichert gewesen sei. Für das Bestehen der Versicherung sei es ohne Bedeutung, ob er während des Unterstützungsbezuges wirklich arbeitsfähig und damit anspruchsberechtigt gewesen sei.

Hiergegen wendete die Beklagte ein, H V habe bereits am 6. Juni 1953 davon Kenntnis gehabt, daß er operiert werden müßte. Als er die Zahlung von Alu beantragt habe, sei ihm sehr wohl bewußt gewesen, daß er nicht mehr arbeitsfähig gewesen sei. Durch Täuschung über seinen Gesundheitszustand habe er das Zustandekommen des Versicherungsverhältnisses erreicht. Dieses sei nach § 123 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) anfechtbar. Durch die Konstruierung eines Mitgliedschaftsverhältnisses nach § 117 AVAVG könne sie, die Beklagte, nicht ungerechtfertigterweise mit einer Leistungspflicht belastet werden.

Nach dem Tode des H V haben seine Ehefrau und sein Sohn, die Kläger, das Verfahren aufgenommen. Sie waren vom Bezirksfürsorgeverband, der die Krankenhauskosten inzwischen vorläufig übernommen hatte, gedrängt worden, die angefallenen Rechnungen zu begleichen.

Die Kläger haben vor dem Sozialgericht (SG) Düsseldorf, auf welches das Verfahren übergegangen war, beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, die für den verstorbenen H V entstandenen Krankenhauskosten für die Zeit vom 15. Juli bis 2. Oktober 1953 und vom 8. Dezember 1953 bis 27. Februar 1954 zu tragen.

Das SG Düsseldorf hat nach Beweiserhebung durch Urteil vom 16. April 1956 die Klage abgewiesen. Es war der Auffassung, ein rechtswirksames Versicherungsverhältnis sei zwischen dem Erkrankten und der Beklagten trotz des Unterstützungsbezuges nicht begründet worden. Voraussetzung für eine Mitgliedschaft nach § 117 AVAVG aF sei, daß die Voraussetzungen des § 87 AVAVG aF gegeben seien, also insbesondere Arbeitsfähigkeit vorliege und die Unterstützung soweit zu Recht gewährt wurde. Zur Zeit des Unterstützungsbezuges sei aber H V nicht mehr arbeitsfähig gewesen. An der in den Grundsätzlichen Entscheidungen (GE) Nr. 3765 und 4584 des früheren Reichsversicherungsamts (RVA) - AN 1930, 259 und 1933, 185 - zum Ausdruck gekommenen gegenteiligen Ansicht, daß es für die Krankenversicherung (KV) nach §§ 117, 118 AVAVG allein auf den tatsächlichen Unterstützungsbezug ankomme, sei schon mit Rücksicht auf die Fälle eines Unterstützungsbetruges nicht festzuhalten.

Die bereits vom SG beigeladene Ersatzkasse hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Sie war der Auffassung, auf Grund der Rechtsprechung des RVA sei die Beklagte leistungspflichtig. Ein Unterstützungsbetrug liege nicht vor. Das Arbeitsamt habe Alu gezahlt und diese nicht zurückgefordert. Ergänzend hat sie noch vorgetragen, H V habe deshalb wenig verdienen können, weil er Berufssoldat und somit nach 1945 lange Zeit beruflich benachteiligt gewesen sei. Vor allem hierauf sei es zurückzuführen, daß seine Ehefrau die Hauptverdienerin in der Familie gewesen sei.

Die beigeladene Ersatzkasse hat beantragt,

unter Abänderung des Urteils des SG in Düsseldorf vom 16. April 1956 die Beklagte zu verurteilen, die für den verstorbenen H V entstandenen Krankenhauskosten für die Zeit vom 15. Juli bis 2. Oktober 1953 und vom 8. Dezember 1953 bis 27. Februar 1954 zu tragen.

Die Kläger haben sich der Berufung der beigeladenen Ersatzkasse "angeschlossen" und beantragt,

unter Abänderung des Urteils des SG in Düsseldorf vom 16. April 1956 die Beklagte und hilfsweise die Beigeladene zu 1) zu verurteilen, die für den verstorbenen H V entstandenen Krankheitskosten für die Zeit vom 15. Juli bis 2. Oktober 1953 und vom 8. Dezember bis zum 27. Februar 1954 zu tragen.

Der erst vom Landessozialgericht (LSG) beigeladene Bezirksfürsorgeverband, der die Krankenhauskosten in Höhe von insgesamt 1.466,60 DM vorläufig bezahlt hatte, hat den gleichen Antrag wie der Kläger gestellt.

Das LSG Nordrhein-Westfalen hat nach Einholung eines weiteren ärztlichen Gutachtens durch Urteil vom 28. April 1959 auf die Berufung der beigeladenen Ersatzkasse unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte verurteilt, die für den verstorbenen H V entstandenen Krankenhauskosten für die Zeit vom 15. Juli 1953 bis 2. Oktober 1953 und vom 8. Dezember 1953 bis 27. Februar 1954 zu tragen. Es stellt fest, daß H V bei Beginn der Zahlung von Alu bereits arbeitsunfähig und deshalb an sich nicht unterstützungsberechtigt gewesen sei. Dies sei aber unerheblich. Nach § 117 AVAVG a. F. sei jeder Arbeitslose während des Bezuges der Hauptunterstützung für den Fall der Krankheit versichert. Dabei sei allein auf den tatsächlichen Bezug der Alu abgestellt. Hierunter sei die tatsächlich erfolgte Auszahlung des Unterstützungsbetrages zu verstehen. Aus welchen Gründen dies geschehen sei, ob die Alu insbesondere zu Recht oder zu Unrecht bezogen worden sei, müsse nach dem Wortlaut des Gesetzes ohne Einfluß auf den Beginn der nur vom tatsächlichen Bezug der Hauptunterstützung abhängigen KV und dem daraus folgenden Anspruch auf Versicherungsleistungen sein. Diese Regelung bedeute für alle Beteiligten eine eindeutige Klarstellung, die der Rechtssicherheit diene und alle Nachforschungen darüber entbehrlich mache, ob die Unterstützung zu Recht bezogen worden sei oder nicht. Insbesondere könne auf diese Weise selbst eine rückwirkende Entziehung der Hauptunterstützung nicht mehr die Mitgliedschaft in der KV beeinflussen. Hiernach habe der Bezug der Hauptunterstützung durch den Erkrankten dazu geführt, daß ein Versicherungsverhältnis mit der Beklagten begründet worden sei, aus dem deren Leistungspflicht nach §§ 184, 311 der Reichsversicherungsordnung (RVO) folge.

Das LSG hat in seinem Urteil die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.

Sie rügt in längeren Ausführungen unrichtige Anwendung des § 117 AVAVG. Wenn es dort heißt, der Arbeitslose sei während des "Bezuges" der Hauptunterstützung für den Fall der Krankheit versichert, so seien damit nur Zeiten gemeint, in denen der Arbeitslose die Unterstützung rechtmäßig bezogen habe, oder doch wenigstens einen Anspruch auf Unterstützung gehabt habe.

Die beigeladene Ersatzkasse beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Zwar habe das RVA für die Anwendung des § 117 AVAVG ausgesprochen, daß einerseits der tatsächliche Bezug der Unterstützung maßgebend sei, daß andererseits jedoch der tatsächlichen Zahlung der gesetzliche Anspruch auf Zahlung gleichstehe. Durch die Gleichstellung des Rechtsanspruchs mit dem Bezuge sei aber nur eine Gesetzeslücke geschlossen worden. Sie habe vor allem dann Bedeutung, wenn noch keine Unterstützung gezahlt worden sei, obwohl der Rechtsanspruch bereits gegeben war. Hieraus folge aber nicht, daß unter "Bezug" nur eine zu Recht bestehende Unterstützung zu verstehen sei.

Die Kläger habe sich im Revisionsverfahren nicht vertreten lassen.

Der beigeladene Bezirksfürsorgeverband hat im Revisionsverfahren keine Anträge gestellt.

Die form- und fristgerecht eingelegte und kraft Zulassung statthafte Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat mit im wesentlichen zutreffender Begründung der erhobenen Klage stattgegeben, die sich als eine Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 SGG darstellt. Mit ihr wurde in der Sache die Feststellung begehrt, daß durch den Unterstützungsbezug ein Krankenversicherungsverhältnis zwischen H V und der Beklagten zustandegekommen war, und diese deshalb die entstandenen Krankenhauskosten zu tragen habe. Der Zulässigkeit dieser Feststellungsklage steht das Urteil des erkennenden Senats vom 6. Juni 1961 (BSG 14, 229) nicht entgegen, da jene Entscheidung eine Leistungsklage einer Versicherten betraf und der Fürsorgeträger, der die Leistung gewährt hatte, einen Erstattungsanspruch nach § 1531 RVO gegen die Krankenkasse geltend gemacht hatte. Im vorliegenden Streitfall hat dagegen der Bezirksfürsorgeverband die Erstattung seiner Kosten bereits von der Klägerin zu 1) gefordert.

Der von den Klägern und ihrem Rechtsvorgänger erhobene und von der Beigeladenen weiterverfolgte Anspruch ist auch begründet, wie das LSG mit Recht ausgeführt hat. Nach § 117 AVAVG aF war der Arbeitslose - ebenso wie jetzt nach § 107 AVAVG nF - während des Bezuges des Hauptbetrages durch die Bundesanstalt für den Fall der Krankheit versichert. Hierzu ist von jeher sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten worden, daß ein Pflichtversicherungsverhältnis des Arbeitslosen in der Krankenversicherung stets dann besteht, wenn und solange die Unterstützung bezogen wird. Der Bezug der Hauptunterstützung bzw. des Hauptbetrages allein reicht dazu aus, ohne daß die Voraussetzungen für einen Unterstützungsanspruch erfüllt zu sein brauchen. Es genügt aber auch, wenn die Unterstützung dem Arbeitslosen zusteht, selbst wenn sie noch nicht gezahlt wird.

Hieran ist weiterhin festzuhalten. Wie das RVA in der GE Nr. 4584 (AN 1933, 185) mit Recht ausgeführt hat, setzt die Entstehung der Mitgliedschaft entweder die tatsächliche Zahlung der Hauptunterstützung oder das Bestehen eines Anspruchs hierauf voraus, nicht aber das Vorliegen beider Voraussetzungen. Die Mitgliedschaft wird deshalb selbst dann begründet, wenn Unterstützung gezahlt worden ist, ohne daß, wie sich später ergibt, dem Arbeitslosen ein Anspruch darauf zustand. Die Mitgliedschaft dauert in diesem Falle so lange, bis die Zahlung eingestellt ist. Eine andere Auffassung wäre weder mit dem gewählten Wortlaut "Bezug der Hauptunterstützung" zu vereinbaren, noch würde sie dem gesetzlichen Zweck gerecht werden, weil sie dazu führen würde, daß die Krankenkasse zumindest vor jeder Leistungsgewährung an Bezieher von Arbeitslosenunterstützung prüfen müßte, ob und für welche Zeit ein Anspruch auf Unterstützung bestanden hat. Gerade das aber sollte durch die gesetzliche Regelung, die auf den "Bezug" der Unterstützung abstellt, vermieden werden. Solange die Unterstützung tatsächlich gezahlt wird, soll für alle Beteiligten klargestellt sein, daß der Arbeitslose der Krankenversicherung der Arbeitslosen als Pflichtmitglied angehört. Selbst die rückwirkende Entziehung der Unterstützung kann den Vorgang des rein tatsächlichen Bezugs, an den das Gesetz die Rechtsfolge der Mitgliedschaft geknüpft hat, grundsätzlich nicht mehr aufheben (vgl. GE Nr. 4584 aaO).

Diese rechtliche Beurteilung muß selbst dann gelten, wenn der Arbeitslose nur kurzfristig und außerdem offensichtlich zu Unrecht und möglicherweise nur versehentlich vom Arbeitsamt unterstützt worden ist. Auch in solchen Fällen liegt es außerhalb der Verwaltungsaufgaben der Krankenkassen, die Rechtmäßigkeit des Leistungsbezuges in einem anderen Versicherungszweig nachzuprüfen. In diesem Zusammenhang kann auch nicht der Grundsatz entsprechend angewendet werden, daß ein mißglückter Arbeitsversuch nicht zur Begründung eines Versicherungsverhältnisses führt (BSG 15, 89). Nach § 118 AVAVG aF tritt zwar ebenso wie nach § 108 AVAVG nF, soweit es sich um die Rechte und Pflichten aus der Krankenversicherung handelt, der Bezug der Hauptunterstützung bzw. des Hauptbetrages an die Stelle der versicherungspflichtigen Beschäftigung. Damit rechtfertigt sich aber noch nicht eine Anwendung der in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über den mißglückten Arbeitsversuch auf die ganz anders gelagerten Fälle einer durch das Arbeitsamt zu Unrecht gewährten Unterstützung.

Somit ist es bedeutungslos, daß das LSG auf Grund der ärztlichen Gutachten für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat, daß H V bereits vor Beginn der Unterstützungszahlung arbeitsunfähig gewesen ist. Auf Grund der geschilderten Rechtslage ist vielmehr trotz der zu Unrecht gewährten Unterstützung ein Krankenversicherungsverhältnis mit der Beklagten begründet worden, woraus sich ihre Leistungsverpflichtung im Rahmen des § 184 RVO ergab. Dahingestellt kann bleiben, wie im Falle eines Unterstützungsbetruges zu entscheiden gewesen wäre. Die Vorinstanzen haben nicht festgestellt, daß bei H V eine betrügerische Absicht vorgelegen hat. Es bestand auch nach der Sachlage - der Verstorbene wird schwerlich über die ernste Art seiner Erkrankung unterrichtet worden sein - kein Anlaß, dahingehende Ermittlungen anzustellen; im übrigen hat auch die Revisionsklägerin keine Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) gerügt.

Damit mußte die Revision der Beklagten gegen das angefochtene Urteil zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 145

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