Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Verweisbarkeit auf neue Tätigkeit. Ausbildungsdauer

 

Orientierungssatz

Für die Anwendung des § 1246 Abs 2 S 3 RVO sind jedenfalls Maßnahmen ausreichend, die eine Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten (hier für die Tätigkeit in der Poststelle eines Unternehmens) nach einem bestimmten Ausbildungsplan vorsehen und sich über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten erstrecken (vgl BSG vom 19.1. 1978 4 RJ 103/76 = SozR 2200 § 1246 Nr 25 mwN). Wie die Maßnahme bezeichnet wird, etwa als Eingliederungshilfe, ist dann unerheblich, wenn gleichwohl eine planmäßige Ausbildung mit einer Mindestdauer von drei Monaten erfolgt ist. Das Gleiche gilt für Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 07.04.1987; Aktenzeichen L 12 J 1197/83)

SG Gießen (Entscheidung vom 13.09.1983; Aktenzeichen S 11 J 292/81)

 

Tatbestand

Der Kläger beansprucht Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit, die in der Revisionsinstanz noch für die Zeit ab 1. April 1982 streitig ist. Er ist im Jahre 1952 geboren und gelernter Bäcker. Diesen Beruf mußte er nach Feststellungen der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten wegen eines sogenannten "Bäckerschnupfens" bzw "Bäckerasthmas" aufgeben.

Mit Hilfe von Eingliederungsmaßnahmen wurde der Kläger in die Poststelle der Firma L.               vermittelt und dort ab 1. April 1982 sechs Monate lang eingearbeitet. Wegen des Minderverdienstes im Vergleich zum Bäckerberuf gewährte ihm die Berufsgenossenschaft für die Dauer von fünf Jahren Übergangsleistungen. Den Rentenantrag des Klägers vom 3. April 1981 lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 14. Oktober 1981 ab.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Mai 1981 Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 13. September 1983). Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen (Urteil vom 7. April 1987). Das Berufungsgericht hat bezüglich der noch streitigen Zeit ab 1. April 1982 ausgeführt, die sechs Monate andauernde Einarbeitung des Klägers bei der Firma L.               sei als Gewährung einer Eingliederungsbeihilfe anzusehen. Maßnahmen, die sich als Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme bzw als Eingliederungshilfen an Arbeitgeber darstellten, entsprächen nicht den Anforderungen einer zumutbaren Tätigkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Von einer Ausbildung oder Umschulung könne keine Rede sein. Damit könne der Kläger auf die seit dem 1. April 1982 ausgeübte Tätigkeit nicht zumutbar verwiesen werden. Andere Verweisungstätigkeiten gebe es nicht.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom Bundessozialgericht (BSG) für den streitigen Rentenanspruch ab 1. April 1982 zugelassenen Revision angefochten. Sie rügt eine Verletzung des § 1246 Abs 2 RVO, insbesondere des Satzes 3 dieser Vorschrift und des § 128 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG insoweit aufzuheben, als die Beklagte zur Zahlung einer Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit über den 31. März 1982 hinaus verurteilt worden ist und Abweisung der Klage im übrigen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist für die Zeit ab 1. Oktober 1982 begründet. Von da ab ist der Kläger nicht mehr berufsunfähig iS des § 1246 Abs 2 RVO.

Mit ihrer Revision wendet sich die Beklagte gegen die Verurteilung zur Gewährung der Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit über den 31. März 1982 hinaus. Deshalb hatte der erkennende Senat nur zu prüfen, ob auch vom genannten Zeitpunkt an die Voraussetzungen des § 1246 Abs 2 RVO erfüllt sind. Nach den mit der Revision nicht angegriffenen und daher für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG ist der Kläger zum 1. April 1982 auf einen Arbeitsplatz in der Poststelle der Firma L.       vermittelt worden. Diese Tätigkeit hat das LSG - ausgehend von einem "bisherigen Beruf" des Klägers als gelernter Bäcker und damit als Facharbeiter - nicht als zumutbare Verweisungstätigkeit angesehen.

Die Arbeit in der Poststelle der Firma L.          ist dem Kläger nach § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO zuzumuten. Diese Vorschrift bestimmt, daß zumutbar stets eine Tätigkeit ist, für die der Versicherte durch Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden ist. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat (Urteil vom 19. Januar 1978 in SozR 2200 § 1246 Nr 25 mwN) gehören nicht zur Ausbildung und Umschulung iS des § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO die Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes (§ 1237a Abs 1 Nr 1 RVO). Nicht ausreichend sind ferner Förderungsmaßnahmen, die lediglich einer Einarbeitung auf einem anderen Arbeitsplatz dienen. Solche Maßnahmen, zu denen auch die Gewährung eines Einarbeitungszuschusses gehören, sind den Hilfen zur Erhaltung oder Erlangung eines Arbeitsplatzes zugeordnet worden (§ 1237a Abs 1 Nr 1 RVO). Ein Einarbeitungszuschuß begründet deshalb für sich allein keine Verweisbarkeit auf die neu aufgenommene Tätigkeit. Indes sind nach der genannten Entscheidung des BSG für die Anwendung des § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO jedenfalls Maßnahmen ausreichend, die eine Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten nach einem bestimmten Ausbildungsplan vorsehen und sich über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten erstrecken.

Das LSG hat festgestellt, die beim Kläger durchgeführte Maßnahme habe den Zeitraum von sechs Monaten umfaßt. Sie sei nach einem Stoffplan durchgeführt worden, wonach das Kennenlernen der allgemeinen Betriebspostablauforganisation einen Monat, das aller Betriebspost-Verteilerstellen sowie aller Abteilungen des Unternehmens einschließlich der Außenwerke vier Monate und das Ausführen selbständiger Tätigkeiten einen Monat gedauert habe. Wie das BSG bereits im Beschluß vom 17. November 1987 - 4a BJ 179/87 -, mit dem in diesem Rechtsstreit die Revision zugelassen worden ist, ausgeführt hat, ist entscheidend das Erfordernis einer planmäßigen Ausbildung von mindestens drei Monaten Dauer. Eine diesen Anforderungen genügende Ausbildung ergibt sich aus den Feststellungen des LSG.

Das von ihm gewonnene gegenteilige Ergebnis hat das Berufungsgericht wie folgt begründet: Im Eingliederungsvorschlag des Arbeitsamtes sei vorgeschlagen worden, eine Eingliederungshilfe zu gewähren. Das werde auch durch eine Verdienstbescheinigung sowie durch die Abrechnung der Firma L.    bei der Berufsgenossenschaft belegt und vom Landesarbeitsamt bestätigt. Wie die Maßnahme bezeichnet worden ist, etwa als Eingliederungshilfe, ist dann unerheblich, wenn gleichwohl eine planmäßige Ausbildung mit einer Mindestdauer von drei Monaten erfolgt ist. Das Gleiche gilt für Leistungen zur Förderung der Arbeitsaufnahme (so schon der Beschluß über die Zulassung der Revision vom 17. November 1987). Das LSG hat verkannt, daß Eingliederungshilfen nur für sich allein, also ohne planmäßige Ausbildung nicht die Voraussetzungen des § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO erfüllen. Der Kläger ist bei der Firma L.    immerhin ein halbes Jahr lang qualifiziert eingearbeitet worden, was die Zumutbarkeit iS der genannten Vorschrift begründet. Ob an der Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 19. Januar 1978 (aaO) festzuhalten ist, daß Maßnahmen von nur dreimonatiger Dauer bereits für die Zumutbarkeit ausreichend sind, bedarf hier wegen der längeren Ausbildung des Klägers keiner Entscheidung.

Der Kläger ist der Ansicht, der erkennende Senat sei gemäß § 163 SGG an die Feststellungen des LSG, daß es sich lediglich um die Gewährung einer Eingliederungsbeihilfe gehandelt habe, gebunden. Das trifft nicht zu. Die rechtliche Qualifizierung einer Maßnahme stellt keine Tatsachenfeststellung dar und ist vom Revisionsgericht zu überprüfen. Das gleiche gilt, falls das LSG davon ausgegangen ist, die Förderung des Klägers habe nur der Einarbeitung auf einen anderen Arbeitsplatz gedient.

Da der Kläger somit durch eine Maßnahme iS des § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO ausgebildet worden ist, ist seine Tätigkeit in der Poststelle der Firma L. zumutbar und zwingt dazu, den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit zu verneinen. Das gilt jedoch erst von dem Zeitpunkt an, von dem an die am 1. April 1982 begonnene halbjährige Ausbildung mit Erfolg abgeschlossen worden ist, also ab 1. Oktober 1982. Bis dahin ist folglich dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren, so daß die Urteile der Vorinstanzen entsprechend abgeändert werden mußten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654168

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