Leitsatz (amtlich)

Ein Unfall durch Kriegseinwirkung außerhalb der Arbeitszeit ist nicht schon deshalb ein Arbeitsunfall, weil er sich in einer Gemeinschaftsunterkunft ereignet hat, selbst wenn diese im betrieblichen Interesse errichtet ist.

 

Normenkette

RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09, § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30; SozSichAbk BEL Art. 7 Abs. 3 Fassung: 1957-12-07

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. November 1970 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob wegen der Folgen der im Jahre 1944 bei einem Luftangriff in Deutschland erlittenen Verletzungen des belgischen Staatsangehörigen G S (S.) Entschädigungsleistungen aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren sind.

S., der heute in M (Belgien) lebt, wurde im Oktober 1942 zur 2. Kompanie des Arbeitsbataillons L 11 nach Deutschland dienstverpflichtet und im Oktober 1944 als Bauhilfsarbeiter im Raum S eingesetzt. Er wohnte damals in der S-Schule in S, die für die Angehörigen des Arbeitsbataillons als Gemeinschaftsunterkunft eingerichtet worden war. In der Nacht vom 19. zum 20. Oktober 1944 wurde S. bei einem Luftangriff auf S im Luftschutzkeller der S-Schule verletzt. Er hatte sich vor dem Luftangriff bereits zum Schlafen niedergelegt. S. zog sich einen Oberschenkelbruch rechts, einen Schlüsselbeinbruch links und eine Gehirnerschütterung zu.

Wegen der Folgen des Unfalls erhält S. vom Königreich Belgien eine Rente.

Im November 1960 beantragte die belgische Verbindungsstelle (Ministere de la Prévoyance Sociale) unter Bezugnahme auf das deutsch-belgische Sozialversicherungsabkommen, eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Durch den an S. gerichteten Bescheid vom 5. März 1969 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Zur Begründung führte sie aus, der Unfall stehe nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit einer nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherten Tätigkeit; er sei weder durch die Beschaffenheit der Unterkunft noch durch betriebliche Einrichtungen verursacht worden.

Hierauf hat das Königreich Belgien, gestützt auf Art. 7 Abs. 3 der Dritten Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Soziale Sicherheit vom 7. Dezember 1957 über die Zahlung von Renten für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Abkommens (BGBl 1963 II 404 - 3.ZV), Klage bei dem Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben mit dem Ziel, die Beklagte zu verurteilen, an S. eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung zu zahlen. Der Kläger hat im wesentlichen geltend gemacht, S. habe als Angehöriger des Arbeitsbataillons L den gesetzlichen Vorschriften der Reichsunfallversicherung unterlegen; es bestehe auch ein logischer Zusammenhang zwischen der Verletzung des S. durch den Luftangriff und seiner Tätigkeit bei der Organisation L, zumal da die Arbeitsbataillone auf die von feindlichen Luftangriffen am meisten betroffenen Wehrkreise verteilt und in den hauptsächlich heimgesuchten Städten eingesetzt worden seien.

Das SG hat die Klage durch Urteil vom 20. März 1970 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Ein Arbeitsunfall liege nicht vor. Der Unfall habe nicht in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der Tätigkeit des S. gestanden. S. sei nicht während der Arbeit und auf seiner Arbeitsstätte, sondern durch Fliegerbomben während der Nachtzeit in der Unterkunft verletzt worden. Hierbei handele es sich nicht um eine der Betriebstätigkeit eigentümliche, sondern um eine allgemeine Gefahr, der die gesamte Zivilbevölkerung während der letzten Kriegszeit ausgesetzt gewesen sei.

Die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 26. November 1970 zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt: S. sei während seiner Dienstverpflichtung in Deutschland Angehöriger des Arbeitsbataillons L der Organisation T (OT) gewesen, das unter Leitung und Bewachung dieser Organisation gestanden habe und vorwiegend zu Instandsetzungsarbeiten im Raum S eingesetzt worden sei. Bei den im Rahmen dieses Arbeitsbataillons eingesetzten Ausländern habe es sich um Arbeitskräfte gehandelt, die nach der Zwangsverpflichtung unentgeltlich untergebracht und bekleidet, von der zuständigen Abrechnungsstelle (Standortlohnstelle) für die Arbeit entlohnt worden seien und bei den Arbeiten unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hätten. S. habe somit während seiner Dienstverpflichtung in Deutschland nur in einem Arbeitsverhältnis zu einer zivilen Organisation des ehemaligen Deutschen Reiches gestanden. Selbst wenn S. unter der Regie eines privaten Unternehmens - der Baufirma N - Ausbesserungsarbeiten ausgeführt hätte, sei allein durch die Art seines Einsatzes nicht ein Arbeitsverhältnis mit dieser Privatfirma zustande gekommen. Einen Arbeitsunfall im Sinne der RVO habe S. nicht erlitten. Er habe sich die Verletzungen nicht in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit seiner Betriebstätigkeit zugezogen. Die durch feindliche Fliegerangriffe hervorgerufene Gefahr sei keine der Betriebstätigkeit eigentümliche, sondern eine allgemeine Gefahr, der die gesamte Zivilbevölkerung während der letzten Kriegszeit in ihren Wohnungen ausgesetzt gewesen sei. Die Unterkunft habe sich mitten in einem Wohngebiet Stuttgarts befunden, und es seien keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß die S-Schule in der Nähe der Arbeitsstätte gelegen und sich der Fliegerangriff auf die Arbeitsstätte und ihre nähere Umgebung gerichtet habe. Der vom Kläger vorgetragene Gesichtspunkt, S. sei aufgrund seiner Dienstverpflichtung zum Aufenthalt in der S-Schule gezwungen gewesen und allein deshalb Opfer eines Luftangriffs geworden, sei ohne rechtliche Bedeutung. Die in Mitleidenschaft gezogene Unterkunft habe sich in einem reinen Wohngebiet befunden, das in dem damaligen Stadium des Krieges zur Zermürbung der Zivilbevölkerung absichtlich von feindlichen Fliegern angegriffen worden sei. Der Kläger könne den Anspruch auch nicht aus dem Erlaß des Reichsarbeitsministers (RAM) vom 29. Juni 1944 - II c 697/44 - i.V.m. der Empfehlung des Reichsverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften e.V. vom 13. Juli 1944 - RV 117/44 - herleiten. Die dort angeführten Voraussetzungen seien nicht gegeben. Das Lager sei nicht im Interesse eines konkret bestimmten Betriebes auf der Betriebsstätte oder in deren Nähe, sondern im allgemeinen Interesse des Arbeitseinsatzes von Ausländern durch die OT errichtet worden.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es wie folgt begründet: S. habe als dienstverpflichteter Angehöriger des Arbeitsbataillons L 11 zu dem in der deutschen Unfallversicherung versicherten Personenkreis gehört, unabhängig davon, ob er in einem Arbeitsverhältnis zu dem Bauunternehmen N oder in einem Dienstverhältnis zur deutschen Wehrmacht oder einer ihrer Organisationen (OT) gestanden habe. Die vom LSG erhobenen Beweise reichten allerdings nicht aus, um zu der abschließenden Feststellung zu gelangen, daß zwischen S. und der Firma N ein Arbeitnehmerverhältnis nicht begründet worden sei. Da für Unfälle in Gemeinschaftsunterkünften Versicherungsschutz bestehe, wenn die Unterkunft im betrieblichen Interesse errichtet sei oder den betrieblichen Belangen in einer Weise diene, daß dadurch ein Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit oder den Einrichtungen des Betriebs bestehe (RVA in EuM 45, 2; 46, 5), komme es darauf an, ob die S-Schule den betrieblichen Belangen der Firma N - oder der deutschen Wehrmacht (OT) - gedient habe. Es sei wesentlich, daß S. sein Leben während des Aufenthalts im Gemeinschaftslager nicht beliebig habe gestalten können, vielmehr gezwungen gewesen sei, sich während der Nachtzeit dort aufzuhalten. Grundsätzlich sei bereits durch den RAM (Erlaß vom 7.1.1943 in AN 1943, 36) und das Reichsversicherungsamt - RVA - (Rundschreiben vom 18.7.1940 in AN 1940, 268, 269) bei Unfällen durch Kriegseinwirkungen in werkseigenen Lagern Versicherungsschutz mit der Begründung angenommen worden, eine erhöhte Unfallgefahr werde schon durch die Tatsache der Arbeitsleistung und des Aufenthalts in den betriebseigenen Lagern geschaffen (RAM in AN 1944, 41). Auch nach dem Rundschreiben (RV 117/44) des Reichsverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 13. Juli 1944, das allerdings keinen Rechtssatzcharakter besitze, seien Unfälle in Lagern, die im betrieblichen Interesse errichtet seien, zu entschädigen. Ob die dort angeführten Voraussetzungen für die Begründung des Versicherungsschutzes gegeben seien - insbesondere, ob sich die Unterkunft in unmittelbarer Nähe der Beschäftigungsfirma des S. befunden habe -, sei ungeklärt. Das LSG habe es versäumt, die erforderlichen Ermittlungen anzustellen.

Der Kläger beantragt,

die angefochtenen Urteile sowie den Bescheid der Beklagten vom 5. März 1969 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an S. Unfallrente zu zahlen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidungen der Vorinstanzen für zutreffend und macht geltend: Das Unfallereignis, durch das S. verletzt worden sei, stehe in keinem rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit einer Betriebstätigkeit. S. sei nicht während der Arbeit und auf seiner Arbeitsstelle, sondern während der Nacht in seiner Unterkunft durch einen Luftangriff verletzt worden. Dieser Gefahr sei die gesamte Bevölkerung - zumindest in der letzten Kriegszeit - auch in den Wohnungen ausgesetzt gewesen. Da sich kein Anhalt dafür ergeben habe, daß es sich bei der S-Schule in S um ein ausschließlich von der Firma N oder einem anderen privaten Unternehmen im betrieblichen Interesse eingerichtetes Arbeitslager für ausländische Arbeitskräfte gehandelt habe, könne sich der Anspruch des Klägers auch nicht nach dem Erlaß des RAM vom 29. Juni 1944 in Verbindung mit dem Rundschreiben des Reichsverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 13. Juli 1944 richten. Der Erlaß sei als Ausnahmetatbestand weder extensiv auszulegen noch analog anzuwenden.

II

Die zulässige Revision hatte keinen Erfolg.

Die Befugnis des Königreichs Belgien, mit der Klage die Ansprüche des Verletzten - des belgischen Staatsangehörigen S. - geltend zu machen, ergibt sich aus Art. 7 Abs. 3 der Dritten Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Soziale Sicherheit vom 7. Dezember 1957 - Allgemeines Abkommen - über die Zahlung von Renten für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Abkommens, ebenfalls vom 7. Dezember 1957 (BGBl 1963 II 404 - 3. ZV), in der Fassung des Art. 5 des Zusatzprotokolls vom 10. November 1960 (abgedruckt bei Plöger/Wortmann, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, Teil X - Belgien - S. 46, 48). Nach dieser Vorschrift kann das Königreich Belgien, das dem Verletzten nach belgischen Rechtsvorschriften wegen der Folgen des Unfalls eine Rente zahlt, die Feststellung der Leistungen - aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung - betreiben und Rechtsmittel einlegen. Die 3. ZV ist ungeachtet der Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 25. September 1958 (BGBl 1959 II 473 - EWG-VO Nr. 3) weiterhin anwendbar, da sie im Anhang D zu dieser Verordnung als weitergeltend aufgeführt ist (vgl. Art. 6 Abs. 2 Buchst. e der EWG-VO Nr. 3).

Die Klage ist nicht begründet. Dem in der Nacht vom 19. zum 20. Oktober 1944 bei einem Luftangriff in Deutschland verletzten belgischen Staatsangehörigen S. steht ein Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung nicht zu. S. hat keinen Arbeitsunfall im Sinne der deutschen Rechtsvorschriften erlitten.

Die Frage, ob die Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch erfüllt sind, ist nach den deutschen Rechtsvorschriften über die gesetzliche Unfallversicherung zu beurteilen. Sowohl nach der EWG-VO Nr. 3 (vgl. Art. 12 Abs.1) als auch nach dem deutsch-belgischen Allgemeinen Ankommen (vgl. Art. 5 Abs. 1) unterliegen die Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften des Mitglieds- bzw. Vertragsstaates, in welchem sie beschäftigt sind oder waren. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob der Verletzte zu dem in Art. 4 Abs. 1 der EWG-VO Nr. 3 aufgeführten Personenkreis gehört - den tatsächlichen Feststellungen des LSG ist dies nicht zu entnehmen - und daher die EWG-VO Nr. 3 mit der in ihren Anhang D aufgenommenen 3. ZV (vgl. Art. 5 Buchst. a der EWG-VO Nr. 3) oder ob das Allgemeine Abkommen in Verbindung mit der 3. ZV anzuwenden ist. Maßgebend dafür, ob der Verletzte als Angehöriger des Arbeitsbataillons L 11 bei seiner Tätigkeit während des 2. Weltkrieges in Deutschland zu dem in der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung gegen Arbeitsunfall versicherten Personenkreis gehört hat und die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls vorliegen, sind die Vorschriften, die im Unfallzeitpunkt in Kraft waren: §§ 537 bis 541, 542 der Reichsversicherungsordnung idF des 6. Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9. März 1942 (6. ÄndG) - RGBl I 107 - (RVO aF) sowie die seinerzeit geltenden Sondervorschriften (z.B. die Notdienst-VO vom 15. Oktober 1938 - RGBl I 1441 -). Dies entspricht dem aus sozialversicherungsrechtlichen Erwägungen in der deutschen Sozialversicherung bestehenden Grundsatz, daß für Ansprüche aus Versicherungsfällen vor Inkrafttreten neuen Rechts die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften anzuwenden sind, sofern das neue Recht sich nicht ausdrücklich rückwirkende Kraft beilegt (vgl. BSG 22, 63, 65; 23, 139, 140 ff; 24, 88, 89 jeweils mit weiteren Nachweisen). Das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 - BGBl I 241 - (UVNG) gilt gemäß Art. 4 § 1 nur für Arbeitsunfälle, die sich nach seinem Inkrafttreten ereignen; die in Art. 4 §§ 2 ff UVNG geregelten Ausnahmen greifen hier nicht ein.

Mit Recht hat das LSG den Verletztenrentenanspruch nicht schon mit der Begründung als ausgeschlossen erachtet, daß der Verletzte als dienstverpflichteter belgischer Staatsangehöriger bei seiner Tätigkeit in Deutschland dem Unfallversicherungsschutz nicht unterlegen habe. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war der Verletzte durch die damaligen deutschen Arbeitseinsatzbehörden im Jahre 1942 längerfristig zur Beseitigung von Kriegsschäden in den von Luftangriffen hauptsächlich heimgesuchten Städten - und damit zur Bekämpfung öffentlicher Notstände, also zu typischen Notdienstleistungen - herangezogen worden (vgl. § 1 Abs. 1 der NotdienstVO). Er unterstand bei seiner - entlohnten - Tätigkeit der Verfügungsgewalt der Arbeitseinsatzbehörden und war diesen gegenüber zur Arbeitsleistung verpflichtet. Für dieses einem Arbeitsverhältnis entsprechende Beschäftigungsverhältnis galten die allgemeinen Vorschriften über Sozialversicherung (vgl. § 3 der 2. DurchführungsVO zur NotdienstVO vom 10. Oktober 1939 - RGBl I 2018 -). § 1 Abs. 4 der NotdienstVO, der eine Dienstverpflichtung ausländischer Arbeitskräfte ausschloß, ist außer Kraft gesetzt worden durch die Anordnung Nr. 10 des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz ... vom 22. August 1942 (RABl 1942, 382) i.V.m. der 6. VO des Militärbefehlshabers in Belgien und Nordfrankreich (MBN) vom 6. Oktober 1942 (VOBl des MBN 1942, 1059).

Hiernach ist es nicht erforderlich, auf die Verfahrensrügen des Klägers einzugehen, mit denen geltend gemacht wird, S. habe in einem dem Unfallversicherungsschutz unterliegenden Arbeitsverhältnis gestanden.

Die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls im Sinne des § 542 RVO aF sind jedoch, wie das LSG im Ergebnis mit Recht angenommen hat, nicht gegeben. Es fehlt an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall.

Allerdings entfällt der Versicherungsschutz nicht schon deshalb, weil die Kriegsgefahr, von welcher der Verletzte betroffen wurde, als eine allgemein wirkende Gefahr - wie z.B. Erdbeben, Überschwemmungen und sonstige Naturkatastrophen - anzusehen wäre, die wegen eines nur rein zufälligen Zusammentreffens mit der betrieblichen Tätigkeit den für einen Arbeitsunfall erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfall und versicherter Tätigkeit nicht begründen würde (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., S. 480 r, vgl. auch BSG 23, 79, 81 sowie Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl., geschichtliche Entwicklung, S. 82). Bei den im 2. Weltkrieg von den Luftangriffen der Alliierten auf Deutschland ausgehenden Bedrohungen handelte es sich nach der Auffassung des erkennenden Senats nicht schlechthin um solche allgemein wirkende Gefahren, obwohl die Angriffe auf die Zivilbevölkerung im Laufe des Krieges immer mehr verstärkt worden sind. Auch der Gesetzgeber geht davon aus, daß schädigende Ereignisse durch Kriegseinwirkungen (§ 1 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG) rechtlich zugleich Arbeitsunfälle im Sinne des Dritten Buches der RVO sein können (§ 54 BVG; vgl. BSG 23, 79, 81). Bei Unfällen infolge von Kriegseinwirkungen ist deshalb stets im Einzelfall zu prüfen, ob zwischen Unfall und betrieblicher Tätigkeit ein ursächlicher Zusammenhang besteht.

Der Verletzte ist von dem Luftangriff während der Nacht vom 19. zum 20. Oktober 1944 - außerhalb seiner Arbeitszeit - im Luftschutzkeller der S-Schule in S betroffen worden. Es kann zugunsten des Klägers unterstellt werden, daß die S-Schule, wie die Revision geltend macht, als Gemeinschaftsunterkunft im betrieblichen Interesse errichtet war und die hierfür vom Reichsverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften im Rundschreiben vom 13. Juli 1944 - RV 117/44 - für erforderlich erachteten Voraussetzungen vorlagen (vgl. auch die Zustimmung des RAM vom 29. Juni 1944). Dies allein reicht jedoch nicht aus, den Versicherungsschutz für alle Unfälle zu begründen, die sich in der Unterkunft ereignen. Nicht jeder Unfall, den ein Beschäftigter während des Aufenthaltes in einer im betrieblichen Interesse erstellten Gemeinschaftsunterkunft erleidet, erfüllt die Voraussetzungen eines entschädigungspflichtigen Arbeitsunfalls im Sinne des § 542 RVO aF. Vom Versicherungsschutz ausgenommen sind auch in sogenannten Betriebslagern die rein eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten, bei denen die Verfolgung persönlicher Interessen derart im Vordergrund steht, daß die Beziehung zu dem Beschäftigungsunternehmen bei der Bewertung der Unfallursachen als rechtlich unwesentlich ausgeschieden werden muß. Der Beschäftigte kann auch in einem Betriebslager privaten Verrichtungen nachgehen, die in keiner näheren Beziehung zur versicherten Tätigkeit stehen. Maßgebend ist somit auch bei Unfällen in Gemeinschaftslagern, die im betrieblichen Interesse errichtet sind, ob zwischen der unfallbringenden Verrichtung und der Tätigkeit im Unternehmen ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang besteht (vgl. RVA in EuM 46, 5, 7; RVA in BG 1944, 20; Brackmann aaO, S. 486 a; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Stand: Juni 1971, Kennzahl 123, S. 2/3). Im Rundschreiben des Reichsverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften vom 13. Juli 1944 wird der Aufenthalt in einem im betrieblichen Interesse errichteten Wohnlager ebenfalls nicht schlechthin als versichert angesehen. Es wird auch hier zwischen dem unversicherten eigenwirtschaftlichen Bereich und der betrieblichen Sphäre unterschieden. Unfallversicherungsschutz ist bei Unfällen in sogenannten Betriebslagern im allgemeinen nicht gegeben, wenn der Unfall sich - wie hier - nachts während der arbeitsfreien Zeit ereignet hat. Die Eigenart der Unterbringung kann allerdings dazu führen, daß auch Handlungen, die an sich der privaten Sphäre des Versicherten zuzurechnen sind, als solche betriebsbezogener Art anzusehen sind (Lauterbach aaO, § 548 Anm. 36; Podzun aaO, S. 5 zu 5). Das RVA ging davon aus, daß sich die Unfallversicherung der Arbeiter, die in einem Betriebslager untergebracht waren, auf Unfälle erstreckte, welche sich bei eigenwirtschaftlichen Handlungen während des Aufenthalts im Lager ereigneten, wenn der Unfall auf die besonderen Verhältnisse des Lagers zurückzuführen war (RVA in BG 1944, 114). Diese Auffassung kommt auch in früheren Entscheidungen des RVA (vgl. EuM 45, 2, 3; 46, 5, 6, 7) zum Ausdruck. In beiden Fällen ist der Versicherungsschutz bejaht worden, weil der Unfall durch die Beschaffenheit der im betrieblichen Interesse errichteten Wohngelegenheit oder Gemeinschaftseinrichtung oder durch besondere mit der Gemeinschaftsunterbringung verbundene Gefahren verursacht worden war. Durch solche Gefahren ist der Unfall des Verletzten S. indessen nicht wesentlich beeinflußt worden. Die Verletzung durch Fliegerbomben im Luftschutzkeller ist - auch in ihrer Schwere - nicht auf die Art der Unterbringung zurückzuführen. Die Verpflichtung, den in der S-Schule eingerichteten Luftschutzraum zu benutzen, ist nicht als eine besondere, mit der Unterbringung verbundene Gefahr anzusehen. Eine betriebsbezogene erhöhte Unfallgefahr ist hier nicht gegeben, denn die S-Schule ist bei einem allgemeinen Luftangriff auf S zerstört worden. Beherrschende Ursache für die Verletzung waren unter den gegebenen Umständen Kriegsereignisse. Die Gefahren der versicherten Tätigkeit treten auch bei der Unterbringung in einer im betrieblichen Interesse errichteten Gemeinschaftsunterkunft jedenfalls dann hinter die von derartigen Luftangriffen ausgehende Gefahrenlage zurück, wenn sie den Beschäftigten bei der Verrichtung privater Dinge betrifft. Der Aufenthalt des Verletzten im Luftschutzkeller während der Nachtzeit ist nicht dem betrieblichen Bereich zuzurechnen. Dem Interesse des Arbeitgebers daran, die Arbeitskraft der Beschäftigten zu erhalten, kommt gegenüber dem persönlichen Interesse des Beschäftigten, sich durch Aufsuchen des Luftschutzkellers vor gesundheitlichem Schaden zu bewahren, keine unfallversicherungsrechtlich wesentliche Bedeutung zu (vgl. BSG 9, 222, 225, 226). Daran ändert nichts, daß S. nach den damaligen Vorschriften verpflichtet war, einen Schutzraum aufzusuchen. Diese Verpflichtung galt für die gesamte Bevölkerung, sie bestand nicht wesentlich im betrieblichen Interesse.

Die zwangsweise Dienstverpflichtung des Verletzten rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Zwangsverpflichtung aus den besetzten belgischen Gebieten nach Deutschland ist nicht dem Beschäftigungsverhältnis zuzurechnen. Die Gefahrenlage, in die der Verletzte durch die Zwangsverpflichtung gekommen ist, gehört nicht zu den Risiken, die der Arbeitgeber und damit die gesetzliche Unfallversicherung zu tragen haben. Arbeitspolitische Maßnahmen des Staates, wie sie die Zwangsverpflichtung ausländischer Arbeitskräfte während des 2. Weltkrieges darstellen, bewirken - ohne entsprechende gesetzliche Regelung - für sich allein nicht ohne weiteres eine Ausdehnung des Unfallversicherungsschutzes auf den gesamten Aufenthalt des Beschäftigten.

Das deutsch-belgische Allgemeine Abkommen in Verbindung mit der 3. ZV sieht keine Wiedergutmachungsleistungen vor, es stellt vielmehr eindeutig darauf ab, ob nach den deutschen Rechtsvorschriften über die gesetzliche Unfallversicherung ein Anspruch besteht. Es bezweckt - wie bei zwischenstaatlichen Sozialversicherungsabkommen üblich - die Gleichbehandlung von belgischen und deutschen Staatsangehörigen und beruht daher im wesentlichen auf den gleichen Grundsätzen, die in den EWG-Verordnungen Nr. 3 und 4 enthalten sind. Es liegen auch keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, daß die Vertragsstaaten bei Abschluß des Allgemeinen Abkommens und der 3. ZV übereinstimmend davon ausgegangen sind, die im 2. Weltkrieg aus arbeitspolitischen Gründen von den zuständigen deutschen Stellen möglicherweise vertretene, mit den Rechtsvorschriften der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung nicht in Einklang stehende und deshalb unbeachtliche Auffassung, Fliegerschäden seien bei lagermäßig untergebrachten Ausländern allgemein als Arbeitsunfälle zu werten, zur Grundlage ihrer Vereinbarung zu machen.

Aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung steht dem Verletzten sonach eine Entschädigung nicht zu. Der Senat verkennt nicht, daß nach § 7 Abs. 2 BVG eine Leistungsverpflichtung der Versorgungsverwaltung nach dem BVG daran scheitert, daß der Verletzte nach den Rechtsvorschriften des Königreichs Belgien über Entschädigungsrenten für zivile Opfer des Krieges 1940 - 1945 und ihrer Hinterbliebenen vom 15. März 1954 wegen des in Deutschland erlittenen Unfalls in Belgien einen Versorgungsanspruch hat und keine diese Vorschrift ausschließende zwischenstaatliche Vereinbarung besteht. Aus diesem Grunde entfiel für die Vorinstanzen auch die Pflicht zur Beiladung des Trägers der Kriegsopferlast nach § 75 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Ein Entschädigungsanspruch für die Folgen der Zwangsmaßnahmen könnte den belgischen Opfern des nationalsozialistischen Regimes in Fällen der vorliegenden Art nur durch besondere Regelungen eingeräumt werden, etwa durch eine zwischenstaatliche Vereinbarung, wie wie sie für die aus den belgischen Ostkreisen stammenden Kriegsopfer, die zum Dienst in der deutschen Wehrmacht zwangsweise verpflichtet worden sind, mit dem Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Kriegsopferversorgung vom 21. September 1962 (BVBl 1964, 63 ff) abgeschlossen worden ist.

Eine Aussetzung des Revisionsverfahrens nach § 114 Abs. 2 SGG war nicht erforderlich. Da Auslegungsfragen des Gemeinschaftsrechts selbst dann nicht gegeben sind, wenn die 3. Zusatzvereinbarung als Bestandteil der EWG-VO Nr. 3 auf den vorliegenden Fall anzuwenden ist, kommt eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 177 Abs. 1 Buchst. b Abs. 3 des EWG-Vertrages nicht in Betracht (vgl. Urteil vom 16. Dezember 1971 - 2 RU 14/68 -). Ein Anlaß zur Aussetzung des Verfahrens bis zur Entscheidung des in Art. 52 Abs. 2 des Allgemeinen Abkommens genannten Schiedsgerichts besteht schon deswegen nicht, weil dieses nur auf Verlangen eines Vertragsstaates tätig werden kann und ein entsprechender Antrag nicht vorliegt.

Das LSG hat somit zu Recht die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückgewiesen.

Die Revision war deshalb zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670094

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