Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 20.10.1994; Aktenzeichen L 8 An 3/94)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. Oktober 1994 abgeändert.

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom Januar 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. November 1992 verurteilt, der Klägerin über den 31. Januar 1991 hinaus bis zum 31. Dezember 1991 monatlich 424,00 DM zu zahlen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Weitergewährung einer Witwenrente für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Dezember 1991, die der Klägerin aufgrund der Bestimmungen über die freiwillige zusätzliche Altersversorgung für Mitarbeiter der Gesellschaft für Sport und Technik (vom 9. August 1973, Beschluß des Präsidiums des Ministerrates; aufgeführt in Anl 1 Nr 20 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes ≪AAÜG≫ vom 25. Juli 1991, BGBl I S 1606, 1677) zuerkannt worden war.

Die 1937 geborene Klägerin war mit dem 1921 geborenen und am 14. April 1983 verstorbenen Diplom-Sportlehrer G. … Z. … verheiratet. Dieser hatte seit 1973 dem og Zusatzversorgungssystem angehört. Mit Bescheid vom 2. August 1983 war der Klägerin ab 1. April 1983 ua eine Witwenrente aus diesem Zusatzversorgungssystem in Höhe von 424,00 Mark (= 50 vH der zusätzlichen Versorgung ihres Ehemannes) bewilligt worden. Diese Rente wurde ihr bis zum 30. Juni 1990 in Mark und ab 1. Juli 1990 im Verhältnis 1:1 in DM weitergezahlt.

Im Januar 1991 teilte die Überleitungsanstalt Sozialversicherung – Zusatzversorgungen – der Klägerin mit, entsprechend der im Einigungsvertrag (EV) vom 31. August 1990 (BGBl II S 889) als fortgeltendes Recht bestätigten Bestimmung des § 26 des Gesetzes zur Angleichung der Bestandsrenten an das Nettorentenniveau der Bundesrepublik Deutschland und zu weiteren rentenrechtlichen Regelungen (Rentenangleichungsgesetz ≪RAG≫ vom 28. Juni 1990, GBl I Nr 38 S 495, BerS 1457) würden mit Ablauf vom 31. Dezember 1990 Versorgungszahlungen an erwerbsfähige Witwen eingestellt, sofern sie das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet hätten. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. November 1992 zurück; zu dessen Erlaß war sie durch Urteil vom 26. August 1991 verpflichtet worden (Sozialgericht ≪SG≫ Berlin – S 19 Z-An 11/91).

Das SG Berlin hat unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte sinngemäß verurteilt, der Klägerin über den 31. Dezember 1990 hinaus monatlich 424,00 DM zu zahlen (Urteil vom 10. November 1993). Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG dahin abgeändert, „daß der Klägerin die Hinterbliebenenversorgung erst mit Wirkung vom 1. Februar 1991 entzogen wird”; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20. Oktober 1994). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: § 26 RAG sei auch über den 2. Oktober 1990 hinaus geltendes Recht und finde daher auf die Hinterbliebenenversorgung Anwendung. § 26 RAG sei kein sich selbst vollziehendes Gesetz, so daß seine Umsetzung im Wege der Einzelfallprüfung durch Verwaltungsakt habe vollzogen werden müssen. Infolgedessen sei die Bewilligung der Hinterbliebenenversorgung gemäß § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), da die Klägerin erwerbsfähig gewesen sei, aufzuheben gewesen. Eine Aufhebung habe allerdings erst mit Wirkung vom 1. Februar 1991, mit Bekanntgabe des Bescheides, erfolgen dürfen. Denn die Klägerin habe den Wegfall ihrer Rentenberechtigung weder gekannt noch infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von §§ 31, 48 SGB X sowie eine verfassungswidrige Anwendung von § 26 RAG und trägt vor:

Bei dem Schreiben vom Januar 1991 habe es sich nicht um einen Verwaltungsakt gehandelt, da mit dem Schreiben keine Maßnahme zur Regelung eines Einzelfalles getroffen worden sei. Die Beklagte habe insoweit lediglich auf die Gesetzeslage hinweisen wollen; allein eine derartige Willensäußerung sei dem Bescheid zu entnehmen gewesen. Dies habe zur Folge, daß der im Verhältnis 1:1 umgestellte Betrag bis zur Aufhebung des bewilligenden Verwaltungsaktes weiterzuzahlen gewesen sei. Erstmals mit dem Widerspruchsbescheid vom 9. November 1992 habe die Beklagte erkennbar den ursprünglichen Bewilligungsbescheid vom August 1983 aufgehoben; mithin komme eine Entziehung der Leistung erst ab diesem Zeitpunkt in Betracht.

Im übrigen sei § 26 RAG verfassungskonform dahingehend einschränkend auszulegen; solche Renten, die in das Rentensystem der Bundesrepublik Deutschland zu überführen seien, hätten bis zur Feststellung der neuen Rente (nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB VI≫) Bestandsschutz.

Das Zahlungsbegehren werde begrenzt, da die Beklagte der Klägerin nunmehr eine Witwenrente nach den Bestimmungen des SGB VI zahle.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Berlin vom 20. Oktober 1994 und unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 10. November 1993 sowie unter Aufhebung des Bescheides vom Januar 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. November 1992 zu verurteilen, ihr für die Zeit über den 31. Dezember 1990 hinaus 424,00 DM monatlich zu zahlen,

hilfsweise,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung:

Das Schreiben vom Januar 1991 sei ein Verwaltungsakt, da mit ihm der ursprüngliche Rentenbescheid aufgehoben und mithin eine Regelung zu Lasten der Klägerin getroffen worden sei.

Im übrigen habe der Senat im Urteil vom 15. Dezember 1994 (- 4 RA 67/93 = SozR 3-8560 § 26 Nr 2) zu Unrecht die Ansicht vertreten, § 26 Abs 1 Satz 2 RAG sei nicht Bundesrecht geworden. Dem stehe entgegen, daß das RAG nach EV Kap VIII Sachgebiet F Abschn III Nr 8 ausdrücklich in Kraft geblieben sei. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gehe davon aus, daß die Rechtsfolgen nach § 26 Abs 1 Satz 2 RAG „eingetreten” seien. Bei der Frage, ob es sich insoweit um vor- oder nachkonstitutionelles Recht handele, habe das BVerfG normlogisch auch die Geltung des Gesetzes überprüft. Im übrigen kollidiere § 26 RAG nicht mit dem EV. Nach EV Nr 9 Buchst b Satz 3 Nr 1 seien nämlich Zusatzversorgungsleistungen dann abzubauen, wenn sie – wie die Hinterbliebenenrenten aus Zusatzversorgungssystemen – im Vergleich zu den allgemeinen Sozialversicherungsleistungen im Beitrittsgebiet überhöht seien. Dabei sei ein Vergleich mit den Hinterbliebenenrenten im Beitrittsgebiet und nicht etwa mit den Witwenrenten nach dem SGB VI anzustellen. Das SGB VI sei zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes zum EV noch nicht wirksam gewesen.

Zwischenzeitlich, zuletzt mit Bescheid vom 4. August 1994, hat die Beklagte der Klägerin eine große Witwenrente für die Zeit ab Januar 1992 von monatlich 1.120,33 DM (abzüglich des Beitragsanteils zur Krankenversicherung) bewilligt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist begründet.

Der Klägerin steht der mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 4 SGG) geltend gemachte Anspruch auf Hinterbliebenenzusatzversorgung in Höhe von 424,00 DM monatlich auch für die Zeit vom 1. Februar 1991 bis 31. Dezember 1991 zu. Ihr Klagebegehren ist auszulegen (§ 123 SGG). Es ist gerichtet auf die ununterbrochene Zahlung dieser Zusatzversorgungsrente bis zur Bewilligung und Zahlung der – höheren – Witwenrente nach dem SGB VI. Diese Witwenrente erhält die Klägerin – wie zwischen den Beteiligten nicht streitig – für die Zeit ab 1. Januar 1992.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist eine Rechtsgrundlage für die Aufhebung des die Hinterbliebenenversorgung bewilligenden Bescheides vom 2. August 1983 nicht ersichtlich. Weder ist dieser der Klägerin durch Bescheid zuerkannte Anspruch mit Wirkung für die Vergangenheit (§§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4, 39 Abs 2 SGB X, vgl zum Inkrafttreten des SGB X in den neuen Ländern zum 1. Januar 1991: EV Anl I Kap VIII Sachgebiet D Abschn III Nr 2) noch mit Wirkung für die Zukunft durch den in bezug auf die Klägerin einen Einzelfall regelnden Bescheid vom Januar 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. November 1992 entzogen worden (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X). Beide Bescheide sind mithin bereits aus diesem Grunde rechtswidrig und aufzuheben, so daß dahingestellt bleiben kann, ob eine § 24 SGB X entsprechende Anhörung durchgeführt worden ist.

Der Rentenbewilligungsbescheid vom 2. August 1983 ist gemäß Art 19 EV (vgl auch § 77 SGG) für die Beklagte bindend und somit Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin geblieben. Eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen iS von § 48 SGB X ist insoweit seit dem 31. Dezember 1990 nicht eingetreten. Es ist keine Ermächtigungsgrundlage ersichtlich, die es der Beklagten (bzw ihrer Rechtsvorgängerin, der Überleitungsanstalt Sozialversicherung – Zusatzversorgung –) gestattet hätte, die mit Bescheid vom 2. August 1983 bewilligte Leistung ab Januar 1991 bzw Februar 1991 durch Bescheid aufzuheben. Denn der als Grundlage allein in Betracht kommende § 26 RAG – auf den die Beklagte und ihre Rechtsvorgängerin sich gestützt haben – ist nicht anwendbar. Der Senat hält seine im Urteil vom 15. Dezember 1994 (SozR 3-8560 § 26 Nr 2) dargelegte Auffassung, der sich der 13. Senat angeschlossen hat (Urteil vom 9. August 1995 – 13/4 RA 53/93), nach erneuter Überprüfung aufrecht.

Durch den am 29. September 1990 in Kraft getretenen, mit Beginn des 3. Oktober 1990 in vollem Umfang Wirksamkeit erlangenden EV wurde § 26 Abs 1 RAG, soweit darin die Renten an erwerbsfähige Witwen und Witwer geregelt sind, für den gesamten Geltungsbereich der Vorschrift, dh auch für die Zeit ab 1. Juli 1990, unanwendbar. Denn die Vorschrift wurde spezialgesetzlich durch EV Nr 9b verdrängt. Als dem Bundesgesetzgeber wegen des Einigungsvertragsgesetzes vom 23. September 1990 (BGBl II S 885) direkt zuzurechnende Sachregelung geht EV Nr 9 also allen allgemeinen Bestimmungen in der Anl II des EV vor, in denen lediglich (übergangsrechtlich) die Fortgeltung oder weitere Anwendung von Recht der früheren DDR angeordnet wird. Die Spezialregelung tritt ihrerseits nur zurück, soweit im Text des EV selbst oder in den Anlagen hierzu eine originär dem Bundesgesetzgeber zuzurechnende abweichende Sachregelung getroffen worden ist. Diese kann zB in Maßgaben des EV zu fortgeltendem oder weiteranzuwendendem Recht der früheren DDR liegen. Hinsichtlich § 26 Abs 1 RAG hat der EV selbst aber keine derartige, die Spezialregelung in EV Nr 9 verdrängende, besondere Sachregelung getroffen, sondern lediglich in den allgemeinen Vorschriften zur Sozialversicherung das Inkraftbleiben des RAG angeordnet. Die dort zu einzelnen Vorschriften des RAG ausgestalteten Maßgaben betreffen § 26 RAG nicht und sind auch sonst ersichtlich nicht einschlägig.

§ 26 Abs 1 RAG wäre daher seit dem 3. Oktober 1990 nur anwendbares Recht geblieben, wenn die Vorschrift mit den in EV Nr 9 Buchst b getroffenen Regelungen vereinbar wäre. Das ist aber nicht der Fall. Sie steht vielmehr hierzu derart in Widerspruch, daß sie für den gesamten Zeitraum, für den Bundesrecht rückwirkend Anwendung findet, dh seit dem 1. Juli 1990 (ständige Rechtsprechung seit BSGE SozR 3-1300 § 44 Nr 8) nicht angewandt werden darf. § 26 RAG wurde als sekundäres Bundesrecht durch das originäre Bundesrecht im Überführungsprogramm des EV (und nicht etwa als älteres Gesetz durch ein jüngeres) „verdrängt” und damit gegenstandslos:

§ 26 Abs 1 RAG ist Bestandteil des zum 1. Juli 1990 von der demokratisierten DDR aufgrund Art 20 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR vom 18. Mai 1990 (BGBl II S 537) in Kraft gesetzten Konzepts zur Angleichung des Rentenrechts der DDR an das Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Da bei Abschluß dieses Staatsvertrages und auch bei Beschluß des RAG am 28. Juni 1990 noch nicht abzusehen war, wann die Wiedervereinigung Deutschlands würde erreicht werden können, beruhen die Regelungen des RAG auf dem Grundgedanken, die für die vereinbarte Angleichung notwendigen Änderungen möglichst zum 1. Januar 1991 in Kraft zu setzen. Angestrebt wurde, zu diesem Zeitpunkt ein in den wesentlichen Grundstrukturen einheitliches, von sachfremden Vergünstigungen bereinigtes Rentenversicherungsrecht der DDR zu schaffen, das im wesentlichen dem Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland entsprach.

Deshalb sah der Sechste Abschnitt des RAG über Zusatzversorgungssysteme auch für die zusätzlichen Versorgungen, die dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland fremd sind, deren Überführung im zweiten Halbjahr 1990 durch Neufestsetzung der Renten der Sozialversicherung vor (§ 24 Abs 1 Satz 1 RAG). Durch die Regelung über die Überführung bereits festgesetzter zusätzlicher Versorgungen (§§ 23, 24 RAG) und über die Überführung bisher erworbener Anwartschaften (§ 25 RAG) sollten die Berechtigten aus zusätzlichen Versorgungssystemen grundsätzlich den in der allgemeinen Sozialpflichtversicherung der DDR Versicherten gleichgestellt werden. Sachwidrig überhöhte Ansprüche und Anwartschaften sollten abgebaut werden, jedoch auch sachlich begründete Differenzierungen fortgeführt werden (vgl die Dynamisierung auch der auf Zusatzversorgungszeiten beruhenden Rententeile und die schonende Abschmelzung der noch gezahlten Teile der zusätzlichen Versorgung in §§ 24 Abs 5 und 25 Abs 2 RAG). Zur Beseitigung von – immer gemessen an dem Standard des DDR-Rentenversicherungsrechts, das ab 1. Januar 1991 gelten sollte – ungerechtfertigten Leistungen dienten die §§ 26 und 27 RAG.

Dabei bestand die nach Auffassung der Volkskammer durch § 26 Abs 1 RAG abzuschaffende sachwidrige Ungleichheit im Blick auf die Versorgung erwerbsfähiger Witwen und Witwer im Kern im folgenden: Gemäß § 19 der Rentenverordnung (Renten-VO) bestand in der allgemeinen Sozialpflichtversicherung der früheren DDR Anspruch auf Witwen- oder Witwerrente für Frauen ab Vollendung des 60. Lebensjahres und für Männer ab Vollendung des 65. Lebensjahres, ferner bei Vorliegen von Invalidität oder für Witwen mit einem Kind unter drei Jahren oder mit zwei Kindern unter acht Jahren, wenn der Verstorbene die finanziellen Aufwendungen für die Familie überwiegend erbracht und zum Zeitpunkt seines Todes die Voraussetzungen zum Bezug einer Alters-, Invaliden- oder Kriegsbeschädigtenrente erfüllt hatte (vgl auch Art 2 § 11 Rentenüberleitungsgesetz ≪RÜG≫). Demgegenüber sahen die zusätzlichen Versorgungssysteme – bei im einzelnen unterschiedlicher Ausprägung – die Gewährung einer Hinterbliebenenversorgung auch schon für Witwen bzw Witwer ohne weitere Voraussetzungen vor, die das 60. bzw das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten. So war es möglich, daß eine Witwe, die nach § 19 Renten-VO eine Witwenrente aus der Sozialpflichtversicherung noch nicht beanspruchen konnte, gleichwohl eine Hinterbliebenenversorgung aus dem zusätzlichen Versorgungssystem erhalten konnte (zzgl der Übergangshinterbliebenenrente nach § 20 Renten-VO). § 26 Abs 1 RAG sollte diese Besserstellung in den zusätzlichen Versorgungssystemen beseitigen. Dies klingt in dem mehrdeutigen Wortlaut der Vorschrift noch hinreichend klar an. Gerade deshalb ist er aber mit EV Nr 9 Buchst b nicht vereinbar.

EV Nr 9 hat das im RAG konkretisierte Konzept zur Überführung von Rentenansprüchen aus Zusatzversorgungssystemen in das Rentenrecht der DDR entscheidend verändert (ständige Rechtsprechung seit BSGE 72, 50, 65). Der vom RAG vorgesehene Zwischenschritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der Rechtseinheit in Deutschland auch auf dem Gebiet des Rentenversicherungsrechts, nämlich die Schaffung eines DDR-Rentenversicherungsrechts, das im wesentlichen dem Rentenversicherungsrecht der Bundesrepublik Deutschland entsprach (Art 20 Abs 1 des Staatsvertrages), wurde im Blick auf das ohnehin anstehende Inkrafttreten des SGB VI zum 1. Januar 1992 fallen gelassen; gemäß EV Nr 9 Buchst b Satz 1 waren nunmehr die in (Sonder- und) Zusatzversorgungssystemen erworbenen Ansprüche und Anwartschaften auf Leistungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Alter und Tod – soweit noch nicht geschehen – bis zum 31. Dezember 1991 in die Rentenversicherung zu überführen; gleiches galt nach EV Nr 9 Buchst a für das Versicherungs- und Beitragsrecht (näher zur Struktur von EV Nr 9 BSG SozR 3-8570 § 11 Nr 3 S 27 f; zur Bedeutung des neuen Überführungszeitpunktes „31. Dezember 1991” schon BSGE 72, 50, 56, 66). Damit aber hat EV Nr 9 schon den für die Qualifikation der Hinterbliebenenversorgung als ungerechtfertigte Leistung maßgeblichen Vergleichsmaßstab, nämlich das für die Zeit ab Januar 1991 vorgesehene bereinigte Rentenversicherungsrecht der DDR, durch das neue Ziel der Überleitung, nämlich das SGB VI ersetzt.

Nicht stichhaltig ist in diesem Zusammenhang das Vorbringen der Beklagten, in EV Nr 9 Buchst b Satz 3 Nr 1 sei vorgeschrieben, die zum 31. Dezember 1991 nach Satz 1 aaO überführbaren Ansprüche und Anwartschaften an das Rentenversicherungsrecht der DDR anzupassen. Denn die dort genannten „allgemeinen Regelungen der Sozialversicherung in dem in Art 3 des Vertrages genannten Gebiet” bestehen nach dem Geltungsanspruch des EV höchstrangig aus den Vorschriften des Grundgesetzes (GG; Art 3 EV), sodann aus denjenigen des EV selbst sowie des sonstigen im Beitrittsgebiet anwendbaren originären Bundesrechts einschließlich der unmittelbar in Anl II Kap VIII und speziell in EV Nr 9 getroffenen Sachregelungen; nur nachrangig, lückenfüllend und übergangsrechtlich ist auf die fortgeltenden bzw weiter anzuwendenden Regelungen des Rechts der früheren DDR kraft bundesrechtlichen Anwendungsbefehls und in dessen Grenzen zurückzugreifen.

Dies bedarf im vorliegenden Fall im einzelnen keiner erneuten Darlegung, weil jedenfalls der in EV Nr 9 Buchst f ermächtigte Verordnungsgeber, die Bundesregierung, bei der in EV Nr 9 Buchst b Satz 3 vorgesehenen Anpassung von vornherein hätte berücksichtigen müssen, daß jede Angleichung von Regelungen des Rentenrechts der früheren DDR im Blick auf die Überführung in das seit dem 1. Januar 1992 in ganz Deutschland geltende SGB VI zu keinen sachlich unvertretbaren, insbesondere unverhältnismäßigen Ungleichheiten führen durfte (Art 3 Abs 1 GG). EV Nr 9 Buchst b Satz 1 hat aber schon am 3. Oktober 1990, also zu einem Zeitpunkt, zu dem Rentenansprüche „erwerbsfähiger” Hinterbliebener auf Hinterbliebenenrenten aus Zusatzversorgungssystemen noch bestanden, ausdrücklich bestimmt, daß die erworbenen Ansprüche auf Leistungen wegen Tod in die Rentenversicherung zu überführen sind. Das originäre Bundesrecht hat also nicht zwischen erwerbsfähigen und nichterwerbsfähigen Witwen bzw Witwern unterschieden. Dementsprechend hat der parlamentarische Bundesgesetzgeber auch in § 4 Abs 1 AAÜG, das seit dem 1. August 1991 (statt EV Nr 9 Buchst f) gilt, ebenfalls vorgesehen, daß die „in Zusatzversorgungssystemen erworbenen Ansprüche auf zusätzliche Hinterbliebenenversorgungen (Abs 1 Nr 3 aaO) in die Rentenversicherung zu überführen sind”. Darüber hinaus ist in EV Nr 9 Buchst b Satz 2 bestimmt worden, daß bis zur Überführung (am 31. Dezember 1991) die leistungsrechtlichen Regelungen der jeweiligen Versorgungssysteme weiter anzuwenden sind, soweit sich „aus diesem Vertrag, insbesondere aus den nachfolgenden Regelungen, nichts anderes ergibt”. Außer in dem nachfolgenden Satz 3 Nr 1 finden sich aber „in diesem Vertrag” im Blick auf Renten ua wegen Todes keine anderweitigen Sachregelungen, die dem Bundesgesetzgeber originär zuzurechnen sind. In Satz 3 wird das (nach dem Konzept von EV Nr 9 gemäß Buchst f aaO durch die Bundesregierung als Verordnungsgeber durchzusetzende) Überführungs-und Anpassungsprogramm (in Anlehnung an Art 20 des Staatsvertrages) einer künftigen bundesrechtlichen Regelung zugewiesen. Schließlich wird in EV Nr 9 Buchst c Satz 1 gemäß der neuen Zielvorgabe des Überführungsprozesses bestimmt, daß die Versorgungssysteme bis zur Überführung der darin erworbenen Ansprüche und Anwartschaften in die Rentenversicherung weitergeführt werden. Demnach durfte nach EV Nr 9 Buchst f der Verordnungsgeber nur diejenigen Angleichungen vornehmen, die im Blick auf das Angleichungsziel, das ab dem 1. Januar 1992 in ganz Deutschland gültige SGB VI, sachgerecht und verhältnismäßig waren. Nach § 46 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI haben Witwen oder Witwer, die – wie die Klägerin – nicht wieder geheiratet haben, nach dem Tode des versicherten Ehegatten, der – wie der Ehemann der Klägerin – die allgemeine Wartezeit erfüllt hatte, Anspruch auf große Witwenrente/Witwerrente, wenn sie – wie die Klägerin – das 45. Lebensjahr vollendet haben. Das in EV Nr 9 Buchst b angestrebte Angleichungsziel kann also auf dem durch § 26 Abs 1 Regelung 2 RAG beschrittenen Weg schlechthin nicht erreicht werden. Die Anwendung dieser Vorschrift ist daher – und zwar für ihren gesamten zeitlichen Geltungsbereich ab 1. Juli 1990 – nach Maßgabe von EV Nr 9 Buchst b ausgeschlossen. § 26 Abs 1 Satz 1 und 2 RAG ist kein anwendbares Recht, soweit darin Regelungen über Versorgungen an erwerbsfähige Witwen und Witwer getroffen waren.

Diesem Ergebnis steht nicht entgegen, daß der Bundesrat in seiner Initiative zur Abänderung von § 26 Abs 1 Satz 2 RAG und die Bundesregierung in ihrer Erwiderung hierauf (BT-Drucks 12/630 S 18 f; 20 f) von der Annahme ausgegangen sind, das Bundesrecht sehe die Anwendung von § 26 Abs 1 RAG vor. Diese dort nicht näher begründete Rechtsauffassung findet – wie dargelegt – im EV keine hinreichende Grundlage. Das BVerfG hat ferner keinen Bestätigungswillen des parlamentarischen Bundesgesetzgebers iS von Art 100 Abs 1 GG festgestellt (SozR 3-8560 § 26 Nr 1); er habe sich diese Vorschrift weder aufgrund der vorgenannten Bundesratsinitiative noch aufgrund des EV oder der Beratungen zum RÜG zu eigen gemacht. Mit dem BVerfG ist der erkennende Senat der Ansicht, daß der parlamentarische Gesetzgeber diese Regelung nur für eine von vornherein begrenzte Übergangszeit bis zum 31. Dezember 1991 hingenommen, eine Prüfung ihrer Vereinbarkeit mit dem vorrangigen Inhalt des EV nicht vorgenommen und lediglich eine ausdrückliche Änderung vorerst unterlassen hat. Soweit das BVerfG (S 10 f aaO) im Blick auf die Beratungen zum RÜG angesprochen hat, diese seien erst im Mai 1991 erfolgt, „also zu einer Zeit, in der die von dieser Norm angeordnete Rechtsfolge, nämlich die Einstellung der Witwenrenten aus den Zusatzversorgungen an erwerbsfähige Witwen zum 31. Dezember 1990 bereits eingetreten” gewesen sei, handelte es sich um eine bloße Wiedergabe des Inhalts des § 26 Abs 1 RAG sowie der Verwaltungspraxis. Die Erörterungen erfolgten allein im Zusammenhang mit der Frage, ob es sich insoweit um vor- oder nachkonstitutionelles Recht handelt. Das BVerfG selbst hat nicht geprüft, ob die ihm vorgetragenen Rechtsansichten und die Verwaltungspraxis mit der objektiven Rechtslage vereinbar sind. Der erkennende Senat ist durch diese beiläufige Formulierung im Beschluß der 2. Kammer des 1. Senats des BVerfG nicht gebunden iS von § 31 Abs 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes. Er hat in eigener Kompetenz das „einfache” Gesetzesrecht, zu dem auch EV Nr 9 und das RAG gehören, auszulegen und über die Anwendbarkeit des § 26 Abs 1 RAG zu entscheiden. Im übrigen steht es dem BVerfG frei, auf welchen von mehreren Gesichtspunkten es seine Entscheidung stützen will.

Die Rentenbewilligung der Klägerin vom 2. August 1983 blieb daher auch für das Jahr 1991 wirksam, da am 31. Dezember 1990 keine wesentliche Änderung iS von § 48 SGB X eingetreten war. Die Klägerin kann mithin bis zum 31. Dezember 1991 die Zahlung von monatlich 424,00 DM als Hinterbliebenenversorgung beanspruchen.

Die Revision der Klägerin hat demnach Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173822

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