Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 24.11.1994; Aktenzeichen L 16 Ar 203/91)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 24. November 1994 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückgewiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Gewährung von Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise Berufsunfähigkeit (BU).

Die 1941 geborene Klägerin hat zunächst vier Klassen der Volksschule und anschließend eine Sonderschule für lernbehinderte Kinder besucht. Eine Berufsausbildung hat sie nicht abgeschlossen. Sie war von 1957 bis 1987 als Schneiderin, Maschinenstrickerin, Hutpresserin, Verkäuferin von Backwaren, Hausgehilfin, Zimmermädchen, Mechanikerin in einer Uhrenfabrik, Wäschereiarbeiterin, Kontrolleurin, Büglerin, Maschinenarbeiterin in einer Büroartikelfabrik und zuletzt von April 1984 bis Dezember 1987 als Schärerin. Von Januar 1988 bis September 1989 hat sie Arbeitslosengeld, danach Arbeitslosenhilfe bezogen.

Ein erstmals im Januar 1987 gestellte Rentenantrag der Klägerin blieb erfolglos (Bescheid vom 24. August 1987, Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1988, Urteil des Sozialgerichts (SG) Bayreuth vom 11. April 1989, Rücknahme der Berufung am 26. November 1991). Auch der erneute Rentenantrag der Klägerin vom 18. November 1991 hatte keinen Erfolg (Bescheid vom 11. Februar 1992, Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 1992, Urteil des SG Bayreuth vom 6. Mai 1993, Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 24. November 1994). Das LSG hat seine Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:

Die Klägerin sei imstande, weiterhin vollschichtig leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit bestimmten Einschränkungen zu verrichten. Sie könne mit ihrem Leistungsvermögen zwar nicht mehr in ihrem alten Beruf als Schärerin arbeiten, es ständen ihr aber noch zumutbare Verweisungstätigkeiten offen. Da sie bislang lediglich Hilfs- und einfache Anlerntätigkeiten verrichtet habe, könne sie auf alle ungelernten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verwiesen werden. Aufgrund einer leichten intellektuellen Minderbegabung mit Auswirkungen auf das logisch-abstrakte Denken sei sie zwar komplizierten Arbeitsabläufen nicht gewachsen. Einfache manuelle Hilfstätigkeiten, die sie zeitlebens verrichtet habe, seien ihr aber auch weiterhin zumutbar. Der Arbeitsmarkt sei nicht als verschlossen anzusehen, denn die Arbeitsfähigkeit der Klägerin werde nicht durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert. Bei der Notwendigkeit eines Ansprechpartners am Arbeitsplatz handele es sich nicht um eine ins Gewicht fallende spezifische gesundheitliche oder berufliche Einschränkung, die die Wettbewerbsfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausschließe. Die notwendige umfassende Einweisung in eine neue Tätigkeit werde vom jeweiligen Meister oder Vorarbeiter durchgeführt und könne durch Mitarbeiter ergänzt werden.

Die von der Klägerin beantragte Anhörung der Sachverständigen Dr. R. … Frage, ob die bei ihr festgestellte neurotische Arbeitsstörung mit den Belangen eines Arbeitsverhältnisses auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vereinbaren sei, habe der Senat nicht durchführen müssen, da die Beantwortung dieser Frage nicht in die Kompetenz des ärztlichen Sachverständigen falle. Auch dem weiteren Hilfsantrag auf Einholung eines Gutachtens von einem psychotherapeutisch geschulten Arzt für den Fall, daß die von der Sachverständigen Dr. R. … vorgenommene Einschätzung des Krankheitsbildes der Klägerin Zweifeln des Gerichts begegnen sollte, brauche der Senat ebenfalls nicht nachzukommen, da das Krankheitsbild der Klägerin diesbezüglich geklärt sei und die von der Sachverständigen Dr. R. … vorgenommene Einschätzung der Leistungsfähigkeit bei der Urteilsfindung berücksichtigt worden sei. Ferner habe dem Antrag auf Einholung eines berufkundlichen Gutachtens nicht stattgegeben werden müssen, denn die Klägerin sei auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar, auch lägen bei ihr keine spezifischen Einschränkungen vor. Da die Klägerin nicht berufsunfähig sei, sei sie erst recht nicht erwerbsunfähig.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision trägt die Klägerin im wesentlichen vor: Gerügt werde eine Verletzung der §§ 1247 Abs 2, 1246 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Bei ihr bestehe eine schwere spezifische Leistungsbehinderung, da während der gesamten Arbeitszeit ein Ansprechpartner zur Verfügung stehen müsse, der ihr den Sinn und das Ziel ihrer Tätigkeit bei der Arbeit verständlich mache. Deshalb hätte zumindest eine typische Verweisungstätigkeit genannt werden müssen. Selbst wenn man nicht der Auffassung sei, daß bei ihr bereits nach der bisherigen Rechtsprechung eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliege, müsse der Katalog der Fälle, bei denen Verschlossenheit des Arbeitsmarktes anzunehmen sei, als nicht abschließend angesehen werden. Für sie sei aufgrund der vielfältigen gesundheitlichen Einschränkungen sowie des Erfordernisses eines Ansprechpartners während der Arbeitszeit und der weitgehend internen Besetzung von Arbeitsplätzen, die für sie noch in Frage kämen, der Arbeitsmarkt als verschlossen anzusehen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Urteile des Bayerischen LSG vom 24. November 1994 und des SG Bayreuth vom 6. Mai 1993 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Februar 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 30. Juni 1992 zu verurteilen, ihr aufgrund ihres Antrags vom 18. November 1991 Rente wegen EU, hilfsweise BU, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Weiter hat sie sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (vgl § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist zulässig und begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG. Wegen fehlender Tatsachenfeststellungen kann noch nicht abschließend entschieden werden, ob das LSG zu Unrecht das Urteil des SG bestätigt hat, durch welches die auf Versichertenrente wegen EU, hilfsweise wegen BU, gerichtete Klage abgewiesen worden ist.

Der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen EU oder BU richtet sich noch nach dem Vierten Buch der RVO, da der Rentenantrag bereits im Jahre 1991 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden ist und er sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – ≪SGB VI≫; BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr 29).

Rente wegen EU, welche die Klägerin in erster Linie begehrt, erhält gemäß § 1247 Abs 1 RVO ein Versicherter, der erwerbsunfähig ist und zuletzt vor Eintritt der EU eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Erwerbsunfähig ist der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl § 1247 Abs 2 RVO).

Zwar ist die Klägerin im Rahmen der Prüfung von EU ohne subjektive Zumutbarkeitsbeschränkung (iS eines Berufsschutzes) auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar. Der vorliegende Fall gibt jedoch Anlaß, der Frage nachzugehen, ob sie mit ihren Leistungseinschränkungen – gemessen an den tatsächlichen Anforderungen der Arbeitswelt – noch in erforderlichem Umfang erwerbstätig sein kann (vgl dazu BSG SozR 3-2200 § 1247 Nr 8). Dies vermag der erkennende Senat auf der Grundlage der berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht sicher zu beurteilen, zumal das LSG keine für die Klägerin geeigneten Tätigkeitsfelder aufgezeigt hat.

Nach der jetzt vom Großen Senat des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (vgl den Beschluß vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr S 10 ff mwN) bestätigten Rechtsprechung des BSG ist einem Versicherten, der aus gesundheitlichen Gründen seine bisherige Erwerbstätigkeit nicht mehr verrichten kann, bei Verweisung auf das übrige Arbeitsfeld grundsätzlich zumindest eine Tätigkeit konkret zu benennen, die er noch auszuüben vermag. Eine derartige Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit ist hingegen nicht erforderlich, wenn der Versicherte – wie die Klägerin – zwar nicht mehr zu körperlich schweren, aber doch vollschichtig zu mittelschweren oder leichten Arbeiten in der Lage ist und auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ungelernter Tätigkeiten verweisbar ist.

Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist allerdings dann zu machen, wenn bei dem Versicherten eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt. In diesem Falle kann nämlich nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt für die an sich noch mögliche Vollzeittätigkeit eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen vorhanden ist. Es kommen vielmehr ernste Zweifel daran auf, ob der Versicherte mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist.

Im Hinblick darauf, daß der Große Senat des BSG die vom erkennenden Senat angestrebte Fortentwicklung der Rechtsprechung zur Benennung von ungelernten Verweisungstätigkeiten für erheblich leistungsgeminderte, aber noch vollschichtig einsetzbare Versicherte (vgl die Vorlagebeschlüsse vom 23. November 1994 – 13 RJ 19/93 – ua) auch mit Rücksicht auf zwischenzeitliche gesetzgeberische Maßnahmen (vgl §§ 43, 44 in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) abgelehnt hat, kommt den Merkmalen „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” eine besondere Bedeutung zu.

Der dargestellten Systematik entsprechend liegt eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung nur dann vor, wenn die Fähigkeit der Versicherten, zumindest körperlich leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten, zusätzlich in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Dazu hat nach Auffassung des erkennenden Senats der Große Senat des BSG in seinen Beschlüssen vom 19. Dezember 1996 hinreichend deutlich gemacht, daß die Frage, ob im konkreten Fall eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung anzunehmen ist, nur unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse der Arbeitswelt, insbesondere auch der dort an Arbeitnehmer gestellten Anforderungen, zutreffend beantwortet werden kann (vgl bereits BSG SozR 2200 § 1246 Nr 81).

Unter dem Begriff „schwere spezifische Leistungsbehinderung” werden vom BSG diejenigen Fälle erfaßt, wo bereits eine schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hingegen trägt das Merkmal „Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” dem Umstand Rechnung, daß auch eine Mehrzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. Jede qualitative Leistungseinschränkung, zB der Ausschluß von Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, versperrt der Versicherten eine bestimmte Gruppe von Arbeitsplätzen, dh alle Tätigkeiten, bei denen – und sei es auch nur gelegentlich – die nicht mehr mögliche Leistungserbringung gefordert wird. Jede weitere Leistungseinschränkung schließt ihrerseits einen anderen Bereich des Arbeitsmarktes aus, wobei sich diese Bereiche überschneiden, aber auch zu einer größeren Einengung des Arbeitsmarktes addieren können. Mit jeder zusätzlichen Einengung steigt die Unsicherheit, ob in dem verbliebenen Feld noch ohne weiteres Beschäftigungsmöglichkeiten unterstellt werden können. In diesem Sinne kann letztlich auch eine größere Summierung „gewöhnlicher” Leistungseinschränkungen zur Benennungspflicht führen.

„Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen” und „schwere spezifische Leistungsbehinderung” sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Konkretisierung nur schwer zugänglich sind. Denn zum einen sind die verschiedenen Leistungsanforderungen der auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Betracht kommenden Arbeitsplätze kaum überschaubar und zudem ständigen Veränderungen unterworfen. Zum anderen können sich qualitative Leistungseinschränkungen je nach ihrer bei einem Versicherten vorliegenden Anzahl, Art und Schwere ganz unterschiedlich auf dessen betriebliche Einsetzbarkeit auswirken. Feste Grenzlinien lassen sich nicht festlegen, zumal auch der Begriff „leichte Arbeiten”, auf den sich die genannten Merkmale als Ausnahmen beziehen, Unschärfen enthält, die es erforderlich machen, die im Einzelfall vorliegenden Leistungseinschränkungen insgesamt in ihrer konkreten Bedeutung für die Einsetzbarkeit des Versicherten auf dem Arbeitsmarkt zu bewerten. Nur so erscheint eine „vernünftige Handhabung dieser weiten Begriffe” gewährleistet, wie sie der Große Senat des BSG in seinem Beschluß vom 19. Dezember 1996 (GS 2/95, Umdr S 19) vorausgesetzt hat.

Im Hinblick auf diese Gegebenheiten sind die bisherigen Entscheidungen des BSG zum Vorliegen einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung nur als Einzelfallentscheidungen zu werten, die den Besonderheiten der jeweiligen Sachlage Rechnung zu tragen suchen. Die vom BSG jeweils vorgenommenen Beurteilungen mögen zwar – auch wenn sie weder näher begründet noch berufskundlich oder arbeitswissenschaftlich belegt worden sind – im allgemeinen nachvollziehbar sein, ihnen lassen sich jedoch keine generellen Abgrenzungskriterien entnehmen; allenfalls können sie – soweit sie auf aktuellen Erkenntnissen zu den Verhältnissen der Arbeitswelt beruhen – Anhaltspunkte für weitere Entscheidungen liefern.

Da es für die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, keinen konkreten Beurteilungsmaßstab gibt, können auch für die tatrichterliche Begründung und die dazu nötigen Tatsachenfeststellungen keine allgemeingültigen Anforderungen aufgestellt werden. Auch der jeweilige Begründungsaufwand richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere hängt er von der Anzahl, Art und Schwere der bestehenden qualitativen Leistungseinschränkungen ab. Je mehr diese geeignet erscheinen, gerade auch typische Arbeitsplätze für körperlich leichte Tätigkeiten zu versperren, um so eingehender und konkreter muß das Tatsachengericht seine Entscheidung zur Frage einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Leistungsbehinderung begründen.

Wie sich der Richter die jeweils erforderliche Tatsachenkenntnis verschafft, liegt in seinem Ermittlungsermessen (vgl § 103 SGG). Angesichts des (noch) unzulänglichen Gesamtüberblicks über typische Anforderungen ungelernter Verrichtungen ist ihm dabei ein weiter Freiraum für Einschätzungen zuzugestehen. Gleichwohl muß aber aus rechtsstaatlichen Gründen ein Mindestmaß an Berechenbarkeit und Nachvollziehbarkeit der Entscheidung gesichert bleiben. Zwar wird der Richter in vielen Fällen anhand allgemeinkundiger Tatsachen, seiner Berufserfahrung oder durch Beiziehung von Beweisergebnissen aus anderen Verfahren über eine Beurteilungsgrundlage verfügen, die eine Beweisaufnahme im Einzelfall erübrigt. Wegen der großen Beurteilungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten ist dann regelmäßig eine eingehende Erörterung der Einschätzungen mit den Beteiligten erforderlich. Dort, wo dies nicht ausreicht – was vor allem in Grenzfällen so sein wird –, ist jedoch eine Beweisaufnahme erforderlich, zB durch Anhörung eines Sachverständigen der Arbeitsverwaltung, um aufzuklären, ob noch ein ausreichendes Verweisungsfeld vorliegt oder, falls dies nicht der Fall ist, eine geeignete Tätigkeit konkret benannt werden kann.

Nach diesen Grundsätzen reichen die berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen nicht aus, um im vorliegenden Fall eine Pflicht zur Benennung einer Verweisungstätigkeit verneinen zu können. Den Feststellungen des LSG zufolge ist davon auszugehen, daß die Klägerin noch vollschichtig leichte Tätigkeiten verrichten kann. Nicht zuzumuten sind ihr das Heben und Tragen von Lasten, häufiges Bücken, unphysiologische Zwangshaltungen, Expositionen von Nässe und Kälte und besondere Anforderungen an die Sinnesorgane. Das Besteigen von Leitern und Gerüsten ist ausgeschlossen. Tätigkeiten unter Zeitdruck und in Wechsel- oder Nachtschicht, mit besonderen Anforderungen an das Reaktions- und Konzentrationsvermögen und solche Tätigkeiten sind zu vermeiden, die eine besondere geistige Anspannung verlangen. Der Klägerin muß zudem während der Arbeit ein Ansprechpartner zur Verfügung stehen, der ihr den Sinn und das Ziel ihrer Tätigkeit bei der Arbeit verständlich macht.

Das LSG hat dazu festgestellt, daß die Klägerin damit zwar ihren Beruf als Schärerin nicht mehr ausüben könne, für sie aber auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zumutbare Arbeitsplätze in ausreichendem Umfange vorhanden seien. Das LSG hat insoweit lediglich ausgeführt, es sei die Arbeitsfähigkeit der Klägerin nicht durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder durch eine besonders einschneidende Behinderung gemindert. Mit einer derart pauschalen Bewertung durfte sich die Vorinstanz nicht begnügen. Zwar hat das LSG mangels entsprechender Verfahrensrügen der Beteiligten für den erkennenden Senat verbindlich festgestellt (§ 163 SGG), daß der Klägerin auf dem Arbeitsmarkt in ausreichendem Maße jeweils ein Ansprechpartner zur Verfügung gestellt werden kann, der ihr Sinn und Ziel ihrer Tätigkeit bei der Arbeit verständlich macht. Es hat sich aber nicht mit den übrigen Leistungseinschränkungen der Klägerin befaßt.

Von den bei der Klägerin vorliegenden Einschränkungen mag zwar der Ausschluß von Heben und Tragen von Lasten, häufigem Bücken und Besteigen von Leitern und Gerüsten von dem Begriff „leichte Arbeiten” mit umfaßt sein. Bereits der Ausschluß von unphysiologischen Zwangshaltungen stellt aber eine zusätzliche Begrenzung dar, die sich bei sich wiederholenden Arbeitsvorgängen auswirken kann. Weiter scheiden mehrere Segmente des Arbeitsmarktes für leichte Arbeiten aus, wie Arbeitsplätze mit Expositionen von Nässe und Kälte, Wechsel- und Nachtschicht sowie Tätigkeiten unter Zeitdruck. Eine weitere Einschränkung enthält ferner der Ausschluß von Arbeiten mit besonderen Anforderungen an die Sinnesorgane, die sich bei leichten Arbeiten generell auswirken können. In dem verbleibenden Bereich leichter Tätigkeiten scheiden für die Klägerin außerdem Tätigkeiten mit besonderen Anforderungen an das Reaktions- und Konzentrationsvermögen sowie solche Tätigkeiten aus, die eine besondere geistige Anspannung verlangen. Für den Umfang der dadurch bewirkten Einschränkungen kommt es insbesondere darauf an, was in diesem Zusammenhang unter „besonderem Konzentrationsvermögen” und „besonderer geistiger Anspannung” zu verstehen ist, insbesondere inwieweit sie sich auf das für die Klägerin allein in Betracht kommende Spektrum einfacherer Tätigkeiten beziehen und welche Arbeiten hierdurch ausgeschlossen werden. Nähere Tatsachenfeststellungen dazu fehlen. Das LSG hätte sich mit diesen einzelnen Einschränkungen auseinandersetzen und ihre Bedeutung für die Einsetzbarkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt insgesamt bewerten müssen.

Da der erkennende Senat die somit noch erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst nachholen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Kommt das LSG nach weiterer Sachaufklärung zu dem Ergebnis, daß eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt, bleibt zu prüfen, ob für die dann zu benennende Verweisungstätigkeit der Arbeitsmarkt verschlossen ist (vgl dazu jetzt auch den Beschluß des Großen Senats des BSG vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – Umdr S 14). Dabei ist insbesondere in Betracht zu ziehen, daß es sich um Schonarbeitsplätze handeln könnte.

Sollte ein Versicherungsfall der EU letztlich zu verneinen sein, wäre noch auf das Vorliegen von BU einzugehen. Insoweit erscheinen ergänzende Feststellung zur Wertigkeit des bisherigen Berufs der Klägerin angezeigt. Dabei ist zu bedenken, daß allein das Fehlen einer förmlichen Berufsausbildung die Klägerin nicht zu einer ungelernten Arbeiterin iS des Mehrstufenschemas der Rechtsprechung (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 138, 140) macht. Insofern bedarf es zunächst einer genaueren Bestimmung des Inhaltes ihrer bisherigen Berufstätigkeit. Dazu gehört eine Klärung der allgemein erforderlichen Ausbildungs-, Anlern- oder Einweisungszeit. Von besonderer Bedeutung für die Beurteilung der letzten Tätigkeit ist nach der Rechtsprechung des BSG ferner deren tarifvertragliche Einstufung (vgl dazu zB BSG SozR 3-2200 § 1246 Nrn 13, 14).

Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

SozVers 1998, 218

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