Leitsatz (amtlich)

Bei der Berechnung der Höhe der Berufsausbildungsbeihilfe nach AFG § 40 darf als Einkommen des Auszubildenden aus dem Ausbildungsverhältnis nur die nach dem Ausbildungsvertrag tatsächlich zufließende Vergütung berücksichtigt werden; die Berücksichtigung eines fiktiven (höheren) Einkommens ist nicht zulässig.

 

Normenkette

AFG § 40 Abs 1 Fassung: 1975-12-18, §§ 37-38; AusbFöAnO § 15 Fassung: 1977-07-19, § 18 Fassung: 1977-07-19

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 30.05.1979; Aktenzeichen L 3 Ar 311/79)

SG Osnabrück (Entscheidung vom 30.01.1979; Aktenzeichen S 5 Ar 115/78)

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt von der Beklagten Berufsausbildungsbeihilfe (BAB).

Der 1961 geborene Kläger wurde in der Zeit vom 9. Oktober 1976 bis 8. Oktober 1979 im Jugendheim J zum Maurer ausgebildet. Er war dort im Rahmen der freiwilligen Erziehungshilfe auch untergebracht. Die Jugendheim J - GmbH (J.) und der Kläger haben am 17. Dezember 1976 einen Berufsausbildungsvertrag abgeschlossen, der am 22. Februar 1977 in das Verzeichnis der Baugewerbe-Innung der Kreishandwerkerschaft A -H eingetragen worden ist. Als Vergütung haben die Vertragsparteien für das erste Ausbildungsjahr 290,-- DM brutto und für das zweite Ausbildungsjahr 350,-- DM brutto vereinbart. Der Vertrag enthält in § 5 folgende Bestimmung: "Soweit Vergütungen tariflich geregelt sind, gelten mindestens die tariflichen Sätze". Die vereinbarte Ausbildungsvergütung entsprach damit dem Runderlaß des Niedersächsischen Kultusministers vom 1. Oktober 1975 (Niedersächsisches Ministerialblatt -Nds.MBl- 1975, 1583), in dem die Ausbildungsvergütungen an Jugendliche, denen freiwillige Erziehungshilfe in Heimen der Jugendhilfe gewährt wird, geregelt sind. Nach dem Runderlaß des Kultusministers vom 27. September 1977 (Nds.MBl 1977, 1328) wurde die Ausbildungsvergütung für das erste Ausbildungsjahr auf 325,-- DM und für das zweite Ausbildungsjahr vom 1. Januar 1978 an auf 390,-- DM festgesetzt. Von der dem Kläger danach zustehenden Ausbildungsvergütung wurden die nach der Sachbezugsverordnung berechneten Aufwendungen für Kost und Logis abgezogen.

Mit bindendem Bescheid vom 15. September 1977 bewilligte die Beklagte dem Kläger BAB für die Zeit vom 1. April 1977 bis 31. März 1978. Die Höhe der BAB wurde für die Zeit bis zum 21. September 1977 auf monatlich 40,-- DM festgesetzt. Dabei legte die Beklagte einen Bedarfssatz von 350,-- DM monatlich (Unterbringung bei den Eltern) zugrunde; als Einkommen des Klägers setzte sie eine fiktive tarifliche Ausbildungsvergütung an. Mit weiteren Bescheiden vom 24.Januar 1978 bewilligte die Beklagte die BAB in Höhe von 40,-- DM monatlich noch vom 22. September bis zum 8. Oktober 1977 und entzog die bewilligte BAB mit Wirkung ab 9. Oktober 1977. Als Begründung für den Entzug der BAB führte sie an, daß als anzurechnendes Einkommen des Auszubildenden die tarifliche Ausbildungsvergütung (696,-- DM brutto = 530,17 DM netto) zugrunde zu legen sei. Diese übersteige nunmehr den Bedarf des Auszubildenden für den Lebensunterhalt in Höhe von 350,-- DM und für die Ausbildung von 25,-- DM monatlich.

Der Widerspruch des Klägers wurde durch Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 1978 zurückgewiesen. Mit Urteil vom 30. Januar 1979 hat das Sozialgericht (SG) Osnabrück die Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese antragsgemäß verurteilt, dem Kläger BAB ab 22. September 1977 unter Zugrundelegung der tatsächlich gezahlten Ausbildungsvergütung zu zahlen. Die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 30. Mai 1979 zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, daß die Beklagte zwar zutreffend für die Berechnung des Bedarfs des Klägers den Pauschalsatz für Auszubildende, die im elterlichen Haushalt leben, zugrunde gelegt habe; denn der Kläger sei ausschließlich aus erzieherischen Gründen im Jugendheim J. untergebracht. Die Beklagte verkenne jedoch, daß es Auszubildenden grundsätzlich freigestellt sei, einen Ausbildungsvertrag auch zu untertariflichen Bedingungen abzuschließen. Diese vertraglichen Vereinbarungen habe die Beklagte hinzunehmen. Die Vertragsfreiheit sei nur insoweit eingeschränkt, als nach § 10 Abs 1 Berufsbildungsgesetz (BBiG) dem Auszubildenden eine angemessene Vergütung zu gewähren sei. Die in den Festsetzungen im Runderlaß des Kultusministers enthaltenen Ausbildungsvergütungen entsprächen diesen von der Kreishandwerkerschaft zu überwachenden (§ 32, §§ 22 ff BBiG) Anforderungen. Auch die §§ 15 und 18 Abs 1 der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über die individuelle Förderung der beruflichen Ausbildung (AAusbildung) vom 31. Oktober 1969 (ANBA 1970, 213) böten keine Handhabe, von einem tariflichen Mindesteinkommen von Auszubildenden auszugehen, welches diesen tatsächlich nicht zur Verfügung stehe. Etwas anderes lasse sich auch nicht aus der Bezugnahme in § 5 des Ausbildungsvertrages entnehmen. Die Klausel: "Soweit Vergütungen tariflich geregelt sind, gelten mindestens die tariflichen Sätze" beziehe sich nicht allgemein auf Tarifverträge, in deren Geltungsbereich das Ausbildungsverhältnis begründet werde. Die Bezugnahme sei vielmehr nur klarstellend in dem Sinne, daß im Falle der Tarifgebundenheit nicht die individuell vereinbarten Vergütungen, sondern die tariflichen Sätze gelten. Das Jugendheim J. sei aber nicht tarifgebunden. Der einschlägige Tarifvertrag sei auch nicht für allgemeinverbindlich erklärt worden.

Die Beklagte rügt mit der zugelassenen Revision eine Verletzung des § 40 Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) und der §§ 15 und 18 Abs 1 AAusbildung und bringt hierzu insbesondere vor: Der Kläger hätte ohne die Maßnahme der freiwilligen Erziehungshilfe auf dem freien Ausbildungsstellenmarkt ohne weiteres einen Ausbildungsplatz als Maurer erhalten können. In diesem Fall hätte die tarifliche Ausbildungsvergütung für das zweite Ausbildungsjahr die Gewährung von BAB wegen der Überschreitung der Bedarfssätze vollständig ausgeschlossen. Der Senat habe in BSGE 37, 64 jedoch entschieden, daß die Mehrkosten einer Unterbringung aus erzieherischen Gründen in einer Anstalt bei der Berechnung des Bedarfs nicht zu berücksichtigen seien. Entsprechendes müsse auch dann gelten, wenn der Auszubildende aus erzieherischen Gründen auf eine Ausbildung angewiesen sei, bei der er eine geringere als die tarifliche Ausbildungsvergütung erhalte. Anderenfalls würde die Beklagte mit Kosten belastet, die als Mehrkosten der Unterbringung aus erzieherischen Gründen entstünden. Durch die Anrechnung der fiktiven tariflichen (oder ortsüblichen) Ausbildungsvergütung werde eine Gesetzeslücke geschlossen. Dadurch trete auch keine Benachteiligung der Jugendlichen ein, weil die nicht durch BAB gedeckten Aufwendungen im Sinne von § 40 Abs 1 Satz 1 AFG anderweitig zur Verfügung stünden, nämlich durch Mittel der Jugendhilfe zu decken seien. Jedenfalls dürfe sich die durch das Kultusministerium festgesetzte niedrige Höhe der Ausbildungsvergütung nicht zu Lasten der Beklagten auswirken.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG Niedersachsen vom 30. Mai 1979 und das Urteil des SG Osnabrück vom 30. Januar 1979 aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Gegenstand des Verfahrens ist der in den angefochtenen Bescheiden vom 24. Januar 1978 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 1978 (§ 95 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ablehnend geregelte Anspruch des Klägers auf BAB für die Zeit ab 22. September 1977. Wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben, ist bei der Berechnung der Höhe der dem Kläger insoweit zustehenden BAB nur von seinem tatsächlichen Einkommen auszugehen. Dieses lag im streitigen Zeitraum zumindest zeitweise unter dem sich aus §§ 11 Abs 1 Satz 1, 13 AAusbildung (idF der 12. Änderungsanordnung vom 19. Juli 1977 - ANBA 1977, 1302) ergebenden Bedarf.

Bei der Ausbildung des Klägers zum Maurer im Jugendheim J. handelte es sich nach den Feststellungen des LSG um eine dem Grunde nach förderungsfähige Berufsausbildung im Sinne von § 40 Abs 1 Satz 1 AFG in der hier maßgeblichen Fassung des Haushaltsstrukturgesetzes-AFG vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113). Nach dieser Vorschrift gewährt die Bundesanstalt für Arbeit (BA) Auszubildenden Berufsausbildungsbeihilfen für eine berufliche Ausbildung u.a. in Betrieben oder überbetrieblichen Ausbildungsstätten, um die es sich hier handelt, soweit ihnen die hierfür erforderlichen Mittel anderweitig nicht zur Verfügung stehen. Für die in diesem Verfahren allein streitige Frage, was unter dem Begriff der zur Verfügung stehenden Mittel im Sinne des Einkommens des Auszubildenden zu verstehen ist, ergibt sich bereits aus dem Wortsinn des § 40 AFG, daß das Gesetz von dem dem Auszubildenden real verfügbaren Einkommen ausgeht, mithin eine Anrechnung fiktiven Einkommens nicht vorsieht. Dies wird auch in den Regelungen der §§ 37, 38 und 40 Abs 3 AFG deutlich. Der § 37 AFG entbindet die BA von der Leistungspflicht, soweit andere öffentlich-rechtliche Stellen zur entsprechenden Gewährung gesetzlich verpflichtet sind. Nach § 38 AFG hat die BA jedoch auch in diesen Fällen vorzuleisten, solange und soweit die "andere öffentlich-rechtliche Stelle" ihrer Verpflichtung nicht nachkommt; sie kann von dort lediglich im Wege der Überleitung Erstattung verlangen (§ 38 Abs 2 AFG). Vergleichbares gilt nach § 40 Abs 3 AFG für Unterhaltsleistungen, die der Auszubildende trotz Anspruchs hierauf tatsächlich nicht erhält. Folgerichtig sieht deshalb auch die nach § 39 AFG vom Verwaltungsrat der BA erlassene AAusbildung (hier idF vom 19. Juli 1977) die Anrechnung fiktiver Einkünfte nicht vor. Nach § 15 AAusbildung ist Einkommen (§ 18 AAusbildung) des Auszubildenden auf den Bedarf grundsätzlich in voller Höhe anzurechnen. Nach § 18 Abs 1 AAusbildung gelten als Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert nach Abzug der Steuern, der Beiträge zur Sozialversicherung und zur BA oder entsprechende Aufwendungen zur sozialen Sicherung in angemessenem Umfang. Ferner zählen zum Einkommen des Auszubildenden Beträge, die für Kost und Wohnung von der Ausbildungsvergütung einbehalten werden (§ 18 Abs 2 AAusbildung). Aus diesen Vorschriften ergibt sich, daß es für die Höhe der BAB auf das tatsächliche Nettoeinkommen des Auszubildenden ankommt. Für eine Anrechnung von Einkünften, die dem Auszubildenden weder in Form von Geld noch in Form von Sachbezügen zufließen, bieten die Vorschriften keinerlei Anhaltspunkte. Diese Regelung entspricht sachgerecht dem Sinn der Ausbildungsförderung nach dem AFG, die dem Berechtigten dann eine regelförmige Berufsausbildung ermöglichen soll, wenn er aus eigenen Kräften, dh mit den ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Mitteln hierzu nicht in der Lage ist.

Soweit es das Einkommen des Auszubildenden aus dem Berufsausbildungsverhältnis anbelangt - um das es hier geht -, ist demgemäß grundsätzlich von dessen tatsächlicher Gestaltung auszugehen (vgl auch Gagel/Jülicher, Arbeitsförderungsgesetz, RdNr 21 zu § 40). Danach erhielt der Kläger die in dem Ausbildungsvertrag aufgeführten Beträge als Ausbildungsvergütung. Diese Beträge und nicht ein (anderes) tarifliches Entgelt, auf das der Kläger, wie das LSG zutreffend entschieden hat, auch keinen Anspruch hatte, waren sein Einkommen aus dem Berufsausbildungsverhältnis. Die AAusbildung, die nur dessen Berücksichtigung vorschreibt, ist im übrigen nach dem gleichen Prinzip aufgebaut wie das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) idF der Bekanntmachung vom 9. April 1976 (BGBl I 989), was durchaus dem gesetzgeberischen Anliegen nach Harmonisierung des Förderungsrechts in beiden Regelungsbereichen entspricht (vgl BSGE 45, 20 = SozR 4100 § 40 Nr 15). Ebenso wie in den §§ 11 und 12 AAusbildung wird in den §§ 12 bis 14 BAföG der Bedarf der Auszubildenden nach allgemeinen Kriterien, wie zB dem Alter pauschaliert. Es wird auf der Bedarfsseite vom individuellen Bedarf abstrahiert und Abweichungen davon werden in Kauf genommen. Demgegenüber findet auf der Einkommensseite immer eine individuelle Betrachtung nach Maßgabe der tatsächlichen Verhältnisse statt. Dies gilt zum einen für das anzurechnende Einkommen des Auszubildenden selbst (§ 15 Satz 1 iVm § 18 AAusbildung sowie § 11 Abs 2 iVm §§ 21 ff BAföG), zum anderen für das anzurechnende Einkommen von Unterhaltsverpflichteten (§§ 16 und 17 iVm § 18 AAusbildung sowie § 11 Abs 2 iVm §§ 21 und 24 ff BAföG). Der Grundsatz der Individualisierung auf der Einkommensseite wird auch hier daran verdeutlicht, daß von dem Einkommen die jeweils entstehenden Werbungskosten abgezogen werden können (§ 18 Abs 3 AAusbildung sowie § 21 Abs 1 BAföG iVm §§ 2 Abs 3, 9, 9a Einkommenssteuergesetz); denn Werbungskosten fallen nicht bei jedem Einkommen in gleicher Höhe an, sondern vermindern das zu berücksichtigende Einkommen jeweils individuell. Die Ausnahme bei der Berücksichtigung von Werbungskosten des Auszubildenden in § 18 Abs 4 AAusbildung stellt nur insoweit eine Abweichung von dem aufgestellten Grundsatz der Individualisierung auf der Einkommensseite dar, als die wesentlichen Werbungskosten wie Fernunterrichtsgebühren, Lernmittel, Arbeitskleidung und Fahrkosten des Auszubildenden auf der Bedarfsseite gemäß § 13 AAusbildung gesondert berücksichtigt werden.

Von dem Grundsatz der individuellen Betrachtungsweise bei der Anrechnung von Einkommen des Auszubildenden in dem Sinne, daß weder pauschale noch fiktive Werte anzusetzen sind, ist die Rechtsprechung entgegen der Auffassung der Beklagten auch dann nie abgewichen, wenn Besonderheiten der Heimunterbringung von Auszubildenden zu berücksichtigen waren. Das Bundessozialgericht (BSG) hat vielmehr die Besonderheiten der Ausbildung eines Auszubildenden, der in einem Heim oder einer gleichwertigen Einrichtung der Jugendhilfe oder Sozialhilfe untergebracht ist, ausschließlich auf der Bedarfsseite berücksichtigt (vgl BSGE 37, 64 = SozR Nr 1 zu § 11 AAusbildung; im Anschluß daran ebenso der 12. Senat des BSG mit Urteil vom 12. März 1976 = SozR 4440 § 11 Nr 1). Er hat es dabei für gerechtfertigt gehalten, wenn die Beklagte nur diejenigen Kosten des Bedarfs für den Lebensunterhalt zu tragen hat, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der beruflichen Ausbildung stehen und nicht die Mehrkosten, die unabhängig davon durch allgemeine oder besondere erzieherische Maßnahmen veranlaßt worden sind (BSGE 37, 64, 67). Das BSG hat es dementsprechend gebilligt, daß bei der Berechnung des Bedarfs für den Lebensunterhalt bei einer erziehungsbedingten Heimunterbringung nicht der besondere Bedarf nach § 11 Abs 2 AAusbildung, sondern lediglich der Bedarf bei einer Unterbringung wie bei den Eltern nach § 11 Abs 1 AAusbildung zugrunde gelegt wird. Das BSG konnte sich insoweit auch auf § 40 Abs 1 Satz 1 AFG stützen, wo bestimmt ist, daß nur die für die Ausbildung "erforderlichen Mittel" durch Darlehen oder Zuschüsse bereitzustellen sind (vgl BSG SozR 4440 § 11 Nr 1, Bl 2). Von dieser durch die Rechtsprechung gebilligten Berechnungsweise ist die Beklagte auch im vorliegenden Falle bei der Berechnung der BAB des Klägers ausgegangen. Entgegen der Ansicht der Beklagten entspricht es jedoch keineswegs der Konsequenz der angeführten Rechtsprechung, wenn nunmehr nicht nur auf der Bedarfsseite, sondern auch auf der Einkommensseite fiktive Beträge zugrunde gelegt werden. Vielmehr hat der Senat in einem anderen Zusammenhang bereits klar zu erkennen gegeben, daß bei der Berechnung des anzurechnenden Einkommens grundsätzlich nur von dem individuell und effektiv verfügbaren Einkommen auszugehen ist. So hat der Senat in seinem Urteil vom 6. Oktober 1977 (BSGE 45, 20 = SozR 4100 § 40 Nr 15) bei der Berechnung des anzurechnenden Einkommens der Eltern den sogenannten Verlustausgleich zugelassen. Zur Begründung ist dazu ausgeführt, daß die AAusbildung die Anrechnung des Einkommens der Eltern nur danach bestimme, was tatsächlich vorhanden sei, nicht danach, was die Eltern in Erfüllung ihrer Unterhaltspflicht bei bestimmtem Verhalten leisten könnten. Damit ging die Anordnung von der tatsächlich getroffenen Entscheidung der Eltern aus, welche Einkunftsarten und in welcher Art sie diese nutzen wollten (BSGE 45, 20, 24).

Der gleiche Grundgedanke trifft für das Einkommen des Auszubildenden selbst und seine Entscheidung zu, mit welchem Ausbilder und zu welchen Bedingungen er ein Berufsausbildungsverhältnis begründen will, solange es sich - wie hier - nur um eine förderungsfähige Ausbildung im Sinne von § 40 AFG (iVm § 2 AAusbildung) handelt (vgl dazu Gagel/Jülicher, aaO, RNr 2 zu § 40). Den Vorschriften des § 40 AFG und den §§ 15, 18 AAusbildung kann keine Verpflichtung des Auszubildenden entnommen werden, nur solche Berufsausbildungsverhältnisse abzuschließen, für die tarifliche Bedingungen gelten. Nach diesen Bestimmungen steht dem Auszubildenden die Wahl der geeigneten Ausbildungsstelle vielmehr frei; deshalb hat es die Beklagte auch zu respektieren, wenn ein Auszubildender, der in einem Heim der Jugendhilfe oder Sozialhilfe untergebracht ist, ein Berufsausbildungsverhältnis zu den Bedingungen begründet, die nach entsprechenden Erlassen des zuständigen Ministeriums vorgesehen sind. Auch in diesem Zusammenhang ist der Zweck der BAB zu berücksichtigen, der neben der Unterhaltsersatzfunktion vor allem darin liegt, die Eingehung von beruflichen Ausbildungsverhältnissen zu erleichtern, gegebenenfalls überhaupt erst zu ermöglichen, um die Beschäftigungsstruktur zu verbessern und damit das Wachstum der Wirtschaft zu fördern (§ 1 AFG). Durch die BAB wird ferner die berufliche Beweglichkeit der Erwerbstätigen gesichert und verbessert (§ 2 Nr 2 AFG), womit die Risiken der Versichertengemeinschaft gemindert werden (BSGE 45, 20, 24 = SozR 4100 § 40 Nr 15, Bl 30). Demgegenüber ist es gerade nicht Aufgabe der Jugendwohlfahrtsbehörden, Ausbildungsbeihilfen zu gewähren (vgl §§ 5 Abs 1 Nr 7, 6 Abs 4 Jugendwohlfahrtsgesetz -JWG-). Insoweit bleibt die Leistungspflicht der BA nach § 40 AFG vorrangig (vgl § 81 Abs 2 JWG iVm § 77 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz -BSHG-).

Es kann offenbleiben, ob die tatsächliche oder eine andere Ausbildungsvergütung bei der Berechnung der BAB nach §§ 15, 18 AAusbildung zugrunde zu legen wäre, wenn die Ausbildungsvertragsparteien eine besonders niedrige Ausbildungsvergütung bewußt zu dem Zwecke vereinbart hätten, dem Auszubildenden einen Anspruch auf BAB zu verschaffen (vgl dazu BSGE 45, 20 25 = SozR 4100 § 40 Nr 15, Bl 31); denn für einen derartigen Sachverhalt sind hier keine Anhaltspunkte gegeben. Nach § 5 der Richtlinien des niedersächsischen Kultusministers für die Gewährung von Ausbildungsvergütung und Arbeitsvergütung in Heimen der Jugendhilfe vom 18. Februar 1974 (Nds.MBl Nr 21/1974 S. 1041 f) wird die Höhe der Ausbildungsvergütung nach dem von Handwerks- und Industrie- und Handelskammern ermittelten Durchschnitt der Ausbildungsvergütungen in den Berufen festgesetzt, für die in den Heimen am häufigsten ausgebildet wird. In besonderen Fällen kann sogar die ortsübliche Vergütung gewährt werden (aaO Nr 7). Diese Regelungen zeigen, daß der Festsetzung dieser Ausbildungsvergütungen sachliche Erwägungen zugrundeliegen. Der Senat braucht allerdings nicht darüber zu entscheiden, ob die in § 5 des Ausbildungsvertrages demgemäß vereinbarte Ausbildungsvergütung als eine angemessene Vergütung im Sinne des § 10 BBiG vom 14. August 1969 (BGBl I 1112) anzusehen ist. Wie bereits ausgeführt, ist für die Berechnung der BAB - abgesehen von dem Fall der Manipulation - grundsätzlich von der vereinbarungsgemäß tatsächlich gewährten Ausbildungsvergütung auszugehen. Für den Fall, daß die vereinbarte Vergütung nicht gesetzlichen Mindestnormen entspricht, etwa denen des § 10 BBiG oder bei Tarifgebundenheit denen des Tarifrechts, hätte der Auszubildende möglicherweise Anspruch auf eine höhere Vergütung. Das berechtigte die Beklagte jedoch (allein) noch nicht, für die Berechnung der BAB eine andere (höhere) Vergütung fiktiv in Ansatz zu bringen, weil diese Leistung, wie dargestellt, hinsichtlich der Anrechnung des Einkommens des Auszubildenden aus guten Gründen vom Prinzip des Tatsächlichen beherrscht wird. Nur auf diese Weise kann nämlich das Anliegen des Gesetzgebers Verwirklichung finden, eine sachgerechte Berufsausbildung aus Mitteln der Beklagten auch dann zu gewährleisten, wenn der Auszubildende zwar Ansprüche auf die Leistungspflicht der Beklagten mindernde Leistungen oder Einkünfte hat, diese aber nicht realisiert werden. Mit anderen Worten: Der Streit oder die Meinungsverschiedenheit über das von Rechts wegen zustehende aber nicht zufließende Einkommen des Auszubildenden darf bei der Berechnung der BAB nicht zu Lasten des Auszubildenden gehen und die Ausbildung nicht gefährden. Es mag sein, daß die Beklagte in solchen Fällen berechtigt ist, sich nicht erfüllte Ansprüche des Auszubildenden gegen an ihrer Stelle leistungspflichtige Dritte zuzueignen, etwa in Form der Abtretung. Mindestens entsprechend dem Grundsatz der Vorleistungspflicht aus § 38 AFG muß sie dem Auszubildenden gegenüber jedoch ungeachtet dessen eintreten. Der Senat verkennt nicht, daß dies zu Mehrbelastungen der BA führen kann, wenn nämlich andere Leistungsverpflichtete in bestimmten Fällen tatsächlich nicht in dem Umfange zur beruflichen Ausbildung beitragen, wie ihnen dieses nach allgemeinen Grundsätzen zumutbar erscheint oder sie sogar verpflichtet sind. Inhalt und Zweck der Regelungen des AFG und der AAusbildung stehen jedoch entgegen, diese Problematik zum Nachteil des Auszubildenden im Rahmen seines Anspruchs auf die ihm gegen die Beklagte zustehende BAB zu lösen.

Mußte die Beklagte nach allem bei der Berechnung des Anspruchs des Klägers auf BAB von der ihm nach dem Ausbildungsvertrag zufließenden Ausbildungsvergütung ausgehen, erweist sich ihre Revision gegen das insoweit zutreffende Urteil des LSG als unbegründet. Die Revision muß deshalb zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Breith. 1981, 166

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