Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausschluss der Berufung bei Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse

 

Orientierungssatz

Hat die Berufung das Ziel, den der Dauerrente zugrunde legenden Jahresarbeitsverdienst für die Zeit nach der Beendigung der Ausbildung des Klägers gemäß § 573 Abs 1 RVO nach dem ortsüblichen Entgelt vergleichbarer Personen neu zu berechnen, betrifft die Berufung die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse nach § 145 Nr 4 SGG (Beendigung bzw voraussichtliche Beendigung der Ausbildung, § 573 Abs 1 RVO).

 

Normenkette

SGG § 145 Nr. 4; RVO § 573 Abs. 1, § 575

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. Januar 1974 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 25. April 1972 wird als unzulässig verworfen.

Kosten für das Klage-, Berufungs- und Revisionsverfahren sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Der am 23. Dezember 1951 geborene Kläger erlitt am 19. Mai 1969 während der Lehrlingsausbildung für den Beruf des Einzelhandelskaufmanns (Fachbranche Haushaltsgeräte und Eisenwaren, hier: Elektro-Großgeräte, Heizung, Sanitär) einen Verkehrsunfall, bei dem er schwer verletzt wurde. Die Beklagte gewährte ihm durch Bescheid vom 26. Januar 1971 wegen der Folgen des Unfalls eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. und vom 1. Februar 1971 an eine Dauerrente nach einer MdE um 70 v. H. Dieser Bescheid ist durch - rechtskräftiges - Urteil des Sozialgerichts (SG) Itzehoe vom 6. September 1971 hinsichtlich der Dauerrente auf eine MdE von ebenfalls 80 v. H. geändert worden. Als Jahresarbeitsverdienst (JAV) legte die Beklagte, da die Lehrlingsvergütung des Klägers niedriger lag, das 300-fache des Ortslohns zugrunde (3.990,- DM).

Nach dem Unfall setzte der Kläger die Lehre fort und legte im Juli 1971 die abschließende Prüfung ab. Anschließend arbeitete er als Geselle bei seinem Dienstherrn gegen eine Vergütung von monatlich 549,99 DM. Die Firma teilte der Beklagten mit, normalerweise würde der Kläger ein Anfangsgehalt von 1.000,- DM brutto beziehen, der Tariflohn werde nur mit Rücksicht auf die durch die Unfallfolgen stark verminderte Leistungsfähigkeit des Klägers gezahlt.

Durch Bescheid vom 28. Dezember 1971 setzte die Beklagte den JAV als Bemessungsgrundlage der durch Bescheid vom 26. Januar 1971 gewährten Verletztenrente für die Zeit vom 1. August 1971 an nach § 573 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) - Beendigung der Ausbildung - auf 7.690,- DM neu fest. Dabei legte sie den Tariflohn des Gehalttarifvertrages für die Angestellten im Einzelhandel von Schleswig-Holstein in Höhe von monatlich 630,- DM zuzüglich 130,- DM Urlaubsgeld zugrunde.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, bei der Neuberechnung des JAV sei nach § 573 Abs. 1 Satz 2 RVO wahlweise von dem - höheren - ortsüblichen Entgelt auszugehen. Dieses habe mindestens 1.000,- DM monatlich betragen. Das SG hat die Klage, die darauf gerichtet ist, die Rente vom 1. August 1971 an nach einem JAV von 12.000,- DM zu gewähren, durch Urteil vom 25. April 1972 abgewiesen. Es ist in Übereinstimmung mit dem Landessozialgericht (LSG) Hamburg (Breithaupt 1970, 110) der Auffassung, der ortsübliche Lohn sei nur maßgebend, wenn kein Tarifvertrag besteht. In der Rechtsmittelbelehrung hat es die Berufung als zulässig bezeichnet.

Durch Urteil vom 18. Januar 1974 hat das LSG dem Antrag des Klägers entsprechend das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 1971 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, durch einen neuen Bescheid der dem Kläger vom 1. August 1971 an zu gewährenden Verletztenrente einen JAV von 12.000,- DM zugrunde zu legen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Berufung sei zulässig, Ausschlußgründe (§§ 144 ff des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) lägen nicht vor. In der Sache sei die Berufung begründet. Die Auffassung des SG, die Berechnung nach dem tariflichen Entgelt sei vorrangig, werde weder dem Wortlaut noch dem Sinn des § 573 RVO gerecht. Von ihrem Wortlaut her sei die Vorschrift dahin zu verstehen, daß der Gesetzgeber von der Existenz verschiedener Entlohnungsübungen ausgehe, von der tariflichen und einer sonstigen, vom Tarif abweichenden bzw. tariflosen Entlohnung. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers werde üblicherweise tariflich entlohnt, der ortsübliche Lohn sei der Berechnung zugrunde zu legen, wenn er vom tariflichen abweiche oder ein Tarif überhaupt fehle. Diese Auslegung ergebe sich auch aus dem Sinn und Zweck des Gesetzes, Nachteile auszugleichen, die dem Versicherten dadurch entstehen könnten, daß er zur Zeit des Arbeitsunfalls noch in Ausbildung gestanden habe. Die vollständige Durchführung des durch § 573 Abs. 1 RVO angestrebten Ausgleichs erfordere es, den Schüler und Lehrling von der Zeit des voraussichtlichen Abschlusses der Ausbildung an so zu stellen, als habe er den Unfall nach Beendigung der Ausbildung erlitten. Dies werde erreicht, wenn der Berechnung des JAV der von Ausgebildeten erzielte bzw. erzielbare JAV, also der reale und nicht der niedrigere Tariflohn zugrunde gelegt werde. Es spreche nichts dafür, daß der Gesetzgeber den Normzweck nur mit Einschränkung habe verfolgen wollen. Dem stünde auch das Prinzip der Lohnausgleichsfunktion der Rente entgegen, dem nicht entsprochen werde, wenn der JAV nach einer tariflichen Vereinbarung bemessen würde, über welche die tatsächliche Übung des Arbeitsmarktes hinweggegangen sei. Überdies sei die Regelung über die Bemessungsgrundlage von dem Gedanken der Meistbegünstigung geprägt. Es wäre auch mit Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht vereinbar, die ortsübliche Entlohnung bei der Berechnung der Rente nur zugrunde zu legen, wenn eine tarifliche Regelung nicht bestehe. Ein tarifloser Zustand auf einigen Gebieten des Arbeitsmarktes sei kein Grund, die davon betroffenen Versicherten anders zu behandeln als die übrigen, sofern und da eine einheitliche Behandlung ohne Beeinträchtigung des Gesetzeszweckes möglich sei. Die Absicht des Gesetzgebers, das Verwaltungsverfahren möglichst einfach zu gestalten, stehe dem vom LSG gefundenen Ergebnis nicht entgegen, weil eine Vereinfachung der Leistungsgewährung sinnvoll nur in den Grenzen angestrebt werden könne, die durch die Verwirklichung des Leistungszwecks gezogen seien, also nicht zu Lasten der mit § 573 Abs. 1 RVO bezweckten Gleichstellung der während der Ausbildung Verunglückten gehen dürfe. Der Antrag des Klägers sei auch der Höhe nach begründet, da das ortsübliche Entgelt nach dem Ergebnis der Ermittlungen mindestens monatlich 1.000,- DM betragen habe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie ist der Auffassung, die Berufung des Klägers sei gemäß § 145 Nr. 4 SGG unzulässig. In der Sache hält sie an ihrer Auffassung fest, daß bei der Bemessung des JAV nach § 573 RVO die tarifliche Regelung vorrangig sei. Gegen die Feststellung des LSG, das ortsübliche Entgelt habe mindestens monatlich 1.000,- DM betragen, hat sie keine Einwendungen erhoben.

Sie beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Itzehoe vom 25. April 1972 zu verwerfen bzw. zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die - zulässige - Revision der Beklagten ist im Ergebnis begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG als unzulässig zu verwerfen, da die Berufung nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen ist.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist bei einer zulässigen Revision auch ohne Revisionsrüge oder Antrag des Revisionsbeklagten von Amts wegen die Zulässigkeit der Berufung zu prüfen (vgl. BSG 2, 225, 226; 2, 245, 246; 3, 124, 126; 15, 169, 172). Das LSG hat - ohne nähere Ausführungen - angenommen, Berufungsausschlußgründe (§§ 144 ff SGG) lägen nicht vor. Die Berufung des Klägers betrifft jedoch die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse. Eine solche Berufung ist nach § 145 Nr. 4 SGG - von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmefällen abgesehen - nicht zulässig.

Die Berufung des Klägers richtet sich - wie auch die Klage - gegen den Bescheid der Beklagten vom 28. Dezember 1971 mit dem Ziel, den der Dauerrente zugrunde liegenden JAV für die Zeit vom 1. August 1971 an, also nach Beendigung der Ausbildung des Klägers, gemäß § 573 Abs. 1 RVO nach dem ortsüblichen Entgelt vergleichbarer Personen neu zu berechnen und nicht wie im angefochtenen Bescheid nach dem durch Tarif festgesetzten Entgelt. Die erste Dauerrente hatte die Beklagte durch den bindend gewordenen Bescheid vom 26. Januar 1971 schon für die Zeit vom 1. Februar 1971 an festgestellt und den JAV gemäß § 575 RVO nach dem Ortslohn berechnet. Der Bescheid vom 28. Dezember 1971 und damit auch die Berufung gegen das klageabweisende Urteil betreffen somit die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 145 Nr. 4 SGG (Beendigung bzw. voraussichtliche Beendigung der Ausbildung, § 573 Abs. 1 RVO). Im Hinblick auf den - mit der Berufung weiter verfolgten - Klageanspruch auf Berechnung des JAV für die Zeit nach beendeter Ausbildung entsprechend dem ortsüblichen Entgelt handelt es sich nach alledem nicht - wie in einem anderen vom BSG entschiedenen Fall (BSG 10, 282) - lediglich darum, daß aus Anlaß einer an sich unstreitig vorzunehmenden Neuberechnung wegen Änderung der Verhältnisse darüber gestritten wird, welche Vergleichsperson von Anfang an für die Ermittlung des Entgelts maßgebend gewesen sei. § 145 Nr. 4 SGG schließt die Berufung in solchen Fällen grundsätzlich aus, in denen über die zu entschädigenden Gesundheitsstörungen im Grunde kein Streit besteht (vgl. BSG SozR Nr. 1 zu § 145 SGG). Bedenken gegen den Ausschluß der Berufung in Fällen der vorliegenden Art lassen sich auch nicht daraus herleiten, daß bei der Auslegung des § 573 RVO Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung auftreten können (vgl. BSG SozR Nr. 9 und 14 zu § 145 SGG). Soweit erforderlich, kann hier mit der Zulassung der Berufung durch das SG nach § 150 Nr. 1 SGG geholfen werden.

Ein Anwendungsfall des § 150 SGG, der ungeachtet des Berufungsausschlußgrundes zur Zulässigkeit der Berufung führen würde, liegt nicht vor. Der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit dem Arbeitsunfall ist nicht streitig (§ 150 Nr. 3 SGG). Der Kläger hat im Berufungsverfahren einen wesentlichen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens nicht gerügt (§ 150 Nr. 2 SGG). Auch hat das SG die Berufung nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen. Die Berufungszulassung muß im Urteil eines SG eindeutig ausgesprochen sein. Der bloße Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung - wie im vorliegenden Fall -, die Entscheidung könne mit der Berufung angefochten werden, reicht hierfür nicht aus (BSG 2, 121, 125; 2, 245, 246; 4, 261, 263; 8, 147, 148 f).

Das LSG hätte somit über die Berufung des Klägers nicht in der Sache entscheiden dürfen. Die Berufung des Klägers ist als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1749923

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