Entscheidungsstichwort (Thema)

Verkehrsunfall als Arbeitsunfall

 

Orientierungssatz

Ein Verkehrsunfall, bei dem der eine Fahrer infolge hohen Blutalkoholgehalts absolut fahruntüchtig war, wird nicht als Arbeitsunfall anerkannt, es sei denn, die überhöhte Geschwindigkeit des anderen Fahrers ist Unfallursache.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1 S. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 10.10.1967)

SG Köln (Entscheidung vom 06.12.1966)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Oktober 1967 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

E St (St.), der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2) und 3), war im Januar 1964 als Hilfsarbeiter bei der M ... in K beschäftigt. Ihm war die Tätigkeit des Verwalters in der Sackkammer und der Bierverkauf an die Betriebsangehörigen übertragen. St. war Schwerbeschädigter (oberschenkelamputiert). Für die Fahrt von seiner Wohnung in Hn zu seiner Arbeitsstelle und zurück benutzte er regelmäßig sein Moped. Am 29. Januar 1964 beendete er um 15.31 Uhr seine Arbeit. Nach dem Umkleiden bestieg er noch auf dem Werksgelände sein Moped. Er fuhr zum Fabriktor, das an der U-straße in Kalscheuren liegt. An der - etwa 5 m breiten - Ausfahrt wird das Fabrikgelände zur U-straße hin von einer Mauer begrenzt, im übrigen von einer Hecke. Zwischen Hecke und Straße befindet sich ein 3 m breiter Gehweg. Die Fahrbahn der U-straße ist in Höhe des Fabriktores etwa 6 m breit. St. wollte mit seinem Moped nach dem Verlassen des Fabrikgeländes nach rechts in die U-straße einbiegen, um nach Hause zu fahren. Beim Einbiegen wurde er von einem Kombi-Kraftwagen erfaßt, den L K (K.) steuerte. St. kam durch den Anstoß zu Fall. Beim Sturz wurde er erheblich verletzt. K. brachte sein Kraftfahrzeug unmittelbar nach dem Zusammenstoß mit dem Moped des St. zum Stehen. Der Kombiwagen stand etwa zur Hälfte in Höhe der Fabrikausfahrt in Richtung H. St. und sein Moped lagen links neben dem Kombiwagen auf dem Gehweg oder in der Fabrikausfahrt in Höhe des Gehweges der U-straße. St. wurde um 16.30 Uhr tot in ein Krankenhaus in H eingeliefert. In der Todesbescheinigung ist als wahrscheinliche Todesursache ein Verletzungsschock angegeben worden. Um 17.20 Uhr wurde im Krankenhaus von der Leiche des St. eine Blutprobe entnommen. Die Untersuchung der Blutprobe ergab einen Alkoholgehalt von 2,02 0 / 00 .

K. war mit dem Kombiwagen aus Richtung H gekommen. Etwa 100 m vor der Ausfahrt der Malzfabrik hatte er damit begonnen, einen vor ihm fahrenden Lastzug, der mit einer Geschwindigkeit von etwa 35 km/h fuhr, zu überholen. Beim Überholen fuhr K. mit einer Geschwindigkeit von 60 km/h, obwohl die U-straße an der Unfallstelle im Ortsbereich der Gemeinde K liegt. Als K. feststellte, daß St. mit seinem Moped in die U-straße einbog oder sich dazu anschickte, bremste er nach seinen Angaben sofort sein Fahrzeug ab. Es gelang ihm aber nicht, seinen Kombiwagen rechtzeitig zum Stehen zu bringen. Die Fahrbahn der U-straße in der Umgebung der Unfallstelle bestand aus Kleinpflaster. Sie war am Unfalltag naß und schlüpfrig. Außerdem war sie zu den Rändern hin stark gewölbt. Nach dem Unfall wurde die Bremsspur des Kombiwagens gemessen. Sie war etwa 26 m lang und befand sich auf der äußersten linken Fahrbahnseite. Das linke Vorderrad des Kombiwagens stand nach dem Unfall etwa 0,60 m, das linke Hinterrad etwa 0,40 m vom Fahrbahnrand entfernt.

Das gegen K. eingeleitet Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung des St, ist mit der Begründung eingestellt worden, daß ein Verschulden nicht nachgewiesen werden könne.

Die Beklagte lehnte es mit Bescheid vom 14. Mai 1964 ab, den Unfall des St. als Arbeitsunfall anzuerkennen. Sie begründete dies damit, daß St. im Augenblick des Unfalls durch den vorher genossenen Alkohol absolut fahruntüchtig gewesen sei. Seine absolute Fahruntüchtigkeit sei die allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen. Der hiergegen erhobenen Klage hat das Sozialgericht Köln durch Urteil vom 6. Dezember 1966 stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 10. Oktober 1967 die Klage abgewiesen. Es hat festgestellt, daß St. im Augenblick des Unfalls infolge Alkoholgenusses absolut fahruntüchtig gewesen sei. In der absoluten Fahruntüchtigkeit hat es die rechtlich allein erhebliche Ursache des Unfalls gesehen. Dazu hat das Berufungsgericht ausgeführt: Es stehe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, daß St. auf der Fahrbahn der U-straße von dem von K. gesteuerten Kombiwagen erfaßt worden sei, als der Lenker seines Mopeds bereits in Richtung H gezeigt habe. Es stehe weiter fest, daß St. mit seinem Moped nicht gestanden habe, als er von der linken Seite des Kombiwagens erfaßt worden sei, und daß der Kombiwagen nach dem Zusammenstoß mit St. sofort zum Stehen gekommen sei. Schließlich sei festgestellt, daß K. in dem Augenblick, als St. ihn erstmals hätte erkennen können. mit dem Führersitz seines Kombiwagens bereits in Höhe der Gabel zwischen dem Motorwagen und dem Anhänger oder in Höhe des Anhängers des Lastzuges gewesen sei. den er habe überholen wollen. Aus der Länge der Bremsspur in Verbindung mit den Aussagen des K. sei weiterhin festzustellen, daß K. in dem Augenblick, als er den St. zum ersten Mal habe sehen können und gesehen habe, noch etwa 35 bis 40 m von der Fabrikausfahrt entfernt gewesen sei und daß es ihm nicht möglich gewesen sei, vor dem Erreichen des Fabriktores auf die rechte Fahrbahnseite zu fahren. Im Gegensatz zu den vom Sozialgericht gehörten technischen Sachverständigen Dipl. Ing. B und Dipl. Ing. S hat das LSG schließlich festgestellt, daß der Zusammenstoß mit dem Moped für K. unvermeidbar gewesen sei.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts war die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um etwa 10 km/h für den Eintritt des Unfalls nicht ursächlich, weil sie nicht wesentlich dazu beigetragen habe. Hierzu hat das LSG ausgeführt: Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme, insbesondere mit Rücksicht auf die festgestellte Fahrweise des St. unmittelbar vor dem Unfall, müsse festgestellt werden, daß es zum Zusammenstoß des Kombiwagens mit dem Moped des St. auch dann gekommen wäre, wenn K, die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h beim Überholungsvorgang eingehalten hätte.

Mit der vom LSG nicht zugelassenen Revision rügen die Kläger, das Berufungsgericht habe den Sachverhalt nicht hinreichend erforscht, die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten und das rechtliche Gehör sowie die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltende Kausalrechtsnorm verletzt. Der Sachvortrag der Kläger und die vom Sozialgericht eingeholten technischen Gutachten seien nicht vollständig verwertet und gewürdigt worden. Das LSG habe insbesondere nicht ersichtlich gemacht, wieso die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit um mindestens 10 km/h nicht wesentlich zum Unfall beigetragen haben solle. Naturwissenschaftlich und technisch sei das Gegenteil richtig. Eine um 10 km/h geringere Geschwindigkeit hätte infolge der wesentlich größeren Bremsverzögerung zu einer erheblich kürzeren Bremszeit und Bremsstrecke geführt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Unfall verhindert. Dies gelte um so mehr, als der Unfall in einem nicht mehr sehr heftigen Anstoß des verunglückten St. bestanden habe. Allein schon wegen des Verstoßes gegen § 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) könne das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Auch sei durch das LSG das rechtliche Gehör (§ 128 Abs. 2 SGG) verletzt, weil die Beklagte ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 10. Oktober 1967 im Termin eine gutachtliche Stellungnahme des Dipl. Ing. T B dem LSG überreicht habe und diese Stellungnahme auch erst zu diesem Zeitpunkt den Klägern übergeben worden sei. Es sei ihnen nicht möglich gewesen, dieses Parteigutachten bis zur Urteilsverkündung zu lesen. Schließlich sei gegen die in der gesetzlichen Unfallversicherung geltende Kausalrechtsnorm (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG) verstoßen worden, weil das Berufungsgericht nicht habe erkennen lassen, ob es von dieser Kausalrechtsnorm bei der Beurteilung des Kausalzusammenhangs ausgegangen sei.

Die Kläger beantragen,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

als unbegründet zurückzuweisen.

Sie hält die Revision der Kläger für nicht statthaft, weil das angefochtene Urteil verfahrensfehlerfrei und ohne Verletzung der in der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalrechtsnorm zustande gekommen sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.

II

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete (§§ 164, 166 SGG) Revision der Kläger ist statthaft. Das LSG hat zwar das Rechtsmittel nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen. Es ist jedoch nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Nach dieser Vorschrift ist dies der Fall, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Berufungsgerichts in einer der Vorschrift des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG entsprechenden Form gerügt ist und auch vorliegt (BSG 1, 150). Ein solcher Verfahrensmangel ist hier gegeben.

Mit Recht rügt die Revision, das LSG habe bei seiner Beweiswürdigung § 128 SGG verletzt, weil es nicht ersichtlich gemacht habe, weshalb es zum Zusammenstoß des Kombiwagens mit dem Moped des St. auch dann gekommen wäre, wenn K. die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h beim Überholungsvorgang eingehalten hätte. Nach § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG war das Berufungsgericht gehalten, im Urteil die Gründe anzugeben, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind. Dies ist, worauf die Revision zutreffend hinweist, in diesem Zusammenhang nicht geschehen. Das LSG hat für seine Auffassung, daß die Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit durch K. zu dem Unfall nicht wesentlich beigetragen habe, lediglich ganz allgemein auf das Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere auf die festgestellte Fahrweise des St. unmittelbar vor dem Unfall, verwiesen (S. 15 der Urteilsgründe). Zur Fahrweise des St. hat das Berufungsgericht (S. 3 der Urteilsgründe) festgestellt, das St. mit seinem Moped nach dem Verlassen des Fabrikgeländes nach rechts in die U-straße habe einbiegen wollen und beim Einbiegen nach rechts von dem Kombiwagen erfaßt worden sei. Dazu hat es dann auch noch ausgeführt (S. 11 der Urteilsgründe), daß es den Bekundungen des K. folge, im Augenblick des Zusammenstoßes habe der Lenker des Mopeds des St. bereits parallel zur Fahrbahn der U-straße gestanden. Schließlich hat das LSG noch festgestellt (S. 3 der Urteilsgründe), daß St. durch den Anstoß zu Fall gekommen und "auf die Fahrbahn oder auf die Fabrikausfahrt in Höhe des Gehweges" gestürzt oder geflogen sei. Daraus ergibt sich, daß schon nach den Feststellungen des Berufungsgerichts St. mit dem Kombiwagen in einem Augenblick zusammengestoßen ist, in dem er sich gerade beim Einbiegen mit seinem Mopedlenker aus der Fabrikausfahrt in die U-straße befand. Da das LSG andererseits auch festgestellt hat (S. 14 der Urteilsgründe), daß K. noch etwa 35 bis 40 m von der Fabrikausfahrt entfernt gewesen sei, als er den St. zum ersten Mal gesehen habe und (oder?) habe sehen können, ist nicht ersichtlich, wieso beim Einhalten der Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h es im Hinblick auf die Fahrweise des St. für K. unmöglich gewesen sein soll, den Zusammenstoß zu vermeiden, Zutreffend weist die Revision darauf hin, daß eine um 10 km/h verminderte Geschwindigkeit des K. nach allgemeiner Erfahrung zu einem kürzeren Anhalteweg geführt hätte. Das LSG hat keine Gründe angegeben, weshalb auch bei einem kürzeren Anhalteweg es bei der Fahrweise des St. zu einem Zusammenstoß gekommen wäre. Das Berufungsgericht hat daher bei seiner Beweiswürdigung gegen die Vorschrift des § 128 Abs. 1 Satz 2 SGG verstoßen, so daß sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG somit statthafte Revision der Kläger ist auch begründet. Es läßt sich nämlich nicht ausschließen, daß bei einer verfahrensrechtlich fehlerfreien Beweiswürdigung eine für die Kläger günstigere Entscheidung ergangen sein würde. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben, ohne daß es noch eines Eingehens auf die von den Klägern erhobenen weiteren Verfahrensrügen bedarf.

Da die bisher getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts über den Einfluß der Fahrweise des K. auf den Unfall für eine Entscheidung in der Sache selbst nicht ausreichen, muß der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das Berufungsgericht wird in erster Linie durch neue Beweiserhebungen, vor allem durch Einholung eines Sachverständigengutachters, klären müssen, ob der Unfall mit Wahrscheinlichkeit hätte vermieden werden können, wenn K. die Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eingehalten hätte. Außerdem könnten, was das LSG erneut zu prüfen haben wird, die Bekundungen der technischen Sachverständigen Dipl. Ing. B und Dipl. Ing. S Anlaß zu der Annahme geben, daß St., wenn auch nicht schon in der Fabrikausfahrt oder auf dem Gehweg, so doch unmittelbar nach dem Wenden des Lenkers in die von ihm in die Ustraße gewählte Fahrtrichtung angehalten hat. Ist dies der Fall und berücksichtigt man weiter, daß St., bevor er angefahren wurde, nur etwa einen halben Meter in die Ursulastraße hineingeraten ist, so könnte die Abwägung der von den beiden am Unfall beteiligten Verkehrsteilnehmern gesetzten Bedingungen zu dem Ergebnis führen, daß die absolute Fahruntüchtigkeit des Ehemannes der Klägerin nicht die rechtlich allein wesentliche Ursache des Unfalls gewesen ist.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens hat das LSG in dem abschließenden Urteil mitzuentscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654262

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