Leitsatz (amtlich)

Die Belehrung in einem Bescheid über Rechtsansprüche im Sinne des KOV-VfG § 23 ist unrichtig, wenn mit ihr für den Fall der schriftlichen Einlegung des Widerspruchs die Widerspruchsschrift in doppelter Fertigung gefordert wird.

 

Normenkette

SGG § 66 Fassung: 1953-09-03, § 84 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 23 Fassung: 1955-05-02

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg in Stuttgart vom 11. März 1958 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten der Revisioninstanz zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Kläger beziehen auf Grund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) Hinterbliebenenrente nach ihrem während des letzten Krieges als Soldat gestorbenen Vater. Während die Waisengrundrente nicht streitig ist, gewährte das Versorgungsamt die Waisenausgleichsrente nur bis zum 31. Dezember 1953 und versagte sie durch Bescheid vom 8. März 1956 für die Zeit vom 1. Januar 1954 an wegen Überschreitung des für den Unterhalt der Waisen zur Verfügung stehenden sonstigen Einkommens. Der Bescheid enthielt folgende Belehrung über den Rechtsbehelf:

Gegen diesen Bescheid ist der Rechtsbehelf des Widerspruchs zulässig. Er ist schriftlich in doppelter Ausfertigung oder zur Niederschrift bei dem ... Versorgungsamt binnen einer Frist von einem Monat nach Zustellung einzulegen.

Nach den Feststellungen der Vorinstanzen ist der Bescheid am 30. April 1956 als Einschreibebrief zur Post gegeben worden; die Widerspruchsschrift vom 1. Juni 1956 ist am 5. Juni 1956 beim Versorgungsamt eingegangen. Der Widerspruch blieb erfolglos, weil er nicht fristgemäß innerhalb eines Monats nach Zustellung erhoben worden und kein Grund für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erkennbar sei. Aus den gleichen Gründen hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Kläger hat das Landessozialgericht das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben, die Sache an dieses Gericht zurückverwiesen und die Revision zugelassen. Es hat dahingestellt gelassen, ob der Bescheid den Klägern - wie das Sozialgericht auf Grund des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) zutreffend festgestellt habe - als am 3. Mai 1956 zugestellt zu gelten habe, oder ob er - wie sie behauptet haben - ihnen erst am 5. Mai zugegangen sei. Denn die Belehrung über den Rechtsbehelf im Bescheid sei unrichtig, weil sie die Einreichung der Widerspruchsschrift in doppelter Ausfertigung vorgeschrieben habe. Der Widerspruch sei deshalb fristgerecht eingereicht worden; das Sozialgericht hätte daher auf die rechtzeitig erhobene Klage in der Sache über den geltend gemachten Versorgungsanspruch entscheiden müssen.

Der Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. März 1958 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 23. Juli 1957 als unbegründet zurückzuweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine unrichtige Anwendung des § 23 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) in Verbindung mit § 66 Abs. 1 und 2 sowie § 84 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Kläger haben keine Äußerung abgegeben.

Die Revision ist durch Zulassung statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Infolgedessen ist sie zulässig.

Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet.

Wie das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, ist bei einer zulässigen Revision vor der Untersuchung der Begründetheit der geltend gemachten Revisionsgründe von Amts wegen zu prüfen, ob unverzichtbare Prozeßvoraussetzungen fehlen. Zu diesen gehört auch die Zulässigkeit der Berufung (BSG. 2 S. 225 (226/227), 3 S. 124 (126) und 279 (281)).

Das Landessozialgericht hat zu Recht angenommen, daß die Berufung hier nach § 143 SGG zulässig und nicht etwa nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen gewesen ist. Ausgang des Sozialrechtsstreits war zwar ein Bescheid über die Neufestsetzung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse. Das Urteil des Sozialgerichts betraf aber nicht die Neufeststellung der Versorgungsbezüge, sondern die rechtzeitige Erhebung des Widerspruchs. Auch die Berufung betraf nur diesen Streitpunkt und nicht etwa die Neufeststellung der Versorgungsbezüge. Infolgedessen war die Berufung nach altem und neuem Recht gemäß § 148 Nr. 3 SGG zulässig, so daß das Landessozialgericht zu Recht eine Sach- und nicht eine Prozeßentscheidung gefällt hat.

Das Berufungsgericht hat angenommen, daß im vorliegenden Fall die Frist für die Einreichung des Widerspruchs nicht nach § 84 Abs. 1 SGG einen Monat, sondern nach § 66 Abs. 2 Halbsatz 1 SGG ein Jahr betragen hat. Nach dieser Vorschrift ist die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig, falls die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt ist. Es kommt also darauf an, ob die Belehrung über den Rechtsbehelf im Bescheid unrichtig ist. Zwar ist sie insoweit vollständig, als die Kläger über den Rechtsbehelf selbst, nämlich den Widerspruch, die Verwaltungsstelle, bei der er anzubringen ist, deren Sitz und die einzuhaltende Frist unterrichtet (§ 66 Abs. 1 SGG, § 23 VerwVG) und durch die Ausführungen über die Schriftform oder Einlegung zur Niederschrift des Versorgungsamts auch darüber belehrt worden sind, auf welche Weise - insbesondere unter Beachtung welcher Förmlichkeiten - sie den Rechtsbehelf anbringen mußten. Hier aber ist nicht die Vollständigkeit der Belehrung über den Rechtsbehelf, auf welche der Beklagte in der Revision hingewiesen hat, maßgebend, sondern die Tatsache, daß sie über dasjenige hinausgeht, was in den vorgenannten gesetzlichen Bestimmungen bezeichnet worden und aus dem Wesen einer "Belehrung" zu entnehmen ist; denn nach ihr ist bei der schriftlichen Einlegung des Widerspruchs die doppelte Ausfertigung notwendig.

Die Rechtsprechung hat bisher zu Bescheiden und Urteilen, gegen welche die Klage bzw. Berufung gegeben ist, entschieden, daß eine Rechtsmittelbelehrung geeignet ist, die allgemeine Rechtsmittelfrist von einem Monat in Lauf zu setzen, wenn sie eine als Muß-Vorschrift gefaßte, inhaltlich allerdings nur eine Soll-Vorschrift darstellende Regelung der Verfahrensordnung übernimmt (Urteil des BVerwG. vom 18.12.1957 in BVerwGE. Bd. 6 S. 66 ff. = DVBl. 1958 S. 176 f.). Das Bundesverwaltungsgericht hat hiermit seine frühere im Urteil vom 11. Juli 1957 (DVBl. 1957 S. 645) niedergelegte Auffassung aufgegeben; dort war ausgeführt, eine Klagefrist werde nicht in Lauf gesetzt, wenn die Rechtsmittelbelehrung im Gesetz nicht zwingend vorgesehene Formvorschriften enthalte, insbesondere ausführe, daß die Klage und weitere Schriftsätze nebst Anlagen in 3-facher Ausfertigung einzureichen seien. Das Bundesverwaltungsgericht hat demgegenüber in seiner Entscheidung vom 18. Dezember 1957 ausgeführt (S. 67 a.a.O.):

"So unerwünscht es ist, einer Rechtsbehelfsbelehrung durch übermäßig viel Einzelheiten die Übersichtlichkeit zu nehmen, so kann doch einer Rechtsbehelfsbelehrung, die mehr als den gesetzlichen Mindestinhalt enthält, die Wirkung, die Rechtsbehelfsfrist in Lauf zu setzen, nur abgesprochen werden, wenn sie Unzutreffendes besagt, insbesondere wenn sie nebensächliche Förmlichkeiten als zwingend hinstellt und dadurch dem Rechtsuchenden die Rechtsverfolgung in einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Weise erschwert, zumindest den Eindruck in ihm hervorzurufen geeignet ist, ohne Beachtung jener Förmlichkeit werde die Rechtsverfolgung scheitern."

Dabei ist das Bundesverwaltungsgericht auf den schon früher ausgesprochenen Grundsatz zurückgekommen, daß die Rechtsmittelbelehrung nicht zu ausführlich und umständlich sein solle, weil dies nicht im Interesse des Rechtsuchenden liege und er dadurch verwirrt würde (BVerwGE. Bd. 1 S. 192). Sodann ist weiter erwogen, daß in der Militärregierungsverordnung (MRVO) Nr. 165 die Beifügung von Abschriften zur Klageschrift vorgeschrieben worden sei. Wenn es sich hierbei auch nicht um eine Muß-Vorschrift handele, deren Nichtbeachtung die Klage ungültig mache, so sei doch entscheidend, daß überhaupt eine gesetzliche Vorschrift vorhanden sei, die in der Rechtsbehelfsbelehrung mitgeteilt werde. Eine Rechtsbehelfsbelehrung aber könne nicht als unrichtig oder irreführend bezeichnet werden, wenn sie den Gesetzeswortlaut wiedergebe. Dieser Auffassung hat sich das Bundessozialgericht für das Verfahren nach dem SGG angeschlossen, weil im § 93 SGG die Beifügung von Abschriften zur Klageschrift vorgesehen worden ist (BSG. in SozR. SGG § 66 Bl. Da 8 Nr. 25).

Im vorliegenden Falle findet demgegenüber gegen den Bescheid, dessen Rechtsbehelfsbelehrung das Berufungsgericht als unrichtig angesehen hat, nicht die Klage, sondern der Widerspruch statt. Der Senat hat indessen keine Bedenken, von den Grundgedanken in den genannten Entscheidungen (BVerwGE. Bd. 6 S. 66; BSG. in SozR. SGG § 66 Bl. Da 8 Nr. 25), denen er sich anschließt, auch bei der Beurteilung der Frage auszugehen, welchen Einfluß auf die Richtigkeit der Belehrung über den schriftlich zu erhebenden Rechtsbehelf des Widerspruchs ein Hinweis hat, daß er in doppelter Ausfertigung einzulegen ist. In § 84 SGG ist ebenso wie in den übrigen Vorschriften der §§ 77 bis 86 SGG, die das Vorverfahren behandeln, und in § 23 VerwVG die Beifügung von Abschriften nicht vorgesehen. Zwar ist durch die Verwaltungsvorschrift Nr. 1 zu § 23 VerwVG für die Belehrung über den Rechtsbehelf im Wortlaut vorgeschrieben worden, daß auch die Einreichung der Widerspruchsschrift in doppelter Ausfertigung zu erfolgen hat. Diese Vorschrift hat das Versorgungsamt beachtet. Die Verwaltungsvorschriften können aber das Gesetz nicht ändern, auch haben sie keinen Gesetzesrang (vgl. BSG. 6 S. 175). Infolgedessen findet die Belehrung über die doppelte Ausfertigung der Widerspruchsschrift im Gesetz keine Stütze - auch nicht in Gestalt einer Ordnungsvorschrift.

Bevor der Senat schon aus diesem Grunde die Belehrung im Bescheid als unvereinbar mit dem Gesetz ansah, hat er noch erwogen, ob sich etwa aus dem Wesen des Vorverfahrens in der Sozialgerichtsbarkeit eine Notwendigkeit dafür entnehmen läßt, die Widerspruchsschrift in zwei Stücken zu verlangen. Das Vorverfahren ist - nach dem Beispiel der Geschäftsausschüsse in der knappschaftlichen Versicherung - als Möglichkeit vorgesehen worden, eine Kontrolle der Verwaltung durch die Selbstverwaltung einzuführen (Begründung zum Entwurf eines Gesetzes über das Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit - Bundestagsdrucksache Nr. 43 57 vom 19.5.1953 I B 5 S. 22). Damit entspricht das Vorverfahren der Sozialgerichtsbarkeit dem in der allgemeinen Verwaltungsrechtslehre entwickelten Begriff der Selbstprüfung der Verwaltung auf Einspruch hin (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, Erster Band, 7. Aufl. 1958, S. 478-479). In der Kriegsopferversorgung wird im Vorverfahren das bisherige Verfahren der Verwaltung nur im Bürobetrieb, nicht etwa nach der Art eines gerichtlichen Verfahrens überprüft; eine mündliche Verhandlung oder eine ähnliche Erörterung mit dem rechtsuchenden Beschädigten wird nicht durchgeführt, so daß der Vertreter der Versorgungsverwaltung in einer solchen Verhandlung auch nicht etwa darauf angewiesen wäre, die Widerspruchsschrift in Händen zu haben, deren Urschrift der Verhandlungsleiter in den Aktenvorgängen hat. Infolgedessen ist auch aus dem Wesen des Vorverfahrens nicht abzuleiten, daß die Beifügung von Abschriften der Widerspruchsschrift der Prozeßökonomie und der Beschleunigung des Verfahrens dient. Schließlich können auch die Ausführungen des Beklagten nicht überzeugen, die zweite Ausfertigung der Widerspruchsschrift werde vorsorglich für den Fall einer späteren Klage angefordert, damit die Verwaltung während des gerichtlichen Verfahrens bei ihren Handakten die Gründe behalten könne, welche der Versorgungsberechtigte gegen den Bescheid angeführt habe. Denn auf diese Weise werden die Handakten nicht vollständig; vielmehr fehlen in ihnen die im Verwaltungsverfahren nur in einfacher Ausfertigung eingeholten ärztlichen Gutachten, obwohl sie für die Beurteilung des Streitfalls ungleich wichtiger sind als die Widerspruchsschrift. Außerdem betreffen diese Erwägungen nicht das durch den Widerspruch einzuleitende Verfahren. Es ist nicht angängig, dieses durch Rücksichten auf das spätere Klageverfahren zu belasten.

Hiernach ist das in der Rechtsmittelbelehrung für die Widerspruchsschrift ausgesprochene Verlangen, sie in zwei Stücken einzureichen, nicht mit den angeführten gesetzlichen Vorschriften vereinbar und auch nicht aus dem Wesen des durch den Widerspruch einzuleitenden Vorverfahrens zu rechtfertigen.

Was die weitere Frage anlangt, ob durch die fehlerhafte Belehrung über die Einlegung des Rechtsbehelfs im angefochtenen Bescheid die Rechtsverfolgung für die Kläger erschwert worden ist, konnte sich der Senat der früher - in der Entscheidung vom 11. Juli 1957 - vom Bundesverwaltungsgericht angestellten Erwägung, der nicht schreibgewandte Rechtsuchende könne durch die Mehrfertigung von Durchschlägen oder Abschriften von der Verfolgung seiner Ansprüche abgeschreckt werden, nicht anschließen. Denn es müßte dann in jedem Falle geprüft werden, ob es sich um einen geschäftsgewandten oder nicht geschäftsgewandten Versorgungsberechtigten gehandelt hat. Auch könnte belangvoll sein, ob sich die Rechtsuchenden durch Privatschreiber beraten oder von Rechtskundigen vertreten lassen. Hierdurch würde ein allgemein gültiger objektiver Maßstab nicht gewonnen. Dieser ist jedoch in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Dezember 1957 in den - bereits dargelegten - Ausführungen darüber enthalten, daß in dem Rechtsuchenden der Eindruck hervorgerufen werden kann, ohne Beachtung jener Förmlichkeit werde die Rechtsverfolgung scheitern. Dem schließt sich der Senat an. Hier hat das Versorgungsamt das Erfordernis der Vorlage einer Abschrift in einer Form mitgeteilt, die geeignet ist, in den Klägern den Eindruck entstehen zu lassen, ihr Rechtsbehelf werde schon dann erfolglos bleiben, wenn sie der Widerspruchsschrift die erforderte Abschrift nicht beifügten. Im Hinblick hierauf muß die weder durch gesetzliche Vorschriften noch anderweit zu rechtfertigende Rechtsbehelfsbelehrung im angefochtenen Bescheid als unrichtig angesehen werden. Dementsprechend hat das Landessozialgericht zu Recht entschieden, daß die Widerspruchsfrist hier ein Jahr betragen hat. Da nach den nicht angegriffenen Feststellungen, die gemäß § 163 SGG das Revisionsgericht binden, die Widerspruchsschrift innerhalb dieser Frist beim Versorgungsamt eingegangen ist, hätte das Sozialgericht in der Sache über den materiell-rechtlich erhobenen Anspruch entscheiden müssen und hätte sich nicht auf die Entscheidung über die Rechtzeitigkeit des Widerspruchs beschränken dürfen. Das Berufungsgericht hat also die Rechtslage zutreffend beurteilt. Da bei der Entziehung der Waisenausgleichsrente wegen Änderung der Verhältnisse die Berufung durch § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen ist, hat das LSG. den Rechtsstreit zu Recht an das Sozialgericht zurückverwiesen, damit dieses in der Sache entscheide und allenfalls sich darüber schlüssig werde, ob es nach § 150 Nr. 1 SGG die Berufung zulassen wolle. Hiernach war die Revision zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 213

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