Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. bisheriger Beruf. Bezeichnung einer konkreten Verweisungstätigkeit

 

Orientierungssatz

1. Bei der Bestimmung des bisherigen Berufs ist grundsätzlich von der zuletzt ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit auszugehen, vorausgesetzt, daß sie nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt worden ist (vgl BSG 24.4.1980 1 RJ 62/79 = SozR 2200 § 1246 Nr 62).

Ein derartig starkes Gewicht hat die Rechtsprechung der letzten Beschäftigung (Tätigkeit) nur dann beigelegt, wenn sie zugleich die qualitativ höchste gewesen ist. Bei anderen Fallgestaltungen ist als Hauptberuf nicht unbedingt die letzte, sondern diejenige Berufstätigkeit zugrunde zu legen, die der Versicherte bei im wesentlichen ungeschwächter Arbeitskraft nicht nur vorübergehend eine nennenswerte Zeit ausgeübt hat (vgl BSG 30.10.1985 4a RJ 53/84 = SozR 2200 § 1246 Nr 130).

2. Nur bei Versicherten aus dem oberen Bereich der Gruppe mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs ist die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit erforderlich (vgl BSG 28.11.1985 4a RJ 51/84 = SozR 2200 § 1246 Nr 132).

Unter bestimmten Voraussetzungen ist jedoch bei Versicherten, die auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbar sind, eine konkrete Verweisungstätigkeit zu bezeichnen. Dazu kann eine ungewöhnliche Leistungsbeschränkung oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung zwingen (vgl BSG 6.6.1986 5b RJ 42/85 = SozR 2200 § 1246 Nr 136).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 29.11.1984; Aktenzeichen L 1 J 702/84)

SG Heilbronn (Entscheidung vom 31.01.1984; Aktenzeichen S 6 J 1343/82)

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zusteht.

Der im Jahre 1933 geborene Kläger hat in Jugoslawien als Schmied gearbeitet und in diesem Beruf eine Prüfung abgelegt. Nach seinem Zuzug in das Bundesgebiet war er bei verschiedenen Arbeitgebern in der Metallindustrie beschäftigt. Zuletzt wurde er von August 1980 bis zu seiner Erkrankung im Januar 1981 bei Arbeiten an Ausbrenn- und Radialbohrmaschinen sowie an einer Schlagschere und Säge eingesetzt. Seine Entlohnung erfolgte nach der Lohngruppe 7 der summarischen Arbeitsbewertung für die Metallindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden. Durch Bescheid vom 30. November 1981 lehnte die Beklagte die beantragte Versichertenrente ab. Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13. September 1982).

Die dagegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteile vom 31. Januar 1984 und 29. November 1984). Das Berufungsgericht hat ausgeführt, ausgehend von der zuletzt ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung sei der Kläger der Gruppe mit dem Leitbild des allenfalls angelernten Arbeiters zuzuordnen und deshalb auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar. Da er noch in vollen Schichten eingesetzt werden könne, sei die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit nicht erforderlich. Auch gesundheitliche Beeinträchtigungen zwängen nicht dazu.

Der Kläger hat dieses Urteil mit der vom Senat zugelassenen Revision angefochten. Er rügt eine Verletzung der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sowie des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil des LSG sowie das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides ab 1. Mai 1981 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit abzüglich des gezahlten Übergangsgeldes zu gewähren; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden mußte (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die vom Berufungsgericht festgestellten Tatsachen lassen eine abschließende Entscheidung noch nicht zu.

Ausgehend von der bisherigen Berufstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO ist im Rahmen des Anspruchs auf Rente wegen Berufsunfähigkeit zu prüfen, welche Verweisungstätigkeiten dem Kläger zugemutet werden können. Das Bundessozialgericht (BSG) hat dazu ein Mehrstufenschema entwickelt. Darin werden die Arbeiterberufe in Gruppen unterteilt, die durch die Leitberufe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion bzw des besonders hoch qualifizierten Facharbeiters, des Facharbeiters, des sonstigen Ausbildungsberufs bzw des Angelernten und des ungelernten Arbeiters charakterisiert werden (vgl Urteil des erkennenden Senats in BSGE 43, 243, 245 f sowie das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des 4a Senats vom 7. August 1986 - 4a RJ 73/84 - mwN). Eine Verweisung des Versicherten ist auf die Tätigkeiten der nächsten Gruppe unterhalb derjenigen begrenzt, der sein bisheriger Beruf zuzuordnen ist.

Die Feststellungen des LSG dazu, von welcher bisherigen Berufstätigkeit iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO beim Kläger auszugehen ist, sind unzureichend und lassen eine abschließende revisionsgerichtliche Entscheidung nicht zu. Es ist dem erkennenden Senat wegen der Mängel des angefochtenen Urteils in diesem Punkte nicht möglich, zu beurteilen, ob die Vorschrift des § 1246 Abs 2 RVO vom LSG zutreffend angewendet worden ist. Insoweit handelt es sich um eine Rechtsverletzung iS des § 162 SGG.

Das LSG hat im Tatbestand der angefochtenen Entscheidung ausgeführt, in der Bundesrepublik Deutschland sei der Kläger seit Mai 1970 bei verschiedenen Arbeitgebern der Metallindustrie, zuletzt ab 25. August 1980 bei einem Unternehmen in A. beschäftigt gewesen. Nach einer Erkrankung im Januar 1981 habe er die Arbeit nicht wieder aufgenommen. In den Entscheidungsgründen seines Urteils hat sich das LSG dann hinsichtlich der bisherigen Berufstätigkeit ausschließlich damit befaßt, wie die zuletzt von August 1980 bis Januar 1981, also nur rund fünf Monate lang, vom Kläger verrichtete Tätigkeit zu bewerten ist. Dabei ist es zu dem Ergebnis gelangt, der Kläger gehöre nicht zur Gruppe, die durch den Leitberuf des Facharbeiters gekennzeichnet ist, sondern zur Gruppe der Anlernberufe. Diese Beschränkung auf die letzten fünf Monate einer etwa 10-jährigen versicherungspflichtigen Beschäftigung genügt nicht, um eine Grundlage für die rechtliche Überprüfung des "bisherigen Berufs" zu schaffen.

Der 1. Senat des BSG hat im Urteil vom 14. März 1979 (in SozR 2200 § 1246 Nr 41) unter Hinweis auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 20. Januar 1976 (in BSGE 41, 129, 130) ausgeführt, der bisherige Beruf sei entscheidend für die Bestimmung des Kreises der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen sei. Grundsätzlich sei von der zuletzt ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit auszugehen, vorausgesetzt, daß sie nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübt worden sei (vgl auch SozR aaO Nr 62). Die Rechtsprechung des BSG hat die kurzfristige Ausübung einer Tätigkeit genügen lassen, um von ihr als bisherigem Beruf auszugehen, wenn sie zugleich die qualitativ höchste im Berufsleben des Versicherten gewesen ist, also den Höhepunkt eines beruflichen Aufstiegs gebildet hat (so Urteil des 4. Senats vom 29. November 1979 in SozR aaO Nr 53; vgl auch Urteil des 1. Senats vom 11. September 1980 aaO Nr 66, beide mwN). In jüngerer Zeit hat der 4a Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 30. Oktober 1985 (aaO Nr 130 mwN) hervorgehoben, die letzte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit sei nicht stets bisheriger Beruf iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO. Ein derartig starkes Gewicht habe die Rechtsprechung der letzten Beschäftigung (Tätigkeit) nur dann beigelegt, wenn sie zugleich die qualitativ höchste gewesen sei. Bei anderen Fallgestaltungen habe das BSG schon früh darauf abgehoben, als Hauptberuf sei nicht unbedingt die letzte, sondern diejenige Berufstätigkeit zugrunde zu legen, die der Versicherte bei im wesentlichen ungeschwächter Arbeitskraft nicht nur vorübergehend eine nennenswerte Zeit ausgeübt habe.

Unter Beachtung dieser Grundsätze hätte das LSG darlegen müssen, ob die letzte Beschäftigung des Klägers von nur fünf Monaten Dauer vorübergehenden Charakter hatte oder nicht. War das zu verneinen, dann hätte geprüft werden müssen, ob es sich im Vergleich zu den vorangegangenen Tätigkeiten um die qualitativ höchste gehandelt hat. Derartige Feststellungen fehlen im angefochtenen Urteil. Ist von seiten des Versicherten niemals geltend gemacht worden, vor der letzten Beschäftigung sei er höherwertig eingesetzt worden, so kann das Gericht darauf verzichten, sich eingehend mit den früheren Tätigkeiten auseinanderzusetzen. Mag auch manches für solch fehlendes Vorbringen im Falle des Klägers sprechen, so hätte das LSG gleichwohl zum Ausdruck bringen müssen, daß der qualitative Wert der verschiedenen Tätigkeiten gleich geblieben ist oder nie höher zu bewerten war. Dabei sind die Tatsachen anzugeben, auf denen diese Würdigung beruht. Auch diesen Mindestanforderungen genügt das Urteil des LSG nicht.

Das LSG wird somit die zum bisherigen Beruf des Klägers noch erforderlichen Feststellungen nachzuholen haben. Gelangt es zu dem Ergebnis, daß der Kläger während seiner versicherungspflichtigen Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland auch als Facharbeiter eingesetzt worden ist oder eine diesem aus qualitativen Gründen gleichgestellte Tätigkeit verrichtet hat, so ist zu prüfen, ob er sich in rentenrechtlichem Sinne davon gelöst hat.

Gehört die bisherige Berufstätigkeit des Klägers zur Gruppe mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs bzw des Angelernten, so kann dem Kläger nicht darin gefolgt werden, daß die Ablehnung der Rente wegen Berufsunfähigkeit es in jedem Falle erfordert, mindestens eine Verweisungstätigkeit zu benennen. Insoweit beruft der Kläger sich auf die Entscheidung des 1. Senats des BSG vom 23. Juni 1981 (SozR aaO Nr 81). Dieser Senat hat aber in seinem späteren Urteil vom 15. November 1983 (aaO Nr 109) klargestellt, daß bei Versicherten, die eine die bloße Einweisung und Einarbeitung nicht übersteigende betriebliche Ausbildung durchlaufen hätten, die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit nicht erforderlich sei. Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Die erheblichen Unterschiede im qualitativen Wert der Tätigkeiten, die die breit gestreute Gruppe der sonstigen Ausbildungsberufe und der Angelernten kennzeichnet, lassen - wie der 1. Senat im Urteil vom 15. November 1983 (aaO) aufgezeigt hat - eine solche Differenzierung als geboten erscheinen. Auch der 4a Senat des BSG hat nur bei Versicherten aus dem oberen Bereich der Gruppe mit dem Leitberuf des sonstigen Ausbildungsberufs die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit für erforderlich gehalten (Urteil vom 28. November 1985 in SozR aaO Nr 132; vgl auch das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 9. September 1986 - 5b RJ 82/85 -).

Unter bestimmten Voraussetzungen ist jedoch bei Versicherten, die auf das allgemeine Arbeitsfeld verweisbar sind, eine konkrete Verweisungstätigkeit zu bezeichnen. Dazu kann eine ungewöhnliche Leistungsbeschränkung oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung zwingen (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 6. Juni 1986 - 5b RJ 42/85 - unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG).

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662763

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