Entscheidungsstichwort (Thema)

Fettleber. Rundschreiben des BMA vom 1963-10-31

 

Leitsatz (redaktionell)

Wenn der Kläger bei seiner Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft (1949) nachweisbar an leichter Leberschwellung gelitten hat, der ursächliche Zusammenhang im medizinischen Sinn aber wegen Fehlens von Brückensymptomen verneint wird, da der Lebertastbefund bei den weiteren Untersuchungen bis 1957 unauffällig war und erst 1958 wieder eine leichte Lebervergrößerung festgestellt worden ist, so widerspricht diese Beurteilung geläuterter medizinischer Erfahrung. Das Rundschreiben des BMA vom 1963-10-31 = BVBl 1963, 119 "betreffend die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs; Leberspätschäden nach Gefangenschaft" beinhaltet einen Erfahrungssatz, der im medizinischen Bereich unabhängig von seiner Veröffentlichung, also auch schon vorher, Geltung beanspruchen kann. Erfahrungssätze sind aus Tatsachen gezogene Obersätze, welche auch dem Revisionsgericht als Maßstab für die Beurteilung von Tatsachen dienen (so Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 1960, 180). Das Tatsachengericht überschreitet die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn es Tatsachen oder gutachtliche Äußerungen als wahr unterstellt, obwohl diese mit den allgemeinen Erfahrungen des täglichen Lebens nicht in Einklang stehen (vgl BSG vom 1957-07-04 4 RJ 62/56 = SozR Nr 20 zu § 128 SGG). Nach dem vom BMA bekanntgegebenen medizinischen Erfahrungssatz ist das Fehlen von Brückensymptomen kein Grund, um Leberschäden, die Jahre nach der Gefangenschaft und Dystrophie wieder auftreten, nicht mehr als wehrdienstbedingte Schädigungsfolge anzuerkennen.

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 3 Fassung: 1950-12-20; SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. Oktober 1963 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger, von Beruf Schulhausmeister, geboren am 21. November 1919, war von März 1944 bis 15. September 1949 in russischer Kriegsgefangenschaft. Bei der Entlassung aus der Gefangenschaft litt er ua an Dystrophie mit leichter Leberschwellung und Subacidität des Magensaftes. Der Kläger beantragte am 30. September 1952 Versorgung wegen des Magenleidens; er führt die Beschwerden auf die russische Kriegsgefangenschaft zurück. Das Versorgungsamt stellte mit Bescheid vom 23. März 1954 als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) "Stecksplitter in der Brustwand" fest, lehnte aber die Magenbeschwerden als Schädigungsfolgen ab und hielt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) in rentenberechtigendem Grade nicht für gegeben. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Bescheid vom 19. Mai 1954). Mit Urteil vom 27. September 1957 verurteilte das Sozialgericht (SG) den Beklagten unter Abänderung der vorausgegangenen Bescheide, wegen der Schädigungsfolgen

"1. Chronische Gastritis,

2. je ein kleiner Stecksplitter in der hinteren Brustkorbwand rechts und links neben der Wirbelsäule,

alles im Sinne der Entstehung"

eine Rente nach einer MdE von 30 v. H. zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten änderte das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 23. Oktober 1963 das erstinstanzliche Urteil dahin ab, daß die Klage abgewiesen wurde, soweit eine chronische Gastritis als Schädigungsfolge und eine MdE von 30 v. H. zuerkannt worden war; die Anschlußberufung des Klägers wies das Gericht als unbegründet zurück. Weder die chronische Gastritis noch die leichte Leberverfettung sei Folge des Wehrdienstes. Die Gastritis sei konstitutionell bedingt. Den Belastungen des Wehrdienstes sei nur eine vorübergehende schubweise Einwirkung zuzuschreiben. Die Ernährungs- und Lebensbedingungen der Gefangenschaft können zwar Mitursache für die in dieser Zeit aufgetretenen Beschwerden sein, aber diese Beschwerden seien bei der Untersuchung im März 1957 nicht mehr nachweisbar gewesen; vielmehr sei eine Übersäuerung des Magensaftes festgestellt worden. Auch später habe sich keine Untersäuerung des Magens mehr gezeigt. Das Magenleiden könne daher nicht mehr als Dystrophiefolge angesehen werden. Die 1949 nachweisbare leichte Leberschwellung habe bei den Untersuchungen im Jahre 1953 und 1957 nicht mehr festgestellt werden können, erst 1958 habe sich wieder eine leichte Lebervergrößerung gefunden und 1959 hätten sich "bei normal beschriebenem Lebertastbefund geringe Funktionsstörungen" nachweisen lassen; 1962 habe sich eine leichte Leberverfettung ergeben. Infolge Fehlens von Brückensymptomen könnte die 1949 festgestellte leichte Leberschwellung, die in der Zwischenzeit abgeheilt gewesen sei, nicht mehr als Ursache der jetzt beim Kläger bestehenden Fettleber angesehen werden. Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.

Gegen das dem Kläger am 19. November 1963 zugestellte Urteil legte er am 4. Dezember 1963 Revision ein, welche er am 23. Dezember 1963 begründete. Er rügt, das LSG habe § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) (Sachaufklärungspflicht) und § 128 SGG (Beweiswürdigungsrecht) verletzt. Das LSG hätte bei zutreffender Beweiswürdigung nicht einfach zur Feststellung einer hypotrophischen Gastritis kommen können, nachdem Prof. Dr. G eine durch Magensaugbiopsie gesicherte atrophische Gastritis erhoben hat und diese Feststellung durch den Facharzt Dr. D nur in Zweifel gezogen worden sei. Diese Zweifel hätte das LSG durch weitere Sachaufklärung aufheben müssen. Die Sachaufklärung hätte die atrophische Gastritis bestätigen können.

In der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der Fettleber mit der Kriegsgefangenschaft (Dystrophie) habe das LSG, dem Sachverständigen Prof. Dr. G folgend, die Zusammenhangsfrage verneint, weil die erforderlichen Brückensymptome fehlen. Nach dem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 31. Oktober 1963 (BVBl 1963, 119) müsse aber der Zusammenhang trotz Fehlens der Brückensymptome bejaht werden. Sei aber der Leberschaden auf die wehrdienstbedingte Gastritis zurückzuführen, so müsse der Zusammenhang bejaht werden, weil die Gastritis Schädigungsfolge sei.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zu verwerfen.

Er hält die Verfahrensrügen des Klägers nicht für begründet.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt.

Das LSG hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); da eine Gesetzesverletzung in der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Leiden des Klägers und einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG nicht gerügt ist, ist die Revision nur statthaft, wenn der Kläger mit Erfolg einen wesentlichen Mangel des Verfahrens rügt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Ein solcher Mangel liegt vor; die Revision ist daher zulässig und auch begründet.

Sie greift die Feststellung des LSG dahin an, daß die Magenerkrankung (Gastritis) des Klägers hypertrophischer Natur sei. Es kann dahingestellt bleiben, ob sich das LSG mit den drei Gutachten, denen es gefolgt ist, zufrieden geben konnte, auch wenn keiner dieser Gutachter die von der Revision für die beste Untersuchungsmethode gehaltene Magensaugbiopsie angewandt hat. Denn es erweist sich der weitere Angriff der Revision auf die Feststellung, daß die Fettleber wegen Fehlens der erforderlichen Brückensymptome nicht mehr ursächlich mit Dystrophie und Gefangenschaft zusammenhänge, als begründet. Das LSG räumt zwar ein, daß der Kläger bei seiner Entlassung aus russischer Kriegsgefangenschaft (1949) nachweisbar an leichter Leberschwellung gelitten hat. Es verneint aber den Zusammenhang im medizinischen Sinn wegen Fehlens von Brückensymptomen, da der Lebertastbefund bei den weiteren Untersuchungen bis 1957 unauffällig war und erst 1958 wieder eine leichte Lebervergrößerung festgestellt worden ist. Diese Beurteilung des LSG widerspricht geläuterter medizinischer Erfahrung. Zwar konnten die Gutachter wie auch das LSG bei seiner Entscheidung vom 23. Oktober 1963 noch nicht das Rundschreiben des BMA vom 31. Oktober 1963 (BVBl 1963, 119 Nr. 55) "betreffend die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs; Leberspätschäden nach Gefangenschaft" berücksichtigen; das Rundschreiben beinhaltet aber einen Erfahrungssatz, der im medizinischen Bereich unabhängig von seiner Veröffentlichung, also auch schon vorher, Geltung beanspruchen kann. Erfahrungssätze sind aus Tatsachen gezogene Obersätze, welche auch dem Revisionsgericht als Maßstab für die Beurteilung von Tatsachen dienen (so Schwinge, Grundlagen des Revisionsrechts, 1960, 180). Solche bei der Beweiswürdigung angewandte oder auch nicht angewandte Erfahrungssätze sind revisibel. Das Tatsachengericht überschreitet die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung, wenn es Tatsachen oder gutachtliche Äußerungen als wahr unterstellt, obwohl diese mit den allgemeinen Erfahrungen des täglichen Lebens oder der medizinischen Wissenschaft nicht in Einklang stehen (vgl. SozR SGG § 128 Bl. Da 8 Nr. 20). Nach dem vom BMA bekanntgegebenen medizinischen Erfahrungssatz ist das Fehlen von Brückensymptomen kein Grund, um Leberschäden, die Jahre nach der Gefangenschaft und Dystrophie wieder auftauchen, nicht mehr als wehrdienstbedingte Schädigungsfolge anzuerkennen; das LSG hat daher gegen diesen Erfahrungssatz verstoßen, wenn ihn auch kein im Verfahren gehörter Sachverständiger herangezogen hat. Denn Sache des Gerichts ist es, die Sachverständigen auf einen derartigen Erfahrungssatz hinzuweisen und gegen Gutachten Bedenken zu erheben, welche sich mit diesem Erfahrungssatz über die Belanglosigkeit des Fehlens von Brückensymptomen bei Leberschäden nicht auseinandergesetzt haben. Dies unterlassen zu haben, bedeutet einen Verstoß gegen das Recht, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 SGG). Wegen dieses Verfahrensmangels war daher auf die Rüge der Revision das angefochtene Urteil nebst den ihm zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen aufzuheben; denn der Verfahrensmangel ist wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß das LSG bei Anwendung des bezeichneten medizinischen Erfahrungssatzes zu einem anderen, dem Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Es kommt daher nicht mehr darauf an, ob die Revision auch noch auf andere Verfahrensmängel gestützt werden kann.

Der Senat konnte nicht in der Sache selbst entscheiden, weil die Verfahrensrüge durchgreift und daher die vom LSG der Entscheidung zugrunde gelegten tatsächlichen Feststellungen aufzuheben waren. Da das Revisionsgericht diese Feststellungen nicht treffen kann, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG den bezeichneten medizinischen Erfahrungssatz anzuwenden und notfalls auch die Ärzte darauf hinzuweisen haben, daß erfahrungsgemäß Leberschäden jahrelang ohne nennenswerte Beschwerden und Symptome sich entwickeln und bestehen können, so daß fehlende Brückensymptome nicht zur Ablehnung des ursächlichen Zusammenhangs führen können, außer es könne eine andere begründete Ursache aufgezeigt werden. Hinsichtlich der streitigen Ursache der Gastritis wäre auch zu prüfen, ob eine Labilität der Magenschleimhaut zur Folge haben kann, daß Magensaft-Untersäuerung mit Magensaft-Übersäuerung fortgesetzt wechselt.

Der Ausspruch über die außergerichtlichen Kosten bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2342475

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