Entscheidungsstichwort (Thema)

Abweichung von ärztlichen Gutachten Ausübung selbständiger Tätigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Das Tatsachengericht überschreitet die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung und verletzt seine Amtsermittlungspflicht, wenn es die Behauptungen eines Beteiligten ohne Nachprüfung als wahr unterstellt, obwohl diese mit den allgemeinen Erfahrungen des täglichen Lebens nicht im Einklang stehen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Bei der Feststellung, ob die Voraussetzungen der Invalidität vorliegen, sind nicht allein die medizinischen Sachverständigengutachten maßgebend wenn ihnen auch in aller Regel eine hervorragende Bedeutung zukommt -, sondern das Tatsachengericht kann auch aus der Art und dem Umfang der von dem Kläger verrichteten Tätigkeit Schlüsse auf die bei ihm vorhandene Erwerbsfähigkeit ziehen. Es ist gegebenenfalls auch berechtigt, diesen Umständen eine ausschlaggebendere Bedeutung als den entgegenstehenden ärztlichen Gutachten beizumessen.

 

Normenkette

SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 26. Oktober 1955 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit der Rechtsanwälte I und M vor dem Bundessozialgericht wird auf ... DM festgesetzt.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Der am ... 1890 geborene Kläger hat seit dem Jahre 1906 mehr als 26 Pflichtbeiträge zur Invalidenversicherung entrichtet; er ist jetzt als selbständiger Kürschnermeister tätig und beschäftigt vier Angestellte. Am 26. April 1951 stellte er bei der Beklagten den Antrag anzuerkennen, daß er berechtigt sei, seine Versicherung für die Zeit ab 1. Januar 1949 freiwillig fortzusetzen. Die Beklagte lehnte dies unter Hinweis auf § 1443 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. durch Bescheid vom 29. September 1951 mit der Begründung ab, daß der Kläger bereits invalide sei. Sie stützte ihre Entscheidung auf das Gutachten ihres Vertrauensarztes Dr. O vom 25. Juni 1951, in welchem normale Alterung bei gutem Kräftezustand, erheblicher Bluthochdruck, Herzvergrößerung, Herzleistungsschwäche, Zustand nach Blinddarmoperation, Verdacht auf Leberschädigung, Verschleißrheuma der Lendenwirbelsäule und beiderseitiger Senk-Spreizfuß festgestellt, die Erwerbsminderung auf 55 % geschätzt und die Voraussetzungen der Invalidität für vorliegend erachtet wurden. Daraufhin rief der Kläger das Versicherungsamt Solingen an; er machte geltend, daß er noch täglich von 6 bis 24 Uhr in seinem Geschäft arbeite, so daß er noch nicht invalide sein könne und legte ein Attest des Facharztes für innere Medizin, Dr. H D, vom 21. Februar 1952 vor, in welchem eine altersbedingte Hochdruckerkrankung festgestellt und die Erwerbsbeschränkung auf etwa 20 % geschätzt wurde.

Das Versicherungsamt entschied durch Beschluß vom 20. Juni 1952, daß der Kläger wegen eingetretener Invalidität nicht mehr berechtigt sei, freiwillige Beiträge zur Invalidenversicherung zu entrichten.

Gegen diesen Beschluß legte der Kläger Beschwerde bei dem früheren Oberversicherungsamt D ein, welches noch eine Stellungnahme des Gerichtsarztes Dr. K einholte. Dieser Gutachter kam zu dem Ergebnis, daß der bei dem 63-jährigen Kläger vorliegende Bluthochdruck mit Linkshypertonie des Herzens geeignet sei, ihn für viele Arbeiten erwerbsunfähig zu machen, daß er jedoch offensichtlich noch in der Lage sei, in einem speziellen Beruf die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen, so daß die Voraussetzungen der Invalidität noch nicht vorlägen. Allerdings sei bei dieser Beurteilung davon ausgegangen worden, daß der Kläger die von ihm angegebene Arbeitsleistung auch tatsächlich noch erbringe. Das Oberversicherungsamt holte noch ein weiteres Gutachten von dem Chefarzt der Medizinischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten S, Professor Dr. W ein. Dieser Sachverständige kam in seinem Gutachten vom 3. März 1953 zu folgender Beurteilung: "Bei dem Untersuchten besteht eine erhebliche Blutdrucksteigerung. Sichere Anhaltspunkte dafür, daß diese Hypertonie renalen Ursprungs ist, hat die Untersuchung nicht ergeben. Neben der Hypertonie, die in gleichem Ausmaße bereits bei der Voruntersuchung im Mai 1951 nachweisbar war, finden sich deutliche Anzeichen einer schweren Herzmuskelschädigung, die sich in den sowohl in der Ruhe, besonders deutlich aber nach Belastung auftretenden Extrasystolen, die sich elektrokardiographisch von verschiedenen Ursprungsorten herleiten lassen, äußern. Darüber hinaus zeigt das Elektrokardiogramm weitere Zeichen einer Herzmuskelschädigung in Form von ST-Senkungen sowohl im Ruhe- wie im Belastungs-EKG. Das Herz ist röntgenologisch geringgradig nach links verbreitert. Zeichen einer Herzinsuffizienz sind zurzeit nicht nachweisbar. Jedoch sind die geschilderten elektrokardiographischen Veränderungen sowie die in der Kreislauffunktionsprüfung zum Ausdruck kommende mangelnde Anpassung des Herzens an Belastung sowie die dabei auftretenden Extrasystolen als erheblich erwerbsmindernd anzusehen. In Zusammenfassung aller erhobenen Befunde wird eine Erwerbsminderung von 55 % angenommen." Nachdem auch der Gerichtsarzt Dr. D am 12. Mai 1953 die Erwerbsminderung des Klägers auf 55 % geschätzt hatte, wies das Sozialgericht Düsseldorf, auf das die Sache am 1. Januar 1954 nach § 215 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, die Klage durch Urteil vom 14. Oktober 1954 mit der Begründung ab, der Kläger sei seit Antragstellung invalide.

Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung beim Landessozialgericht ein. Dieses holte noch ein Gutachten von der Medizinischen Klinik der Städtischen Krankenanstalten S darüber ein, ob der Kläger schon am 26. April 1951 invalide gewesen sei. Dieses von dem Oberarzt Dr. O in Vertretung des Chefarztes erstattete Gutachten kam im wesentlichen zu folgender Beurteilung: "Die jetzt vorgenommene internistische Untersuchung hat ein Hochdruckleiden mit erheblicher Erhöhung der systolischen und diastolischen Blutdruckwerte ergeben. Außerdem besteht eine elektrocardiographisch nachweisbare Myocardschädigung, die zweifelsohne in erster Linie durch das Hochdruckleiden verursacht worden ist. Manifeste Herz- oder Niereninsuffizienzerscheinungen konnten dagegen nicht nachgewiesen werden, obwohl das Herz - ebenfalls als Folge des Hochdruckleidens - deutlich vergrößert ist. Ein anderer verwertbarer Befund konnte, wie auch bei früheren gutachtlichen Untersuchungen, nicht erhoben werden. Der Allgemeinzustand des Begutachteten ist zweifellos relativ gut. Insbesondere bestehen keine das durchschnittliche Altersmaß übersteigenden Involutionserscheinungen. Für die Beurteilung der bei Herrn K. anzunehmenden EM ist somit ausschließlich das Hochdruckleiden mit seinen Folgeerscheinungen - elektrocardiographisch nachweisbare Myocardschädigung und Herzerweiterung - maßgeblich. Bei dem Fehlen eines pathologischen Harnbefundes und unter Berücksichtigung der langen Anamnese (Herr K. ist bereits im Jahre 1944 hier ambulant untersucht worden; schon damals bestanden Stiche in der Herzgegend, starke Kopfschmerzen und eine Erhöhung der Blutdruckwerte auf 160/90 mm Hg, so daß der Beginn des hier zur Debatte stehenden Hochdruckleidens sicherlich mehr als 10 Jahre zurückliegt) kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß es sich bei dem Hochdruckleiden des Begutachteten um eine sog. "essentielle Hypertonie" handelt, die inzwischen das Stadium des fixierten Hochdrucks (Übergangsstadium bzw. Stadium II nach Volhard) erreicht hat. Unter Berücksichtigung des Alters des Begutachteten ist die durch das aufgeführte Leiden mit seinen Folgeerscheinungen verursachte Minderung der Erwerbsunfähigkeit auf etwa 60 % zu beziffern. Ein Vergleich der jetzt erhobenen Befunde mit den in den Gutachten vom 30. Mai 1951 und insbesondere vom 3. März 1953 niedergelegten Befunden ergibt folgendes: Die Blutdruckwerte sind seit dem Jahre 1951 praktisch unverändert (hoch) geblieben, die Myocardschädigung ist ihrem Charakter und ihrem Ausmaß nach nicht wesentlich fortgeschritten, auch die Herzgröße zeigt jetzt keine verwertbare Änderung gegenüber den Befunden von 1951 und 1953; verwertbare Herz- oder Niereninsuffizienzerscheinungen sind bei der jetzigen Begutachtung genau so wenig nachweisbar wie bei der Begutachtung vom 3. März 1953. Daraus ergibt sich somit zwingend, daß das Hochdruckleiden relativ gutartig ist, weil auch jetzt, nachdem das Hochdruckleiden über zehn Jahre lang besteht, noch keine bedeutende, das physiologische Altersmaß wesentlich übersteigende Beeinträchtigung der allgemeinen Leistungsbreite zustande gekommen ist. Entscheidend ist insbesondere die Tatsache, daß das Hochdruckleiden auch heute noch keine manifeste Herzinsuffizienz nach sich gezogen hat. Nach den bei der Untersuchung am 30. Mai 1951 erhobenen Befunden muß mit Sicherheit angenommen werden, daß bereits am 26. April 1951 ein Hochdruckleiden bestanden hat. Aus dem seither verfolgten Verlauf dieses Leidens kann geschlossen werden, daß es sich schon damals um eine essentielle Hypertonie mit - wie jetzt gesagt werden kann - relativ günstigem Verlauf und nur geringer Progredienz gehandelt hat. Es fragt sich, ob ein derartiges Hochdruckleiden - essentielle Hypertonie von relativ gutartigem Charakter - 1951 eindeutig Veranlassung hätte geben müssen, das Vorliegen von Invalidität anzunehmen. Diese Frage muß u. E. in dem Sinne verneint werden, daß möglicherweise zwar am 26. April 1951 bereits Invalidität vorgelegen hat. Bei dem ausgesprochen gutartigen Charakter der zur Debatte stehenden Erkrankung kann jedoch nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit oder gar zwingend geschlossen werden, daß am 26. April 1951 bereits Invalidität vorgelegen hat. Erfahrungsgemäß sind Patienten, die an einer Hochdruckkrankheit leiden, durch regelmäßige Berufstätigkeit, insbesondere dann, wenn sie mit stärkerer körperlicher und psychischer Belastung verbunden ist, erhöht gefährdet, weil körperliche und psychische Belastungen geeignet sind, die - immer vorhandene - Progredienz eines Hochdruckleidens zu beschleunigen und als auslösende Faktoren für Folgeerkrankungen wirksam zu werden. Diese Tatsache ist bei der Bewertung der Erwerbsminderung in solchen Fällen jeweils in Rücksicht zu stellen. In den beiden Vorgutachten von 1951 und 1953 dürfte dies zweifellos auch geschehen sein. Somit kann unterstellt werden, daß bei der Festsetzung der Erwerbsminderung im Jahre 1951 und 1953, die nach allgemeinen ärztlichen Gesichtspunkten berechtigterweise angenommene Nichtzumutbarkeit weiterer Berufstätigkeit bei dem Begutachteten eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat. Die Gutachter dürften demnach 1951 und 1953 zur Annahme der Invalidität mit einer Erwerbsminderung von 55 % gekommen sein, weil sie einer erhöhten Gefährdung des Begutachteten durch weitere Berufstätigkeit vorbeugen wollten. Wie oben bereits ausgeführt, hat die weitere Verlaufsbeobachtung des Hochdruckleidens jedoch sehr wahrscheinlich gemacht, daß die Berufstätigkeit im individuellen Gutachtenfall sich nicht nachteilig auf den Verlauf des bestehenden Leidens ausgewirkt hat. Somit kann jetzt retrospektiv der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit weiterer Berufstätigkeit für den zu beurteilenden Stichtag entfallen. Zusammenfassend ergibt sich somit: Nach den jetzt erhobenen Befunden und den Aktenunterlagen ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß bei dem Begutachteten am 26. April 1951 eine essentielle Hypertonie bestanden hat. Es kann jedoch nicht mit gutachtlich ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß die Erwerbsbeschränkung an diesem Tage bereits die Invaliditätsgrenze überschritten hatte."

Das Landessozialgericht ist diesem Gutachten gefolgt und hat durch Urteil vom 26. Oktober 1955 entschieden: "Unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Sozialgerichts in Düsseldorf vom 14. Oktober 1954 sowie unter Aufhebung der Entscheidung des Versicherungsamts Solingen vom 20. Juni 1952 und unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 29. September 1951 wird diese verurteilt, die freiwillige Weiterversicherung des Klägers ab 1. Januar 1949 zu gestatten." Es ist der Ansicht, daß zur Zeit der Antragstellung keine Invalidität vorgelegen habe. Es stehe zwar fest, daß der Kläger wie auch schon im Jahre 1951 an einer essentiellen Hypertonie litte, bei deren Vorliegen in der Regel Invalidität angenommen werde. Diese allgemeine Annahme beruhe aber weniger darauf, daß der Erkrankte wegen seines Gesundheitszustandes physisch überhaupt nicht mehr in der Lage wäre, noch solche Arbeiten zu verrichten, mit denen er die gesetzliche Lohnhälfte verdienen könne, als auf der Befürchtung, daß eine solche Arbeitsleistung auf Kosten der Gesundheit des Erkrankten gehe. Diese Annahme müsse aber als widerlegt angesehen und das Vorliegen von Invalidität verneint werden, wenn sich im einzelnen Falle ergäbe, daß die zunächst angenommene Gefahr der Verschlimmerung unbegründet gewesen sei. Die jetzt bestehende Invalidität sei vom Gutachter ausdrücklich unter Berücksichtigung des jetzigen Alters des Klägers festgestellt worden. Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen.

Gegen das ihr am 7. Februar 1956 zugestellte Urteil hat die Beklagte durch Schriftsatz vom 3. März 1956 am 5. März 1956 Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 4. April 1956 am 5. April 1956 begründet. Sie rügt die Verletzung der §§ 1254, 1443 RVO a. F. Das Versicherungsprinzip verlange, daß in einem gegebenen Augenblick für die Zukunft klar entschieden werden müsse, ob Versicherungsfähigkeit bestehe oder nicht. Eine spätere erneute Beurteilung für die inzwischen vergangene Zeit könne an dieser Entscheidung nichts mehr ändern. Das Prinzip der Risikenverteilung verlange eine Beurteilung von einem bestimmten Zeitpunkt aus für die Zukunft. Die andere - retrospektive - Beurteilung von einem späteren Zeitpunkt aus für die Vergangenheit würde zu einer unzulässigen Risikenverschiebung führen. Im vorliegenden Fall sei im Jahre 1951 nach medizinischer Erfahrung und nach medizinisch-wissenschaftlicher Beurteilung zutreffend festgestellt worden, daß Invalidität bestehe. Dieses Urteil sei im damaligen Zeitpunkt unbestritten richtig gewesen. Es könne zu einem späteren Zeitpunkt unter Berücksichtigung der inzwischen eingetretenen Entwicklung nicht geändert werden. Dem Kläger sei wegen der bei einem solchen Hochdruckleiden bestehenden besonderen Gefahren eine regelmäßige Arbeit nicht zuzumuten gewesen. Weiter rügt sie, daß das Landessozialgericht das Vorbringen des Klägers, er habe regelmäßig täglich 15 Stunden in seinem Geschäft gearbeitet, ohne weiteres als zutreffend unterstellt habe. Eine solche Leistung übersteige aber jedes menschliche Maß. Ein über 60 Jahre alter Mann mit einem solchen Bluthochdruck sei jedenfalls nicht in der Lage, über Jahre hinaus täglich 15 Stunden zu arbeiten. Das Landessozialgericht hätte unter diesen Umständen die Behauptung des Revisionsbeklagten einer näheren Prüfung unterziehen müssen.

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 14. Oktober 1954 wiederherzustellen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten kostenpflichtig zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der zulässigen Revision konnte der Erfolg nicht versagt bleiben.

Die zur Zeit des Inkrafttretens des Sozialgerichtsgesetzes bei dem Oberversicherungsamt rechtshängige Beitragsstreitsache ist nach § 215 Abs. 2 und 4 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 55 SGG als zusammengefaßte Anfechtungs- und Feststellungsklage auf das Sozialgericht übergegangen. Bedenken gegen die Zulässigkeit der Klage bestehen nicht. Der Kläger hat ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung seiner Beitragsberechtigung; eines Vorverfahrens bedarf es nach § 215 Abs. 4 Satz 2 SGG nicht. Ebenfalls bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung. Da sie nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes eingelegt worden ist, richtet sich ihre Zulässigkeit nach dem Sozialgerichtsgesetz. Sie ist, weil ein Ausschließungsgrund nach §§ 144 ff. SGG nicht vorliegt, gemäß § 143 SGG statthaft (vgl. dazu Urteile des erkennenden Senats v. 27.10.1955, SozR., SGG § 215 Da 3 Nr. 13).

Der Kläger begehrt die Feststellung, daß er berechtigt ist, seine Versicherung für die Zeit ab 1. Januar 1949 freiwillig fortzusetzen. Für die Zeit bis zum Ablauf des Jahres 1956 beurteilt sich dieser Anspruch nach der bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Fassung der Reichsversicherungsordnung und für die folgende Zeit nach der durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz - ArVNG -) vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 45) geänderten Fassung der Reichsversicherungsordnung.

Hinsichtlich der Zeit bis zum Ablauf des Jahres 1956 stützt sich der Anspruch des Klägers auf § 1244 RVO a. F. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt, weil der Kläger nach den Feststellungen des Landessozialgerichts aus einer von ihm ausgeübten versicherungspflichtigen Beschäftigung - durch Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit - ausgeschieden ist und mindestens 26 Wochenbeiträge auf Grund der früheren Versicherungspflicht entrichtet worden sind.

Nach § 1443 RVO a. F. dürfen freiwillige Beiträge allerdings nach Eintritt der Invalidität nicht mehr entrichtet werden. Gemäß den Feststellungen des Landessozialgerichts ist der Kläger vor dem Jahre 1955 noch nicht invalide gewesen, ist vielmehr erst im Jahre 1955 invalide geworden. An diese Feststellung ist das Revisionsgericht nach § 163 SGG zwar grundsätzlich gebunden, die Beklagte hat jedoch zulässige und begründete Revisionsgründe in bezug auf diese Feststellung vorgebracht. Wie die Beklagte zu Recht rügt, hat das Landessozialgericht die Grenzen des ihm nach § 128 SGG zustehenden Rechts auf freie Beweiswürdigung dadurch überschritten, daß es den Behauptungen des Klägers, er habe während der verflossenen Jahre täglich bis zu 15 Stunden in seinem Geschäft gearbeitet, ohne Nachprüfung Glauben geschenkt hat, obwohl diese Angaben zu Bedenken Anlaß geben mußten; denn sie stehen mit den allgemeinen Erfahrungen des täglichen Lebens nicht im Einklang. Es ist nur schwer vorstellbar, daß ein Versicherter im Alter des Klägers, der zudem noch an einer essentiellen Hypertonie leidet, regelmäßig eine derartige Arbeitsleistung erbringt. Das Landessozialgericht hätte daher seine Feststellungen nicht allein auf diese Behauptungen des Klägers stützen dürfen, sondern hätte Ermittlungen über den Umfang und die Art der von dem Kläger tatsächlich ausgeübten Tätigkeit anstellen müssen. Insoweit war die Revision somit begründet.

Soweit das Urteil über den 31. Dezember 1956 hinaus wirkt, war die Revision begründet, weil die getroffenen Feststellungen nicht ausreichten, die Berechtigung zur freiwilligen Fortsetzung der Versicherung nach den durch das ArVNG geänderten Vorschriften der Reichsversicherungsordnung anzuerkennen. Es fehlt an der nach § 1233 RVO a. F. erforderlichen Feststellung, daß der Kläger innerhalb von zehn Jahren während mindestens 60 Kalendermonaten Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet hat. Insoweit wird das Landessozialgericht noch Ermittlungen anzustellen haben. Die Voraussetzungen des Art. 2 § 4 Abs. 1 und 2 ArVNG sind allerdings schon nach der bisherigen, insoweit nicht angegriffenen Feststellung, daß der Kläger seit dem Jahre 1955 invalide ist, nicht erfüllt, weil damit feststeht, daß dem Kläger in der dem 1. Januar 1957 vorgehenden Zeit ein Recht zur Weiterversicherung nicht zustand.

Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Das Landessozialgericht wird noch die erforderlichen Ermittlungen anzustellen haben. Sollten sich die Behauptungen des Klägers bestätigen, so bestehen entgegen der Ansicht der Beklagten allerdings keine Bedenken, wenn das Berufungsgericht dem Umstand, daß der Kläger - entgegen der Befürchtung der früheren Gutachter - durch die Ausübung einer solchen Tätigkeit keine weiteren ernsthaften Gesundheitsschäden davongetragen hat, einen ausschlaggebenden Beweiswert zumißt. Bei der Feststellung, ob die Voraussetzungen der Invalidität vorliegen, sind nicht allein die medizinischen Sachverständigengutachten maßgebend - wenn ihnen auch in aller Regel eine hervorragende Bedeutung zukommt -, sondern das Tatsachengericht kann auch aus der Art und dem Umfang der von dem Kläger verrichteten Tätigkeit Schlüsse auf die bei ihm vorhandene Erwerbsfähigkeit ziehen. Es ist gegebenenfalls auch berechtigt, diesen Umständen eine ausschlaggebendere Bedeutung als den entgegenstehenden ärztlichen Sachverständigengutachten beizumessen, wenn sie den individuellen Besonderheiten des Einzelfalles in höherem Umfang gerecht werden. Das Tatsachengericht wird hierbei allerdings auch stets zu prüfen haben, ob der Versicherte diese Tätigkeit nicht etwa auf Kosten seiner Gesundheit verrichtet. Der Beklagten ist zwar zuzugeben, daß grundsätzlich nur der Tätigkeit in einer abhängigen Stellung ein solcher Beweiswert zukommt; es können jedoch im Einzelfall aus der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit Rückschlüsse auf die Leistungsfähigkeit eines Versicherten zur Verrichtung abhängiger Tätigkeit gezogen werden. Das Tatsachengericht wird aber in einem solchen Falle die Unterschiede zwischen einer abhängigen Lohntätigkeit und einer selbständigen Tätigkeit nicht unberücksichtigt lassen dürfen. Die Beklagte verkennt, daß die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit bei der Feststellung zeitlich zurückliegender Tatsachen auch solche Beweise verwerten müssen, die erst zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung greifbar sind, und zwar auch dann, wenn sich die Umstände, aus deren Vorliegen das Gericht Rückschlüsse auf die festzustellende Tatsache zieht, erst nach dem Zeitpunkt, zu welchem die zu beweisende Tatsache vorgelegen haben soll, ereignet haben. Ob in Ausnahmefällen, z. B. bei der Entscheidung, ob eine vorliegende Invalidität vorübergehender oder dauernder Natur ist, etwas Abweichendes zu gelten hat, weil es in diesem Fall ausnahmsweise darauf ankommt, ob sich der Gesundheitszustand "voraussichtlich" in absehbarer Zeit bessern wird (vgl. dazu AN. 1893 S. 123 ff.), bedarf keiner Entscheidung, da hier ein solcher Ausnahmefall nicht vorliegt.

Der Einwand der Beklagten, das Versicherungsrisiko werde durch eine solche Rechtsanwendung ausgeschaltet, ist nicht durchschlagend. Wenn rechtskräftig entschieden würde, daß der Kläger auch jetzt noch nicht invalide wäre, würde bei der Entrichtung der für die Vergangenheit bestimmten freiwilligen Beiträge auch für ihn noch das Versicherungsrisiko bestehen. Nur dadurch, daß er nach den bisherigen Feststellungen des Landessozialgerichts im Jahre 1955, während das Beitragsstreitverfahren noch schwebte, invalide geworden ist, kann er diese Beiträge noch nach Eintritt des Versicherungsfalles, somit also ohne eigenes Versicherungsrisiko, entrichten. Diese Folge beruht aber nicht auf der Anwendung dieser Beweisgrundsätze, sondern auf der Regelung des § 1444 Abs. 2 RVO a. F., nach welcher auch bei Anwendung des § 1443 RVO a. F. die Zeit eines schwebenden Beitragsstreitverfahrens unberücksichtigt zu bleiben hat.

Wenn das Landessozialgericht wiederum zu der Feststellung kommt, daß der Kläger im Jahre 1955 invalide geworden ist, wird es für den noch nach altem Recht zu beurteilenden Zeitraum eine entsprechende Begrenzung des Rechts, die Versicherung freiwillig fortzusetzen, vorzunehmen haben.

Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2149253

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